Monday, January 27, 2020

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Die Gedenkfeiern in Yad Vashem, zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch sowjetische Truppen, waren der ARD einen Kommentar wert. Darin wird behauptet, Israel und Russland hätten die Veranstaltung gekapert und damit eine Chance im Kampf gegen Antisemitismus vertan. Eine interessante Wahrnehmungsverzerrung findet unser Kommentator.
Zunächst – ein Kommentar ist ein Kommentar, ist ein Kommentar, ist ein Kommentar. Solange er sich an Fakten und die Meinungsfreiheit in den Grenzen des Grundgesetzes hält, kann eine Kommentatorin oder ein Kommentator praktisch alles von sich geben. Auch Abseitiges oder Absurdes. Insofern sollten sich all jene bitte wieder in ihrem Erregungslevel herunterdimmen, die der ARD-Kommentatorin alles Mögliche und Unmögliche unterstellen oder mit abseitigen oder absurden Argumenten und Beschimpfungen die abseitige und absurde Argumentation jener Kommentatorin geißeln. Punkt.
Dabei ist ein Argument der ARD-Kommentatorin durchaus einer Würdigung wert, nämlich, dass es unhöflich wirkt, geladene Gäste, gleich ob von hohem Stand, in hohem Amt oder in hohem Alter warten zu lassen. Allerdings unterstellt die Kommentatorin mit ihren Formulierungen, Benjamin Netanyahu und Wladimir Putin hätten „ihre eigene politische und erinnerungspolitische Privatparty“ gefeiert und „die Einweihung eines Denkmals zur Erinnerung an die Belagerung Leningrads gnadenlos überzogen“, als hätten beide Politiker sich sozusagen gedanken- und grundlos amüsiert und wie Diven die anderen Gäste warten lassen.

Putins angebliche „Privatparty“

Dass in Jerusalem am Tag der 75. Wiederkehr der Befreiung des KZ Auschwitz ein Denkmal eingeweiht wurde für die Toten der 900-Tage-Blockade von Leningrad durch Nazi-Truppen, ist keine „Privatparty“ von Benjamin Netanyahu und Wladimir Putin gewesen, sondern war Teil der offiziellen Feierlichkeiten des Staates Israel an diesem für dieses Land wichtigsten Tag. Die Einladung an Wladimir Putin wurde deshalb von Benjamin Netanyahu bereits bei seinem Besuch in Moskau im Februar 2019 ausgesprochen. An der Einweihung des Denkmals 2020 nahmen deshalb auch folgerichtig der israelische Präsident Reuven Rivlin teil sowie der Bürgermeister von Jerusalem, Moshe Lion. Neben hunderten anderen, auch internationalen Gästen, unter ihnen auch hochrangige, unter ihnen der russische Außenminister, der Bürgermeister von St. Petersburg, Minister, Botschafter und nicht zuletzt hochbetagte Gäste, Dutzende Überlebende der Blockade, die heute in Israel leben.
Wladimir Putins Vater wurde bei der Verteidigung Leningrads schwer verletzt, seinen älteren Bruder Viktor hat er nie kennengelernt, weil der ein Jahr nach Beginn der Blockade, durch die Entbehrungen geschwächt, an Diphterie starb, im Alter von drei Jahren. Es ist nicht bekannt, dass Wladimir Putin das mit einer „Privatparty“ mit wem auch immer feiert. Vielmehr ist bekannt, dass er die Toten und die Helden der Leningrader Blockade zusammen mit Überlebenden und Angehörigen von Opfern dieses Verbrechens jedes Jahr im stillen Gedenken ehrt.
Auf die Idee, dass ein mehr oder weniger großzügiges Überziehen des Zeitplanes der Protokollabteilungen durch Netanyahu und Putin bei der Einweihung des Denkmals für die Toten der Leningrader Blockade in Jerusalem möglicherweise auch eine Geste der Achtung, des Respektes und der Aufmerksamkeit gegenüber den anwesenden Überlebenden der Leningrader Blockade und ihrem Leiden gewesen ist, dass Netanyahu und Putin bei ihrem anderen Treffen vielleicht wichtige Dinge besprechen wollten, die für die fragile Sicherheitslage des Staates Israel von überragender Bedeutung sein könnten, auf diese Ideen kommt die Kommentatorin leider nicht. Sie kritisiert lieber die angeblichen „neuen Verbalattacken gegen Polen“ von Netanyahu und Putin.

