Tuesday, July 7, 2015

Stalin über die nationale Frage oder etwelche Autonomie für die Juden


J.W. Stalin


Marxismus und nationale Frage

V
Der „Bund“, sein Nationalismus, sein Separatismus

Oben sprachen wir davon, daß sich Bauer, der die nationale Autonomie für die Tschechen, die Polen usw. für notwendig hält, nichtsdestoweniger gegen eine solche Autonomie für die Juden ausspricht. Auf die Frage, ob die Arbeiterklasse die Autonomie für das jüdische Volk fordern soll, antwortet Bauer: „Die nationale Autonomie kann nicht die Forderung der jüdischen Arbeiter sein.“ [1*] Der Grund liegt nach Bauer darin, daß „... die kapitalistische Gesellschaft sie (die Juden. J.St.) überhaupt nicht als Nation bestehen läßt“. [2*]
Kurzum: Die jüdische Nation hört auf zu existieren – für wen sollte man also die nationale Autonomie fordern? Die Juden werden assimiliert.
Diese Auffassung vom Schicksal der Juden als Nation ist nicht neu. Marx hat sie bereits in den vierziger Jahren geäußert [3*] [12], wobei er hauptsächlich die deutschen Juden im Auge hatte. Kautsky hat sie 1908 in bezug auf die russischen Juden wiederholt. [4*] Jetzt wiederholt Bauer sie in bezug auf die österreichischen Juden, jedoch mit dem Unterschied, daß er nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft der jüdischen Nation in Abrede stellt.
Die Unmöglichkeit, die Juden als Nation zu erhalten, erklärt Bauer damit, daß „die Juden kein geschlossenes Siedlungsgebiet haben“. [5*] Diese Erklärung ist zwar im Grunde richtig, bringt aber nicht die ganze Wahrheit zum Ausdruck. Die Sache ist vor allem die, daß die Juden keine mit der Scholle verbundene breite stabile Schicht haben, die auf natürliche Weise die Nation nicht nur als ihr Gerippe, sondern auch als „nationalen“ Markt zusammenhält. Von den 5 bis 6 Millionen russischen Juden sind nur 3 bis 4 Prozent auf irgendeine Weise mit der Landwirtschaft verbunden. Die übrigen 96 Prozent sind im Handel, in der Industrie, in den städtischen Institutionen beschäftigt und leben überhaupt in den Städten, bilden aber, über ganz Rußland verstreut, in keinem Gouvernement die Mehrheit.
Als nationale Minderheiten in fremdnationale Gebiete eingesprenkelt, bedienen die Juden somit vornehmlich „fremde“ Nationen, sei es als Industrielle und Händler, sei es als Angehörige freier Berufe, wobei sie sich naturgemäß den „fremden Nationen“ in der Sprache usw. anpassen. Alles dies führt infolge der zunehmenden Durcheinanderwürfelung der Nationalitäten, die den entwickelten Formen des Kapitalismus eigen ist, zur Assimilation der Juden. Die Aufhebung der „Ansiedlungszone“ könnte die Assimilation nur beschleunigen.
Angesichts dieser Sachlage nimmt die Frage der nationalen Autonomie für die russischen Juden einen etwas kuriosen Charakter an: Man schlägt die Autonomie für eine Nation vor, deren Zukunft in Abrede gestellt wird, deren Existenz erst zu beweisen ist!
Dessenungeachtet hat der „Bund“ diesen kuriosen und schwankenden Standpunkt bezogen, als er auf seinem VI. Kongreß [13] (1905) ein „nationales Programm“ im Geiste der nationalen Autonomie beschloß.
Zwei Umstände haben den „Bund“ zu diesem Schritt gedrängt.
