Kommen Sie zur Wahrheit, Frau Merkel!
Sehr geehrte Frau Bundeskanzler,
in Ihrer Rede vor dem «Lowy Institut für Internationale Politik» im australischen Sydney sind Sie am 17. November erneut auf die Situation in der Ukraine eingegangen und haben dabei ein Urteil über Russland und die russische Politik gefällt.
Am nächsten Tag kommentierten deutsche Medien, Sie hätten eine «Brandrede» gehalten und dem russischen Präsidenten die «Leviten» gelesen. Sie seien «mit Ihrem Latein – und ihrer Geduld – am Ende» und hätten jetzt eine «deutliche Warnung» ausgesprochen. «Wirklich über den Weg getraut» hätten Sie «Putin noch nie».
Wir beide wissen sehr genau, dass dies alles Unsinn ist.
Für einen historisch und politisch gebildeten Menschen ist es beklemmend, mit ansehen zu müssen, wie sich die konzertierte Aktion aus Medienhetze und eiskalter Machtpolitik die Bahn zu brechen versucht und dabei alle Skrupel abgelegt hat. Ihre ganze Rede in Sydney war ein Konglomerat ideologischer Versatzstücke zur Kaschierung US-amerikanischer, EU-europäischer und auch deutscher Machtpolitik, die allerdings weder im deutschen, noch im europäischen Interesse liegt, auch nicht im Sinne deutscher oder europäischer Wirtschaftsinteressen ist.
In diesem Jahr 2014 ist der politische Missbrauch der Massenmorde und der Millionen von Opfern des Ersten Weltkriegs weit verbreitet. Sie haben sich nahtlos in diese Reihe gestellt, um so zur Attacke gegen Russland und die russische Politik auszuholen.
Ihre Lügen über den inneren Zustand und die Ziele der Europäischen Union spotten jeder Beschreibung, aber das soll heute nicht mein Thema sein.
Dann haben Sie gesagt, wir müssten derzeit erleben,
«dass es auch in Europa immer noch Kräfte gibt, die sich dem gegenseitigen Respekt und einer Konfliktlösung mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln verweigern, die auf das angebliche Recht des Stärkeren setzen und die Stärke des Rechts missachten. Genau das ist mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland zu Beginn dieses Jahres geschehen. Russland verletzt die territoriale Integrität und die staatliche Souveränität der Ukraine. Ein Nachbarstaat Russlands, die Ukraine, wird als Einflusssphäre angesehen. Das stellt nach den Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung insgesamt infrage. Das findet seine Fortsetzung in der russischen Einflussnahme zur Destabilisierung der Ostukraine in Donezk und Lugansk.»
Weiter sagten Sie:
«Ich frage: Wer hätte es für möglich gehalten, dass 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas und dem Ende der Teilung der Welt in zwei Blöcke so etwas mitten in Europa geschehen könnte? Altes Denken in Einflusssphären, womit internationales Recht mit Füßen getreten wird, darf sich nicht durchsetzen. Ich bin überzeugt: Es wird sich auch nicht durchsetzen, mag der Weg auch noch so lang, noch so beschwerlich sein und noch so viele Rückschläge mit sich bringen.»
Nun muss ich allerdings sagen, dass nicht nur Ihre Charakterisierung der russischen Politik einer Überprüfung nicht standhält, sondern dass Sie auch der russischen Politik etwas unterstellen, das die Politik anderer Mächte der vergangenen 25 Jahre viel besser charakterisiert, nämlich die Politik der USA, der Nato, der EU und leider auch Deutschlands.
Ich muss Sie daran erinnern, dass es die USA, die Nato, die EU und Deutschland waren, die seit 1990/1991 den «gegenseitigen Respekt» gegenüber anderen Staaten nicht mehr gewahrt haben. Diese Mächte haben sich einer «Konfliktlösung mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln» verweigert, haben auf «das angebliche Recht des Stärkeren» gesetzt und die «Stärke des Rechts» missachtet. Sie haben die «territoriale Integrität» zahlreicher Staaten missachtet und verletzt und wollten die ganze Welt als ihre «Einflusssphäre» sehen. Ich kann Ihre Formulierung wörtlich übernehmen: «Das stellt nach den Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung insgesamt infrage.» Ja, es ist vollkommen richtig, wenn Sie sagen: «Altes Denken in Einflusssphären, womit internationales Recht mit Füßen getreten wird, darf sich nicht durchsetzen.» Nur muss sich dieser Satz an andere Mächte richten.
