Ex-Botschafter Kornblum fordert als Konsequenz aus NSA-Affaire und US-Krise, Deutschland möge sich auf eine neue Großmacht-Rolle einstellen, nämlich der, als integrierender Knotenpunkt für Informations- und Logistiknetze. Nicht den großen Bruder kritisieren, sondern ihn zu toppen müsse Deutschlands Aufgabe sein. Dazu gelte es sämtliche Skrupel wegen seiner Geschichte abzulegen.
"Deutschland erwache" ist also die aus Amerika herüber dröhnende die Parole. "Deutschland mach dich unter Merkels Führung auf's Neue ans unerfüllte Werk", lautet der Auftrag. Entledige dich sämtlicher Bedenken. Bekenne dich eindeutig zu neuen Weltmachtgeltungsansprüchen und der daraus notwendig folgendenden Machtpolitik. Baue deinen Sicherheits- und Spähapparat aus und stelle ihn der Weltführungsmacht zur Seite, deren Krise doch nur ein Mythos und außerdem bereits widerlegt ist.
Ist es demnach der Deutschland zugeschriebene Auftrag mittels eigener Großmachtambitionen den US-Weltherrschaftsanspruch zu retten? Wer ein hat ein Interesse an solchen Plänen?
Wem nützt es, die menschheitlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in den Wind zu schlagen und den Griff nach der Weltmacht ein drittes Mal wagen?
Erinnern wir daran:
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Lesen Sie außerdem selbst den bezeichnenden und verstörenden Gastkommentar aus dem Handelsblatt vom 15. 11.13
Wie ein erobertes Land
John Kornblum fordert Deutschland auf, seine Rolle im Bündnis
zu überdenken.
Hat sich Angela Merkel in den vergangenen Wochen an Willy Brandt erinnert? Er hatte den Bau der Berliner
Mauer als den Moment bezeichnet, "in dem wir unsere Illusionen verloren haben".
Grund genug hätte sie gehabt. In den vergangenen Monaten sind in Deutschland Illusionen zuhauf geplatzt,
einschließlich solcher über Amerika. Doch jetzt kommt die schwere Kritik der europäischen Partner dazu, die auch
das Fundament der deutschen Identität ins Wanken bringt.
Kritiker verweisen auf den Exportüberschuss Deutschlands, auf sein Beharren auf Ausgabenkürzungen und die
Rolle des Landes bei der Transformation der Nato in eine "Schattenallianz", wie es ein Kommentator kürzlich
nannte. Die "Neue Zürcher Zeitung" sprach von einem neuen Biedermeier-Zeitalter in einem Land, das zu
selbstsüchtig sei, um seinen Reichtum mit anderen zu teilen.
Im Jahr 1961 wurde Willy Brandt von der Einsicht erschüttert, dass niemand außer den Deutschen selbst mehr den
Traum von der Wiedervereinigung träumte. Das Ergebnis war die Ostpolitik. Welchen Weckruf braucht
Deutschland heute? Die Lehren im Jahr 2013 ähneln überraschend denen von 1961 oder auch denen von 1913.
Trotz der Nato und EU tut es sich noch immer schwer damit, sein Stabilitäts- und Sicherheitsbedürfnis mit den oft
gegenläufigen Interessen seiner Partner in Einklang zu bringen.
Für ein Land, das sich seines Multilateralismus rühmt, ist das in der Tat eine bittere Pille. Mit einer Mischung aus
Stolz und Ärger suchen die deutschen Kommentatoren nach einer klaren Botschaft. Amerika zu verurteilen hat eine
Weile funktioniert, doch selbst den größten Gegnern der NSA-Kompetenzüberschreitungen gehen früher oder
später die Argumente aus. Deutschland und seine Freunde sind sich nicht mehr einig, und Besserung ist nicht in
Sic ht.
Was tun? Zunächst gibt es auch in dieser Lage Positives. Zum ersten Mal in seiner Geschichte als Nationalstaat
steht Deutschland auf der richtigen Seite. Nicht nur ist das Land von Freunden und Verbündeten umgeben, es
genießt auch den Schutz der größten Weltmacht. Bedrohungen für seine Sicherheit sind indirekter, globaler Natur
und für eine kontinentaleuropäische Macht schwer zu verstehen. Die Protektion der Amerikaner ist willkommen,
doch hat sie ihren Preis. Ohne eine starke deutsche oder europäische Stimme werden sie nach ihren eigenen
Gesetzen handeln, siehe NSA-Affäre. Der Mythos vom amerikanischen Abstieg aber ist bereits widerlegt. (???)
Die deutsche Wirtschaft zählt zu den stärksten der Welt, und Deutschland wird in Umfragen immer wieder zum
angesehensten Staat der Erde ernannt. Doch nichts von alledem hat dabei geholfen, zu einer angemessenen
Führungsrolle zu finden. Ein Land, das sich seit beinahe 70 Jahren bemüht, "normal" wie alle anderen zu sein, tut
sich nun schwer damit, sich in die "Normalität" anderer einzufügen.
Die NSA-Affäre ist ein vielsagendes Beispiel. Egal wie plump das amerikanische Verhalten gewesen sein mag, es
ist schwer nachzuvollziehen, wie Deutschland Politiker hervorbringen kann, die einen Menschen wie einen
Nationalhelden behandeln, der vom wichtigsten Verbündeten und Beschützer wegen schwerer Verbrechen
angeklagt wird. Die Sympathie für Snowden offenbart eine Mentalität, die eher der eines eroberten Landes
entspricht als einem der wichtigsten Verteidiger der westlichen Demokratie.