Der erste Umstand ist die Existenz des „Bund“ als Organisation der jüdischen und nur der jüdischen sozialdemokratischen Arbeiter. Schon vor 1897 steckten sich die sozialdemokratischen Gruppen, die unter den jüdischen Arbeitern wirkten, das Ziel, eine „speziell jüdische Arbeiterorganisation“ zu schaffen. [6*] Diese Organisation schufen sie denn auch 1897 dadurch, daß sie sich zum „Bund“ zusammenschlossen. Das geschah also zu einer Zeit, als die Sozialdemokratie Rußlands als Ganzes faktisch noch nicht existierte. Seitdem wuchs und breitete sich der „Bund“ unaufhörlich aus und hob sich immer mehr vom grauen Alltag der Sozialdemokratie Rußlands ab ... Nun aber kommt das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Es setzt eine Massenbewegung der Arbeiter ein. Die polnische Sozialdemokratie wächst und zieht die jüdischen Arbeiter in den Massenkampf hinein. Die Sozialdemokratie Rußlands wächst und zieht die „bundistischen“ Arbeiter an. Der nationale Rahmen des „Bund“, dem die territoriale Basis fehlt, wird zu eng. Der „Bund“ steht vor der Frage: entweder in der allgemeinen internationalen Woge aufzugehen oder seine selbständige Existenz als exterritoriale Organisation zu behaupten. Der „Bund“ entscheidet sich für das letztere.
So entsteht die „Theorie“ des „Bund“, er sei der „alleinige Vertreter des jüdischen Proletariats“.
Es wird jedoch unmöglich, diese sonderbare „Theorie“ auf irgendeine „einfache“ Art zu rechtfertigen. Man braucht irgendeine „prinzipielle“ Unterlage, eine „prinzipielle“ Rechtfertigung. Eine solche Unterlage bot sich eben in Gestalt der national-kulturellen Autonomie. Der „Bund“ griff denn auch nach ihr, indem er sie bei der österreichischen Sozialdemokratie entlehnte. Hätten die Österreicher kein solches Programm gehabt, so hätte es der „Bund“ erfunden, um seine selbständige Existenz „prinzipiell“ zu rechtfertigen.
So nimmt der „Bund“, nach einem zaghaften Versuch im Jahre 1901 (IV. Kongreß), im Jahre 1905 (VI. Kongreß) endgültig das „nationale Programm“ an.
Der zweite Umstand ist die Sonderstellung der Juden als einzelner nationaler Minderheiten innerhalb kompakter fremdnationaler Mehrheiten in geschlossenen Siedlungsgebieten. Wir haben bereits davon gesprochen, daß diese Stellung die Existenz der Juden als Nation untergräbt und sie auf den Weg der Assimilation drängt. Das aber ist ein objektiver Prozeß. Subjektiv, in den Köpfen der Juden, ruft er eine Reaktion hervor und wirft die Frage einer Garantie der Rechte der nationalen Minderheit, einer Garantie gegen die Assimilation auf. Da der „Bund“ die Lebensfähigkeit der jüdischen „Nationalität“ predigt, konnte er nicht umhin, sich auf den Standpunkt der „Garantie“ zu stellen. Hier nun einmal angelangt, mußte er die nationale Autonomie akzeptieren. Konnte sich nämlich der „Bund“ an irgendeine Autonomie klammern, so nur an die nationale, d.h. an die national-kulturelle Autonomie: von einer politisch-territorialen Autonomie der Juden konnte gar keine Rede sein, da die Juden kein bestimmtes geschlossenes Siedlungsgebiet haben.
Bezeichnend ist, daß der „Bund“ von Anfang an den Charakter der nationalen Autonomie als Garantie der Rechte der nationalen Minderheiten, als Garantie der „freien Entwicklung“ der Nationen betonte. Kein Zufall auch, daß Goldblatt, Vertreter des „Bund“ auf dem II. Parteitag der Sozialdemokratie Rußlands, die nationale Autonomie formulierte als „Institution, die ihnen (den Nationen. J.St.) die völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung garantiert“. [7*] Den gleichen Antrag brachten die Gesinnungsgenossen des „Bund“ in der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma ein ...
So bezog der „Bund“ die kuriose Position der nationalen Autonomie der Juden.
Oben haben wir die nationale Autonomie im allgemeinen untersucht. Die Untersuchung ergab, daß nationale Autonomie zum Nationalismus führt. Weiter unten werden wir sehen, daß der „Bund“ auch da gelandet ist. Der „Bund“ betrachtet aber die nationale Autonomie noch von einer speziellen Seite, von der Seite der Garantiender Rechte der nationalen Minderheiten. Untersuchen wir das Problem auch von dieser speziellen Seite. Das ist um so notwendiger, als die Frage der nationalen Minderheiten – und nicht nur der jüdischen – für die Sozialdemokratie von ernster Bedeutung ist.