„Neue Verbalattacken gegen Polen“ – Nur welche? Wann? Und von wem?

Aber welche sollen das eigentlich gewesen sein? Hat die Kommentatorin den Reden und Wortmeldungen von Benjamin Netanyahu und Wladimir Putin in Yad Vashem und bei den anderen offiziellen Anlässen jenes Tages aufmerksam zugehört oder sie wenigstens aufmerksam gelesen, um derartige Verleumdungen öffentlich aussprechen zu können?
In den Statements von Benjamin Netanyahu und Wladimir Putin bei ihrem bilateralen Treffen kommen die Wörter „Polen“ oder „polnisch“ kein einziges Mal vor, nachzulesen hier. Gleiches gilt für die Statements von Präsident Reuven Rivlin und Wladimir Putin bei deren bilateralen Treffen, nachzulesen hier. Auch im offiziellen Bericht des Büros des israelischen Ministerpräsidenten über die Einweihung des Leningrader Blockadedenkmals im Jerusalemer Sacher Park, nahe des Obersten Gerichtshofes Israels, findet man die Wörter „Polen“ und „polnisch“ an keiner Stelle, nachzulesen hier. Beinahe unnötig, zu erwähnen, dass Ministerpräsident Benjamin Netanyahu auch in seiner Rede bei der Gedenkfeier in Yad Vashem kein einziges Mal die Wörter Polen oder polnisch verwendete, nachzulesen hier.
Dagegen hat Wladimir Putin in seiner Rede in Yad Vashem Polen und sein Volk erwähnt. Als er daran erinnerte, dass auch die Polen Opfer der Nazibarbarei und ihres Herrenmenschendenkens waren. Wörtlich sagte Putin:
„Der Holocaust war die absichtliche Vernichtung eines Volkes. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass die Nazis das gleiche Schicksal für viele andere Völker beabsichtigten. Russen, Weißrussen, Ukrainer, Polen und viele andere Völker wurden zu Untermenschen erklärt. Ihr Land sollte als Lebensraum für die Nationalsozialisten dienen und für ihre blühende Existenz sorgen, während die Slawen und andere Völker entweder ausgerottet oder zu Sklaven ohne Rechte, Kultur, historisches Gedächtnis und Sprache werden sollten.“
Was daran eine Verbalattacke gegen Polen sein soll, muss die Kommentatorin darlegen. Dann kann sie vielleicht auch erklären, warum die demonstrative Abwesenheit des polnischen Präsidenten in Yad Vashem oder von Repräsentanten der estnischen Regierung keine Verbalattacke auf das Andenken von sechs Millionen ermordeter Juden sein soll, von denen übrigens rund 40 Prozent Bürger der Sowjetunion waren.

Versuche, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umzuschreiben, gibt es schon lange

