Das
deutsche Schweigen über Israel und sein Preis
Omri
Boehm
9.
März 2015 in der New York Times
I.
Schauen Sie sich die Medien in fast jedem Land an irgendeinem Tag an
und Sie werden sehen, dass es keinen Mangel an Meinungen über Israel
und seine Politik gibt. Wenn also eine respektierte Person des
öffentlichen Lebens sich weigert, seine eigene Meinung mitzuteilen,
ist es wichtig, das zur Kenntnis zu nehmen.
In
einem ausführlichen Interview, das er der israelischen Tageszeitung
Haaretz 2012 gab, wurde der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nach
seiner Meinung über die Israelische Politik gefragt. Seine Antwort
war, dass während „die gegenwärtige Situation und die Methoden
der israelischen Regierung… eine Art politischer Evaluation“
erforderten, dies nicht „die Aufgabe eines privaten deutschen
Bürgers (seiner) Generation (sei).“ (Hervorhebung von mir).
Wenn
Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Günter Grass es nicht
schaffen, sich zu äußern, dann geraten sie in eine geläufige und
gefährliche Falle.
Die Abneigung deutscher Intellektueller,
kritisch über Israel zu sprechen, ist natürlich verständlich.
Viele würden zustimmen, dass es in diesem Fall nur angemessen sei,
einen Kommentar abzulehnen – die deutsche Verantwortung für die
Verbrechen des Holocaust lasse es so erscheinen. Offensichtlich
spricht Habermas’ Schweigen für viele andere Intellektuelle,
einschließlich solche, die jüngeren Generationen angehören.
Dennoch,
das Problem mit Habermas’ Antwort gegenüber Haaretz und die
Haltung, die sich darin verkörpert ist, dass Habermas in
Wirklichkeit überhaupt nicht viel von einem privaten deutschen
Bürger hat: Wenn die Quintessenz des öffentlichen Intellektuellen
Zuflucht im Privaten sucht; wenn der Begründer eines philosophischen
Zweigs, der sich Diskursethik nennt, sich zu sprechen weigert, hat
das theoretische und politische Konsequenzen. Das Schweigen selbst
ist hier ein Sprechakt und allerdings ein äußerst öffentlicher.
Um
die Bedeutung dieses Schweigens zu verstehen, muss man auf Kants
Begriff der Aufklärung zurückgehen. In seiner gut bekannten
Abhandlung von 1784 “Was ist Aufklärung?” definiert Kant die
Aufklärung als “Ausgang des Menschen aus seiner
selbst-verschuldeten Unmündigkeit”, einem Wachstumsprozess, der
darin besteht, den “Mut” zu finden, selbständig zu denken. Das
bedeutet jedoch nicht, für sich selbst oder alleine zu denken. Im
Gegenteil besteht Kant darauf, dass der Gebrauch "des eigenen
Verstandes" nur aufgrund eines “öffentlichen Gebrauchs der
eigenen Vernunft” in mindestens zwei aufeinander bezogenen Arten
möglich ist.