Also „Institutionen, die“ den Nationen „die völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung garantieren“ (Hervorhebungen von uns. J.St.).
Was sind das aber für „Institutionen, die garantieren“ usw.?
Da gibt es vor allem den „Nationalrat“ Springers und Bauers, eine Art Landtag für Kulturangelegenheiten.
Können aber diese Institutionen „die völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung“ der Nation garantieren? Können irgendwelche Landtage für Kulturangelegenheiten den Nationen eine Garantie gegen nationalistische Repressalien geben?
Der „Bund“ meint ja.
Die Geschichte besagt jedoch das Gegenteil.
In Russisch-Polen bestand ein Zeitlang ein Sejm, ein politischer Landtag, und der war natürlich bemüht, den Polen die Freiheit der „kulturellen Entwicklung“ zu garantieren, aber er hatte dabei keinen Erfolg, ja im Gegenteil – er kam in dem ungleichen Kampf gegen die gesamten politischen Verhältnisse Rußlands selbst zu Fall.
In Finnland besteht seit langem ein Landtag, der gleichfalls bemüht ist, die finnische Nationalität vor „Anschlägen“ zu schützen, ob er aber in dieser Richtung viel ausrichtet – das sieht ja alle Welt.
Es gibt natürlich Landtage und Landtage, und mit dem demokratisch organisierten finnischen Landtag ist nicht so leicht fertig zu werden wie mit dem aristokratischen polnischen. Aber entscheidend ist dennoch nicht der Landtag selbst, sondern sind die allgemeinen Zustände in Rußland. Herrschten in Rußland heute dieselben rohen asiatischen gesellschaftlich-politischen Zustände, wie sie in der Vergangenheit, zur Zeit der Auflösung des polnischen Sejms, geherrscht haben, so würde es dem finnischen Landtag bei weitem schlimmer ergehen. Außerdem ist die Politik der „Anschläge“ auf Finnland im Wachsen begriffen, und es läßt sich nicht behaupten, daß sie Niederlagen erlitte ...
Verhält es sich so mit den alten, historisch entstandenen Institutionen, mit den politischen Lahdtagen, so vermögen junge Landtage, junge Institutionen, noch dazu so schwache wie die „kulturellen“ Landtage, die freie Entwicklung der Nationen um so weniger zu garantieren.
Offenbar kommt es nicht auf die Institutionen“, sondern auf die allgemeinen Zustände im Lande an. Ist das Land nicht demokratisiert, so fehlen auch die Garantien für völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung der Nationalitäten. Man kann mit Bestimmtheit sagen: je demokratischer ein Land, desto weniger „Anschläge“ auf die „Freiheit der Nationalitäten“, desto mehr Garantien gegen „Anschläge“.
Rußland ist ein halbasiatisches Land, und darum nimmt dort die Politik der „Anschläge“ nicht selten die allerrohesten Formen, die Formen des Pogroms, an. Es erübrigt sich zu sagen, daß die „Garantien“ in Rußland auf ein äußerstes Mindestmaß reduziert sind.
Deutschland – das ist schon Europa mit mehr oder weniger politischer Freiheit. Kein Wunder, daß dort die Politik der „Anschläge“ niemals Pogromformen annimmt.
In Frankreich bestehen natürlich noch mehr „Garantien“, da Frankreich demokratischer als Deutschland ist.
Wir wollen schon gar nicht von der Schweiz sprechen, wo die Nationalitäten dank ihrer hochentwickelten, wenn auch bürgerlichen Demokratie ein freies Leben führen – einerlei ob sie Minderheiten oder Mehrheiten darstellen.
Der „Bund“ ist also auf dem Holzwege, wenn er behauptet, daß „Institutionen“ an und für sich die volle kulturelle Entwicklung der Nationalitäten garantieren können.
Man könnte einwenden, der „Bund“ selbst betrachte die Demokratisierung Rußlands als Vorbedingung für die „Schaffung von Institutionen“ und Freiheitsgarantien. Das stimmt aber nicht. Aus dem Bericht über die VIII. Konferenz des „Bund“ [14] geht hervor, daß der „Bund“ die „Schaffung von Institutionen“ auf der Basis der heutigen Zustände in Rußland durch „Reformierung“ der jüdischen Gemeinde zu erreichen gedenkt.