Professor Wjascheslaw Daschitschew, Berater des ehemaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow in Fragen der Ost-West-Entspannung und heute Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften, hat in den vergangenen Jahren mehrfach an die am 21. November 1990 verabschiedete Charta von Paris erinnert und den Westen ermahnt, zu dieser Grundlage zurückzukehren und seine imperiale Politik aufzugeben. Darüber ist der Westen bis heute hinweggegangen.
Ein paar wenige Stichworte wie Nato-Osterweiterung, Krieg gegen Jugoslawien 1999, Irak-Krieg im Jahr 2003, Krieg gegen Libyen im Jahr 2011, die aktive Beteiligungen an zahlreichen Staatsstreichversuchen und Staatsstreichen der vergangenen Jahre – auch in der Ukraine –, der Aufbau und die Instrumentalisierung politischer Extremisten und Terroristen sowie die Versuche, die Grenzen in manchen Regionen der Welt neu zu ziehen, weisen auf die Erscheinungsformen einer im wesentlichen imperialen Gewaltpolitik des Westens in den vergangenen 25 Jahren hin – ohne Rücksicht auf Recht und Völkerecht. Das Buch des US-amerikanischen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski «Die einzige Weltmacht», im englischen Original aus dem Jahr 1997, wurde auch von mir gelesen – und nicht nur von mir.
Ich muss es Ihnen auf den Kopf zusagen: So lange Sie und die anderen westlichen Politiker so weiter machen wie bisher, wird es keine Verständigung mit der russischen Politik geben können. Ich muss bei Betrachtung der vergangenen 25 Jahre sogar den Eindruck gewinnen, dass der Westen und auch Sie, Frau Bundeskanzler, gar nicht an einer wirklichen Lösung des Konfliktes über gleichwertige Verhandlungen aller beteiligten Partner interessiert sind, sondern die Situation weiter eskalieren lassen wollen und in dem Wahn leben, Sie könnten in diesem Konflikt Russland in die Knie zwingen und «siegen». Darin unterscheiden Sie sich leider in keiner Weise von den Hasardeuren, die ihre Staaten und Völker in den Ersten Weltkrieg geführt haben. Allerdings wirken Sie auf mich verlogener, weil Sie so tun, als wollten Sie die «Fehler» von damals vermeiden und alles tun, um den Frieden zu sichern. Die Tatsachen jedoch sprechen eine andere Sprache.
Ich muss Ihnen auch sagen, dass ich nicht nur Ihre Reden und Interviews, sondern mit großem Interesse auch diejenigen des russischen Präsidenten Putin lese. Dessen Interviews und Reden beeindrucken mich in Kenntnisstand, politischer Analyse, Forderungen und Tonlage. Was er sagt, ist für mich weitgehend nachvollziehbar und deckt sich dort, wo ich es beurteilen kann, mit dem, was ich weiss. Ich bin immer offen für Gegenbeweise, habe diese aber noch nicht gesehen.
Ich weiß nicht, ob Sie wirklich davon überzeugt sind, dass Ihre plumpe Propaganda bei den Bürgern verfängt, oder ob Sie auf Grund der in vielerlei Hinsicht desaströsen Lage innerhalb der westlichen Welt und deren Niedergang nichts weiter als den krampfhaften Versuch machen, eben wie Hasardeure die «Flucht nach vorne» anzutreten, und dabei alle Skrupel verloren haben. Mir als deutschem Bürger jedenfalls verschlägt Ihre Politik und die der anderen Regierungen in den USA und in der EU täglich die Sprache. Mit einer ungeheuren Arroganz der Macht gehen Sie über alle hinweg, die fundierte Kritik üben, nach Alternativen suchen und auf Alternativen hinweisen. Offensichtlich wollen Sie so tun, als wenn auch Ihre jetzige Politik gegen Russland «alternativlos» sei. Ich nehme Ihnen das nicht ab, und ich weiß, dass viele Leute so denken. Sie regieren offenkundig am deutschen Volk vorbei, und ich frage mich, welches Verständnis Sie von Ihrem Amtseid haben. Es heißt nicht ohne Grund, dass Sie verpflichtet sind, Schaden vom Deutschen Volk abzuwenden.
Auch ich frage mich: «Wer hätte es für möglich gehalten, dass 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas und dem Ende der Teilung der Welt in zwei Blöcke so etwas mitten in Europa geschehen könnte?» Und selbstverständlich hoffe ich sehr, dass sich Ihre Politik nicht «durchsetzen [wird], mag der Weg auch noch so lang, noch so beschwerlich sein und noch so viele Rückschläge mit sich bringen.»
Konstanz, den 18. November 2014
Karl-Jürgen Müller