Angela Merkel argumentierte kürzlich, dass Deutschland als das "Amerika Europas" lernen sollte, mit derartiger
Kritik umzugehen. Das ist wahr, kann aber nur ein Teil der Antwort sein. Ein wichtiger Bestandteil des
"Amerikaseins" ist es, an das Wohlergehen der Gemeinschaft zu denken. Der Ärger über Deutschland kann in
großen Teilen mit der offensichtlichen Unfähigkeit erklärt werden, in politischen Dimensionen zu denken, anstatt
nur die unmittelbaren nationalen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Verbündete schütteln immer wieder ungläubig den Kopf, wenn deutsche Politiker ihren Unilateralismus immer
wieder mit den Traumata der Vergangenheit rechtfertigen - Krieg und Inflation. Führte überstürztes, einseitiges
Handeln zur Energiewende, weil Fukushima die Deutschen an ihre schreckliche Vergangenheit erinnerte?
Mit anderen Worten: Die Welt will von Deutschland genau das, was die deutsche Politik wohl nicht zu liefern in
der Lage ist - dass Deutschland "erwachsen wird" und mit der Großmut und dem Selbstvertrauen handelt, die vom
wichtigsten Staat Europas so dringend benötigt werden.
Es darf keine Zeit vergeudet werden. Wenn der Westen in der globalisierten Zukunft erfolgreich sein will, dann ist
eine Anpassung Deutschlands an die Ordnung des 21. Jahrhunderts so wichtig wie die im 20. Jahrhundert. Das
Dilemma kann weder durch eine weitere Einschüchterung der Deutschen gelöst werden noch durch die Akzeptanz
ihres Verständnisses von deutscher "Normalität". Besser wäre es einzusehen, dass die Bedeutung Deutschlands so
schnell gewachsen ist, dass zu wenig Zeit war, um das Land oder seine Partner auf diese schwierige Rolle
vorzubereiten.
Ironischerweise liegt ein Schlüssel zum Verständnis der deutschen Psyche in einer oft kritisierten Eigenschaft - der
Zurückhaltung, die dem Land durch die Vergangenheit aufgedrückt wurde: Deutschland war jahrhundertelang
damit beschäftigt, sich unter der Bedingung einer komplexen kulturellen und politischen Geografie zu einigen. Und
leidvoll musste es lernen, was es heißt, zu weit gegangen zu sein.
Doch solange Deutschland sich in seiner neuen Rolle nach dem Ende des Kalten Krieges nicht wohlfühlt, wird das
Land auch nicht über die Kraft verfügen, die gezeigten Fähigkeiten gemeinsam mit anderen einzusetzen. Es fehlt
ihm noch an der Selbstsicherheit, in der von Risiken und Belohnungen gekennzeichneten Kultur einer
globalisierten Welt frei aufzutreten.
Ein exzellentes Beispiel dafür, wie man sich auf die neuen Paradigmen einer global vernetzten Welt konzentriert,
war 2007 der Vorschlag Angela Merkels für einen gemeinsamen transatlantischen Markt, der nun in die
Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen gemündet ist.
Doch das reicht noch nicht. Die wichtigste Illusion, die in den vergangenen Wochen zerstört wurde, war der Glaube
der Deutschen, dass sie allein durch Zusammenarbeit im Finanz- und Handelssektor Wohlstand schaffen können.
Selbst ein Freihandelsabkommen kann nicht verhindern, dass die Sicherheit des Westens durch ein
Auseinanderdriften in zentralen Institutionen - der Nato und der EU - gefährdet wird. Wenn die geistige Basis einer
global ausgerichteten atlantischen Partnerschaft in Wirtschafts- und besonders in Sicherheitsfragen nicht geklärt ist,
dürften die Gespräche zum Freihandelsabkommen von Irritationen überschattet werden, wie sie sich etwa aus der
NSA-Affäre ergeben haben. Es gibt einen außerordentlichen Bedarf an "ganz neuen Organisations- und
Denkmustern", wie sie Kurt Biedenkopf im Handelsblatt vom 4. Oktober angeregt hat.
Doch diese "ganz neuen Strukturen" zu finden erfordert grundlegendes Nachdenken. Was wir nicht brauchen, ist
noch ein EU-Gipfelpapier, das Ziele beschreibt, von denen sich die meisten Mitglieder doch längst verabschiedet
ha ben.
Vor 50 Jahren reagierte die Nato auf die düstere Zeit nach dem Bau der Berliner Mauer, indem sie eine
grundlegende Analyse der künftigen Aufgaben der Allianz anstieß. Dieses nach dem Vorsitzenden eines
hochrangigen Männerklubs als Harmel-Bericht benannte Papier stellte die Weichen für eine neue, gemischte
Strategie, die die Bereitschaft zu einer starken Verteidigung mit der zu einem Ost-West-Dialog verband.
Letztendlich führte diese Linie zur Wiedervereinigung Europas.
Eine solche Initiative mit einer Zielvorstellung für das 21. Jahrhundert zu wiederholen wird immer dringlicher.
Deutschland stand im Mittelpunkt des 20. Jahrhunderts mit Krieg und Zusammenbruch. Im 21. Jahrhundert ist es
das Zentrum eines atlantischen Bündnisses, dessen Einfluss über die ganze Erde reicht.
Deutschland wird nie eine Großmacht im herkömmlichen Sinne sein. Stattdessen könnte das Land aber etwas sehr
viel Wichtigeres werden: ein integrierender Knotenpunkt für Informations- und Logistiknetze, die die eurasische
Landmasse in eine multidimensionale Welt eingliedern.
Weder die USA noch Europa können es sich leisten, diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen.
Der Autor war viele Jahre US-Botschafter in Deutschland.
Quelle: Handelsblatt, 15. Nov. 2013 / Gastkommentar / S. 80