„Die Gemeinde“, führte auf dieser Konferenz einer der Führer des „Bund“ aus, „kann zum Kern der zukünftigen national-kulturellen Autonomie werden. Die national-kulturelle Autonomie ist eine Form der Selbstbedienung der Nation eine Form der Befriedigung der nationalen Bedürfnisse. Unter der Form der Gemeinde steckt derselbe Inhalt. Es sind Glieder einer und derselben Kette Etappen einer und derselben Evolution. [8*]
Hiervon ausgehend beschloß die Konferenz, dafür zu kämpfen, „daß die jüdische Gemeinde reformiert und im Wege der Gesetzgebung in eine weltliche Institution umgewandelt wird“, die demokratisch organisiert ist [9*] (Hervorhebungen von uns. J.St.).
Es ist klar, daß der „Bund“ als Vorbedingung und Garantie nicht die Demokratisierung Rußlands, sondern die künftige „weltliche Institution“ der Juden betrachtet, die durch „Reformierung der jüdischen Gemeinde“, sozusagen auf „gesetzgeberischem“ Wege, durch die Duma, zu erlangen wäre.
Wir haben aber bereits gesehen, daß „Institutionen“ an und für sich, ohne daß im ganzen Staat demokratische Zustände bestehen, nicht als „Garantien“ dienen können.
Wie aber soll es nun dennoch in der künftigen demokratischen Ordnung werden? Wird man nicht auch unter dem Demokratismus besondere „kulturelle Institutionen“ brauchen, die „garantieren“ usw.? Wie verhält es sich damit beispielsweise in der demokratischen Schweiz? Gibt es dort spezielle kulturelle Institutionen von der Art des Springerschen „Nationalrats“? Es gibt sie dort nicht. Aber leiden darunter nicht die kulturellen Interessen, beispielsweise der Italiener, die dort eine Minderheit bilden? Man hört nichts davon. Das ist auch ganz verständlich:
Die Demokratie macht in der Schweiz jedwede speziell kulturellen „Institutionen“, die angeblich etwas „garantieren“ usw., überflüssig.
Ohnmächtig in der Gegenwart, überflüssig in der Zukunft – so sehen also die Institutionen der national-kulturellen Autonomie, so sieht die nationale Autonomie aus.
Sie wird aber noch schädlicher, wenn man sie einer „Nation“ aufzuzwingen versucht, deren Existenz und Zukunft in Zweifel steht. in solchen Fällen sehen sich die Anhänger der nationalen Autonomie gezwungen, alle Eigenarten der „Nation“ zu hüten und zu konservieren, nicht nur die nützlichen, sondern auch die schädlichen – nur um die „Nation“ vor der Assimilation „zu retten“, nur um sie „zu bewahren“.
Diesen gefährlichen Weg mußte der „Bund“ unausweichlich betreten. Und er hat ihn tatsächlich betreten. Wir meinen hier die bekannten Beschlüsse der letzten Konferenzen des „Bund“ über den „Sabbat“, das „Jiddische“ usw.
Die Sozialdemokratie setzt sich für das Recht aller Nationen auf die Muttersprache ein, der „Bund“ begnügt sich aber damit nicht – er verlangt, daß man „mit besonderem Nachdruck“ für die „Rechte der jüdischen Sprache“ [10*] eintreten soll (Hervorhebung von uns. J.St.), wobei der „Bund“ selber bei den Wahlen zur IV. Duma „demjenigen von ihnen (d.h. von den Wahlmännern) den Vorzug gibt, der sich verpflichtet, für die Rechte der jüdischen Sprache einzutreten“. [11*]
Kein allgemeines Recht auf die Muttersprache, sondern ein besonderes Recht auf die jüdische Sprache, das Jiddische! Mögen die Arbeiter der einzelnen Nationalitäten vor allem für ihre eigene Sprache kämpfen, die Juden für die jüdische, die Georgier für die georgische usw. Der Kampf für das allgemeine Recht aller Nationen ist Nebensache. Ihr braucht nicht unbedingt das Recht aller unterdrückten Nationalitäten auf ihre Muttersprache anzuerkennen; habt ihr aber das Recht auf das Jiddische anerkannt, dann wisset: Der „Bund“ wird für euch stimmen, der „Bund“ wird euch „den Vorzug geben“.