Erstens
muss man, in der Absicht selbständig zu denken, danach streben, die
Perspektive der eigenen Abhängigkeiten zu transzendieren –
persönliche, geschichtliche, berufliche, bürgerliche – und
versuchen, aus einem kosmopolitischen „Standpunkt aller anderen“
zu urteilen. Zweitens, und eng damit verbunden ist die Idee, dass für
sich selbst zu denken nur möglich ist, wenn man laut denkt. Wir
wären nicht in der Lage „viel“ zu denken oder allzu „korrekt“,
schreibt Kant, wenn wir nicht miteinander denken würden „mit
anderen, mit denen wir kommunizieren.“ Unsere eigene Perspektive zu
transzendieren aber hängt davon ab, unsere Meinungen dem Urteil der
„gesamten lesenden Öffentlichkeit mitzuteilen – danach strebend,
durch die öffentliche Debatte eine Vereinbarung „universeller
menschlicher Vernunft (zu erreichen), in der „jeder seine eigene
Meinung hat.“
Einer
von Habermas’ einflussreichsten Lehrern, der Philosoph und
Musikwissenschaftler Theodor Adorno, übernahm diese Formulierung
1959 in einer Vorlesung als er sagte, dass Aufklärung darin bestehe,
der Verwendung des „zerstörerischen Worts „als“ zu
widerstehen.“ Wir begegnen diesem Wort, erklärt er, wenn „Menschen
in einer Diskussion sagen ‚als Deutscher kann ich nicht
akzeptieren, dass…’ oder ‚als Christ habe ich auf diese und
jene Weise zu reagieren.“
Die
Konsequenzen, die das für die israelische Frage hat, sind leicht zu
überschauen. Ein Deutscher, der sich weigert, israelisches Verhalten
zu kommentieren – den persönlichen Verpflichtungen treu bleibend,
die durch seine deutsche Vergangenheit erzeugt wurden – verweigert
nahezu buchstäblich die Haltung der Aufklärung im Hinblick darauf,
jüdische Angelegenheiten anzusprechen.
Dies
ist eine Position, die die meisten deutschen Intellektuellen
möglicherweise lieber vermeiden würden; und es wäre ein Fehler –
einer freudschen Analyse wert – zu behaupten, dass, im Fall eines
Deutschen, der einen Juden kritisiert, es einen Sinn ergeben könnte,
eine Ausnahme in Kants Idee zuzugestehen. Exakt deswegen, weil Denken
im Sinne der Aufklärung schon in seinen frühesten Anfängen von
seiner Verbindung zum Antisemitismus verfolgt wurde – besonders
deswegen, weil es oft versucht war, die Juden und ihre Tradition als
sein mythisches „Anderes“ zu behandeln – gerät die
Unterdrückung öffentlicher Kritik des jüdischen Staats auf
gefährliche Weise in eine bekannte Falle. Die Aufgabe deutscher
Intellektueller – wenn überhaupt, dann wegen der deutschen
Geschichte und nicht ihrer zum Trotz – ist die, Israel im Bereich
öffentlicher vernünftiger Diskussion zu erfassen; und genau gesagt,
es nicht in irgendeinen metaphysischen Bereich einzuschließen, über
den, wie Wittgenstein sagen würde „man schweigend hinweggehen
muss.“
Das
wird nirgends deutlicher als in Habermas’ eigenem Denken.
Diskursethik wurde als heldenhaftes intellektuelles Bestreben
entwickelt, aufgeklärtes Denken aus den Trümmern des Dritten Reichs
zu bergen – um damit Kants Ideal öffentlichen Denkens als
Entgegnung zu Heideggers Idee persönlicher Authentizität
anzubieten. Diese Rückkehr zu Kant wird nicht erreicht sein, bevor
deutsche Intellektuelle nicht den Mut finden, über Israel zu
sprechen und zu denken. Historisch gesprochen, mag dies nichts
weniger sein als der ultimative Test aufgeklärten Denkens selbst.
II.
Nun
denken Sie an den Fall eines anderen von Deutschlands prominenten
Intellektuellen – den mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller
und Dichter Günter Grass. „Das allgemeine Verschweigen dieses
Tatbestandes“ schrieb er in einem nun verrufenen Gedicht „Was
gesagt werden muss“, „dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge“. Und er setzt fort: „Jetzt
aber, weil aus meinem Land/ das von ureigenen Verbrechen/ die ohne
Vergleich sind/ Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird(…)/
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll (…)/ sage
ich, was gesagt werden muß…“
Als
Habermas in seinem Interview mit Haaretz nach Grass’ Gedicht
gefragt wurde, antwortete er, dass er keine „vernünftige
Erklärung“ für ein solches Verhalten erkennen könne. „Es
besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Günter Grass kein
Antisemit ist“, betonte Habermas; „aber“ wiederholte er seine
frühere Aussage, „es gibt Dinge, die Deutsche unserer Generation
nicht sagen sollten.“
Das
ist wohl zu großzügig. Entgegen seinem Titel sagt „Was gesagt
werden muss“ wenig, wenn überhaupt irgendetwas, über Israel.