Worin unterscheidet sich dann aber der „Bund“ von den bürgerlichen Nationalisten?
Die Sozialdemokratie erstrebt die Festsetzung eines gesetzlichen Ruhetages in der Woche, der „Bund“ aber begnügt sich damit nicht, sondern fordert, daß „dem jüdischen Proletariat auf gesetzgeberischem Wege das Recht eingeräumt werde, den Sabbat zu feiern, unter Aufhebung des Zwanges, noch einen anderen Tag zu feiern“. [12*]
Es ist anzunehmen, daß der „Bund“ „einen Schritt weiter“ gehen und das Recht fordern wird, alle altjüdischen Feiertage zu feiern. Haben aber, zum Leidwesen des „Bund“, die jüdischen Arbeiter die Vorurteile abgestreift und wollen sie diese Feiertage nicht feiern, so wird ihnen der „Bund“ durch seine Agitation für das „Recht auf den Sabbat“ den Sabbat in Erinnerung bringen, wird in ihnen sozusagen den „Geist des Sabbats“ kultivieren.
Durchaus verständlich sind deshalb die „flammenden Reden“ der Redner auf der VIII. Konferenz des „Bund“, die die Schaffung von „jüdischen Krankenhäusern“ forderten, und zwar mit der Begründung, daß „sich der Kranke unter den Seinigen besser fühlt“, daß „sich der jüdische Arbeiter unter polnischen Arbeitern nicht wohl fühlen wird“, daß „er sich unter jüdischen Krämern wohl fühlen wird“.[13*]
Alles Jüdische erhalten, alle nationalen Eigenarten der Juden konservieren, einschließlich der offenkundig für- das Proletariat schädlichen, die Juden von allem Nichtjüdischen abgrenzen, sogar besondere Krankenhäuser für sie einrichten – so tief ist also der „Bund“ gesunken!
Genosse Plechanow hatte tausendmal recht, als er sagte, daß der „Bund“ „den Sozialismus dem Nationalismus anpaßt“. Gewiß, Wl. Kossowski und Leute seines Schlages aus dem „Bund“ mögen Plechanow einen „Demagogen“ schelten [14*] [15] – Papier ist geduldig –, wer aber mit der Tätigkeit des „Bund“ vertraut ist, dem fällt es nicht schwer zu begreifen, daß sich diese tapferen Leute einfach fürchten, die Wahrheit über sich zu sagen, und sich hinter Kraftausdrücken wie „Demagogie“ verstecken ...
Da nun der „Bund“ in der nationalen Frage auf diesem Standpunkt verharrt, mußte er naturgemäß auch in der Organisationsfrage den Weg der Absonderung der jüdischen Arbeiter, den Weg der nationalen Kurien in der Sozialdemokratie betreten. Das ist nun einmal die Logik der nationalen Autonomie!
Und in der Tat, von der Theorie der „alleinigen Vertretung“ geht der „Bund“ zur Theorie der „nationalen Abgrenzung“ der Arbeiter über. Der Bund“ fordert von der Sozialdemokratie Rußlands, daß sie „in ihrem Organisationsaufbau eine Abgrenzung nach Nationalitäten vornehme“. [15*] Von der Abgrenzung aber geht er „einen Schritt weiter“ zur Theorie der „Absonderung“. Nicht umsonst wurden auf der VIII. Konferenz des „Bund“ Stimmen laut, wonach „in der Absonderung die nationale Existenz“ [16*] beschlossen liege.
Der organisatorische Föderalismus birgt Elemente der Zersetzung und des Separatismus. Der „Bund“ befindet sich auf dem Wege zum Separatismus.
Es bleibt ihm auch eigentlich gar kein anderer Weg. Allein schon seine Existenz als exterritoriale Organisation treibt ihn auf die Bahn des Separatismus. Der „Bund“ hat kein bestimmtes geschlossenes Territorium, er betätigt sich auf „fremden“ Territorien, während die mit ihm in Fühlung stehenden sozialdemokratischen Parteien, die polnische, die lettische und die Sozialdemokratie Rußlands, internationale Territorialkollektive sind. Das aber führt dazu, daß jede Erweiterung dieser Kollektive eine „Einbuße“ für den „Bund“, eine Einengung seines Tätigkeitsfeldes bedeutet. Von zwei Dingen eins: Entweder muß sich die gesamte Sozialdemokratie Rußlands nach den Grundsätzen des nationalen Föderalismus umstellen – und dann erhält der „Bund“ die Möglichkeit, sich das jüdische Proletariat „zu sichern“, oder aber das internationale Territorialprinzip dieser Kollektive bleibt in Kraft – und dann stellt sich der „Bund“ nach den Grundsätzen der Internationalität um, wie dies bei der polnischen und der lettischen Sozialdemokratie der Fall ist.
Daraus erklärt sich denn auch, warum der „Bund“ seit allem Anfang die „Umgestaltung der Sozialdemokratie Rußlands nach föderativen Grundsätzen“ [17*] fordert.
Im Jahre 1906 wählte der „Bund“, dem von unten kommenden Vereinigungsdrang nachgebend, einen Mittelweg: er trat der Sozialdemokratie Rußlands bei. Aber wie tat er das? Während die polnische und die lettische Sozialdemokratie ihren Eintritt zwecks friedlicher gemeinsamer Arbeit vollzogen, vollzog ihn der „Bund“, um für die Föderation Krieg zu führen. Der Bundistenführer Medem sagte denn auch damals:
„Wir kommen nicht eines Idylls wegen, sondern um zu kämpfen. Es gibt kein Idyll, und nur Manilows [18] können auf ein Idyll in der nächsten Zeit hoffen. Der Bund muß vom Scheitel bis zur Sohle gerüstet in die Partei eintreten.“ [18*]
Es wäre verfehlt, hierin etwa Medems bösen Willen erblicken zu wollen. Nicht um bösen Wilkn handelt es sich hier, sondern um die besondere Position des „Bund“, kraft deren er nicht umhin kann, gegen die üach den Grundsätzen der Internationalität aufgebaute Sozialdemokratie Rußlands zu kämpfen. Durch seinen Kampf gegen sie verletzte aber der Bund“ naturgemäß die Interessen der Einheit. Es kommt schließlich so weit, daß der „Bund“ formell mit der Sozialdemokratie Rußlands bricht, nachdem er die Parteisatzungen verletzt hat und bei den Wahlen zur IV. Duma mit den polnischen Nationalisten gegen die polnischen Sozialdemokraten zusammengegangen ist. [20]
Der „Bund“ hat offenbar gefunden, daß ihm der Bruch das selbständige Wirken am besten sichert.
So hat das „Prinzip“ der organisatorischen „Abgrenzung“ zum Separatismus, zum völligen Bruch geführt.
Gegen die alte Iskra [21] in der Frage des Föderalismus polemisierend, schrieb der „Bund“ einst:
„Die Iskra möchte uns versichern, die föderativen Beziehungen des Bund zur Sozialdemokratie Rußlands müßten das Band zwischen ihnen lockern. Wir können diese Ansicht nicht mit dem Hinweis auf die Praxis in Rußland widerlegen, aus dem einfachen Grunde, weil die Sozialdemokratie Rußlands nicht als föderativer Verband besteht. Wir können uns aber auf die außerordentlich lehrreiche Erfahrung der Sozialdemokratie in Österreieh berufen, die auf Grund des Parteitagsbeschlusses von 1897 einen Föderativcharakter angenommen hat.“ [19*]
Dies wurde 1902 geschrieben.
Jetzt schreiben wir aber das Jahr 1913. Jetzt haben wir sowohl die „Praxis“ Rußlands als auch die „Erfahrung der Sozialdemokratie Österreichs“ vor Augen.
Wovon aber sprechen diese?