Schmerzlich an Grass’ Intervention ist nicht der Inhalt, aber die
Form: Das Gedicht klagt über Schweigen aber bricht es nicht; Grass
verdammt die Selbstzensur derer, die davor Angst haben, Antisemiten
genannt zu werden, aber dann erliegt er dieser – hat nicht den Mut,
den jüdischen Staat mit den einfachen Mitteln einer gewöhnlichen
Diskussion anzusprechen. Das Ergebnis ist eine nutzlose Kritik
Israels, aber ein sehr effektives Verbreiten von Abneigung. Habermas’
Schweigen über Israel schafft es zwar nicht, kritischer zu sein,
aber poetischer.
Unter
den gegebenen Umständen indes, ist der Preis des Schweigens zu hoch.
In einer Zeit, in der Israels Premierminister zynisch die Erinnerung
an den Holocaust missbraucht um politisch zu punkten – die Farce
begann 2006, als er sagte, dass „es das Jahr 1938 sei und Iran sei
Deutschland“, und sie tauchte letzte Woche wieder auf, als
Premierminister Benjamin Netanjahu zum Kongress der Vereinigten
Staaten sprach – und wenn Elie Wiesel, der Netzanjahu zum Kongress
begleitete, als Vertreter einer mächtigen Siedlerorganisation
auftritt, sind vernünftige, ethische Stimmen und nicht Schweigen
vonnöten.
Nach
48 Jahren militärischer Besatzung, acht Jahren Belagerungszustand in
Gaza und mehr als 2000 durch Israel getöteten Palästinensern gerade
erst vergangenen Sommer, unterstützen deutsche Intellektuelle, die
nicht sprechen, faktisch einige Aussagen, die sie eindeutig besser
ablehnen sollten. Zum Beispiel, dass ihre Geschichte sie mit den
Juden verbindet – repräsentiert durch den israelischen Staat –
nicht mit dem universellen Humanismus. Es gibt eine vernünftige
Antwort auf diese Behauptung, und die ist, dass Deutsche beiden
gegenüber verbunden sind, und dass darin kein Gegensatz liegt. Aber
man kann diese gesunde Position nur dann guter Hoffnung unterstützen,
wenn man die Verletzung internationaler Gesetze und Menschenrechte
durch Israel verurteilt, auf diese Weise eine Position einnehmend,
die sowohl die Ideale des Humanismus als auch die Juden unterstützt.
Wenn man darin versagt, über Israels Vergehen zu sprechen, wird
Deutschland nicht nur darin versagen, seinen Verantwortlichkeiten
gerecht zu werden, sondern es untergräbt den Holocaust als
signifikante politische Vergangenheit.
Es
wäre albern für einen Israeli meiner Generation, die Angst zu
unterschätzen, der deutsche Intellektuelle begegnen müssen, wenn
sie gegen Israel Stellung beziehen. Aber wenn aufgeklärtes Denken
als politische Antwort auf Deutschlands Vergangenheit wirken kann,
muss Mut dafür gefunden werden, diese Angst zu überwinden. Das
Schweigen über Israel zu wahren ist an diesem Punkt weder der
richtige Weg, noch ist es ein effektiver Weg um der Geschichte des
Holocaust gerecht zu werden.
Omri
Boehm ist Assistenzprofessor für Philosophie an der New School for
Social Research (New York City). Er ist der Autor von “The Binding
of Isaac: A Religious Model of Disobedience” und, erst kürzlich,
“Kant’s Critique of Spinoza.”
Originalbeitrag:
http://opinionator.blogs.nytimes.com/…/should-germans-sta…/…
Übersetzung:
M. Brunken