Beginnen wir mit der „außerordentlich lehrreichen Erfahrung der Sozialdemokratie Österreichs“. Bis 1896 besteht in Österreich noch die einheitliche sozialdemokratische Partei. In diesem Jahr fordern die Tschechen auf dem Internationalen Kongreß in London zum ersten Male eine separate Vertretung und erhalten sie auch. Im Jahre 1897 wird die einheitliche Partei auf dem Wiener (Wimberger) Parteitag formell liquidiert und an ihrer Stelle ein föderativer Verband von sechs nationalen „sozialdemokratischen Gruppen“ gegründet. In der Folge verwandeln sich diese „Gruppen“ in selbständige Parteien. Diese Parteien lösen nach und nach die Bindungen untereinander. Nach den Parteien spaltet sich die Parlamentsfraktion, es bilden sich nationale „Klubs“. Es folgen die Gewerkschaften, die sich ebenfalls nach Nationalitäten zersplittern. Dann kommen sogar die Genossenschaften an die Reihe, zu deren zersplitterung die tschechischen Separatisten die Arbeiter auffordern. [20*]Wir wollen schon ganz davon schweigen, daß die separatistische Agitation das Solidaritätsgefühl der Arbeiter abschwächt und sie nicht selten auf den Weg des Streikbruchs treibt.
„Die außerordentlich lehrreiche Erfahrung der Sozialdemokratie Österreichs“ spricht also gegen den „Bund“, für die alte Iskra. Der Föderalismus in der österreichischen Partei hat zum Separatismus übelster Art, zur Zerstörung der Einheit der Arbeiterbewegung geführt.
Oben sahen wir, daß die „Praxis in Rußland“ dasselbe besagt. Die bundistischen Separatisten haben ebenso wie die tschechischen Separatisten mit der gemeinsamen sozialdemokratischen Partei, der Sozialdemokratie Rußlands, gebrochen. Was die Gewerkschaften, die bundistischen Gewerkschaften, anbelangt, so waren sie von Anfang an nach dem Nationalitätenprinzip aufgebaut, d.h. von den Arbeitern anderer Nationalitäten losgelöst.
Völlige Absonderung, völliger Bruch – das zeigt uns die „russische Praxis“ des Föderalismus.
Kein Wunder, daß ein derartiger Zustand der Dinge auf die Arbeiter in dem Sinne einwirkt, daß ihr Solidaritätsgefühl nachläßt und sie demoralisiert werden, wobei die Demoralisation auch in den „Bund“ eindringt. Wir meinen die immer häufiger werdenden Zusammenstöße zwischen jüdischen und polnischen Arbeitern auf Grund der Arbeitslosigkeit. Man höre, was für Reden darüber auf der IX. Konferenz des „Bund“ zu vernehmen waren:
„... Wir betrachten die polnischen Arbeiter, die uns verdrängen, als Pogromhelden, als Gelbe, wir unterstützen ihre Streiks nicht, wir sprengen sie. Ferner antworten wir auf Verdrängung mit Verdrängung: Als Antwort auf die Nichtzulassung von jüdischen Arbeitern in den Fabriken lassen wir keine polnischen Arbeiter an die Handwerksmaschinen heran ... Nehmen wir diese Sache nicht in unsere Hände, so werden die Arbeiter anderen Gefolgschaft leisten.“ [21*](Hervorhebung von uns. J.St.)
So spricht man auf der Konferenz des „Bund“ von der Solidarität.
Weiter kann man in der „Abgrenzung“ und „Absonderung“ schon nicht mehr gehen. Der „Bund“ hat sein Ziel erreicht: Er trennt die Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten und führt sie zur Rauferei, zum Streikbruch. Anders geht es nicht: „Nehmen wir diese Sache nicht in unsere Hände, so werden die Arbeiter anderen Gefolgschaft leisten“ ...
Desorganisation der Arbeiterbewegung, Demoralisation in den Reihen der Sozialdemokratie – dahin führt der Föderalismus des „Bund“.
So hat sich die Idee der national-kulturellen Autonomie, die von ihr geschaffene Atmosphäre, in Rußland als noch verderblicher erwiesen denn in Österreich.


Fußnoten

1*. O. Bauer, a.a.O., S.381, 396.
2*. Ebenda, S.389.
3*. K. Marx, Zur Judenfrage, 1906.
4*. K. Kautsky, Das Massaker von Kischinew und die Judenfrage, 1903 [Die Neue Zeit, XXI. Jahrgang, 1903, 2. Halbjahr, S.303ff.].
5*. O. Bauer, a.a.O., S.388.
6*. Formen der nationalen Bewegung usw. unter Redaktion von Kastelanski, S.772.
7*. Protokoll des II. Parteitages, S.176.
8*. Bericht über die VIII. Konferenz des „Bund“, 1911, S.62.
9*. Ebenda, S.83/84.
10*. Ebenda, S.85.
11*. Bericht über die IX. Konferenz des „Bund“, 1912, S.42.
12*. Bericht über die VIII. Konferenz des „Bund“, S.83.
13*. Ebenda, S.68.
14*. Nascha Sarja [16], 1912, Nr.9/10, S.120.
15*. Verlautbarung über den VII. Kongreß des „Bund“[17], S.7.
16*. Bericht über die VIII. Konferenz des „Bund“, S.72.
17*. Zur Frage der nationalen Autonomie und der Umgestaltung der Sozialdemokratie Rußlands nach föderativen Grundsätzen, Ausgabe des „Bund“, 1902.
18*. Nasche Slowo [19], Nr.3, Wilna 1906, S.24.
19*. Zur Frage der nationalen Autonomie usw., S.17.
20*. Siehe die in den Dokumenten des Separatismus zitierten Worte aus der Broschüre Vaneks [22], S.29.
21*. Bericht über die IX. Konferenz des „Bund“, S.19.


Anmerkungen

12. Gemeint ist der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlichte Aufsatz von Karl Marx Zur Judenfrage (siehe Marx/Engels, Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd.1, Erster Halbband [S.576ff.]).
13. Der VI. Kongreß des „Bund“ tagte im Oktober 1905 in Zürich.
14. Die VIII. Konferenz des „Bund“ tagte im September 1910 in Lwow.
15. G.W. Plechanow verurteilte in seinem in der Zeitung Sa Partiju (Für die Partei) am 2. (15.) Oktober 1912 veröffentlichten Artikel Noch eine Spalterkonferenz die „Augustkonferenz" der Liquidatoren und charakterisierte die Position der Bundisten und der kaukasischen Sozialdemokraten als eine Anpassung des Sozialismus an den Nationalismus. In einem Schreiben an die Redaktion der Liquidatorenzeitschrift Nascha Sarja trat Kossowski, ein Führer der Bundisten mit einer Kritik an Plechanow auf.
16. Nascha Sarja (Unsere Morgenröte) – legale Monatsschrift, Organ der Liquidatoren-Menschewiki, das von 1910 bis 1914 in Petersburg erschien.
17. Der VII. Kongreß des „Bund“ fand Ende August bis Anfang September 1906 in Lwow statt.
18. Manilow – Gestalt eines Gutsbesitzers aus den Toten Seelen von Gogol, ein Mensch, der sich süßlichen Träumereien hingibt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben
19. Nasche Slowo (Unser Wort) – legale bundistische Wochenschrift, erschien in Wilna 1906. Insgesamt erschienen 9 Nummern.
20. Jagiello, E.J. – Mitglied der Sozialistischen Partei Polens (PPS); er wurde von dem Block des „Bund" und der PPS mit den bürgerlichen Nationalisten gegen die polnischen Sozialdemokraten als Abgeordneter von Warschau in die IV. Reichsduma gewählt. Die sozialdemokratische Dumafraktion beschloß dank der Stimmenmehrheit der Liquidatoren-Menschewiki (der menschewistischen Sieben) gegen die sechs bolschewistischen Deputierten eine Resolution über die Aufnahme Jagiellos in die sozialdemokratische Fraktion.
21. Iskra (Der Funke) – erste gesamtrussische illegale marxistische Zeitung; gegründet 1900 von W.I. Lenin. Die erste Nummer der Leninschen Iskra erschien am 11. (24.) Dezember 1900 in Leipzig, die folgenden Nummern in München, von April 1902 an in London und vom Frühjahr 1903 an in Genf. In einer Reihe von Städten Rußlands (Petersburg, Moskau und anderen) wurden Gruppen und Komitees der SDAPR der Leninschen Iskrarichtung gegründet. In Transkaukasien verfocht die Ideen der Iskra die illegale Zeitung Brdsola (Der Kampf) – das Organ der georgischen revolutionären Sozialdemokratie.
22. Karl Vanek – tschechischer Sozialdemokrat, der auf offen chauvinistischer, separatistischer Position stand

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