Aber hier liegt möglicherweise auch ein Grund für die Sprachverwirrungen und die historischen Anmaßungen der zurückliegenden Wochen. Denn nicht Putin versucht die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umzuschreiben, wie derzeit in vielen deutschsprachigen Medien behauptet wird.
Das Umschreiben der Geschichte des Zweiten Weltkrieges begann schon viel früher, schon vor Jahrzehnten, als die UdSSR noch existierte und regelmäßig im Nazijargon von „den Russen“ oder „dem Russen“ oder „den russischen Truppen“ und nicht von sowjetischen Soldaten, dem sowjetischen Volk geschrieben und gesprochen wurde. Interessanterweise wird Russland heute unterstellt, dass der Verweis darauf, dass das gesamte sowjetische Volk Opfer der Nazi-Aggression gewesen ist, die Leiden von Ukrainern oder Belorussen oder anderen Völkern der ehemaligen Sowjetunion zugunsten Russlands herabwürdigen solle.
Ein Denkmal an die polnischen und sowjetischen Soldaten in Warschau (Archivbild)
© SPUTNIK / ALEXEY WITWIZKI / ARCHIV
Die Umschreibung der Geschichte hatte bereits begonnen, als im Kalten Krieg der Nichtangriffsvertrag, inklusive geheimer Zusatzprotokolle zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion den Namen der seinerzeitigen Führer der beiden Staaten erhielten, während das Münchener Abkommen, das die Tschechische Republik den Nazis auf dem Silbertablett servierte, natürlich nicht nach den Unterzeichnern der damaligen Mächte bezeichnet wurde und bis heute nicht so bezeichnet wird. Genauso wenig, wie die Liste der Nichtangriffs- und anderen Verträge diverser Staaten mit Nazi-Deutschland, die vor dem Pakt mit der Sowjetunion abgeschlossen wurden, natürlich auch, ohne die Namen ihrer Unterzeichner, einfach nur simple Verträge sein sollen, die keinerlei Bedeutung für die Kriegsplanungen Hitlers hatten, während der Nichtangriffspakt Nazi-Deutschlands mit der Sowjetunion inzwischen gleichrangig mit dem Fall Gleiwitz sein soll.
Die Umschreibung hatte bereits begonnen, als die Verbrechen sowjetischer Soldaten, die an der deutschen Zivilbevölkerung begangen wurden, als die Verbringung von deutschen Kulturgütern in die Sowjetunion, als die rigiden Reparationen, die die Sowjetunion ihrer Besatzungszone aufbürdete, als all das immer wieder dargestellt wurde und wird als seien es beziehungslose Solitärereignisse, die aus einer bösartigen Natur der Sowjetunion/Russlands und sowjetischer/russischer Menschen herrührten, die sich vollkommen grund- und anlasslos über deutsche Frauen, deutsche Männer und deutsche Kunstsammlungen hermachten, ganz so als hätte es Operation Barbarossa, Kommissarbefehl, Barbi Jar, Leningrader Blockade, Stalingrad, Plünderung und Zerstörung sowjetischer Museen und Kulturgüter oder als hätte es den Befehl der „verbrannten Erde“ nie gegeben.
Die Umschreibung hatte schon begonnen, als in der westlichen Darstellung des zweiten Weltkrieges das polnische Katyn wichtiger wurde als das belorussische Chatyn, als die Geheimrede von Nikita Chrustschow auf dem XX. KPdSU-Parteitag 1956 wichtiger wurde als die Geheimrede von Heinrich Himmler auf der Reichs- und Gauleitertagung in Posen 1943, als Lawrenti Berija und der NKWD wichtiger wurden als Reinhard Gehlen und der BND.
Die Umschreibung der Geschichte hatte begonnen, als die Sowjetunion, als die Errichtung sozialistischer Staaten in Osteuropa mit Nazi-Deutschland, als die Nazi-Bewegung und die Kommunistische Bewegung gleichgesetzt wurden, natürlich mit dem Wort Diktatur belegt, während umgekehrt die schmerzbefreite Wiedereinreihung schlimmster Nazi-Verbrecher und –Kollaborateure in westliche Staatsapparate nur deshalb als „Aufbau der Demokratie“ durchging, weil Alt-Nazis und neue Demokraten in einem Punkt einig waren, in ihrer fanatischen antikommunistischen und antisowjetischen Grundhaltung. Hitlers Hauptziel war bekanntlich immer der jüdisch-bolschewistische Untermensch im Osten.

„D-Day“ und „Tag des Sieges“ – Die üblichen westlichen Doppelstandards

Die Umschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges war schon in vollem Gange, als die großangelegten Feierlichkeiten zum 75-Jahrestag der heldenhaften Landung tausender Soldaten der Westalliierten in der Normandie in der Berichterstattung vor allem auch in Deutschland in einem Tonfall dargestellt wurden, als wäre diese – ich möchte es ausdrücklich noch einmal betonen, weil es schlicht den Tatsachen entspricht – als wäre diese beispiellose logistische Meisterleistung und Heldentat, die mit einem hohen Blutzoll tausender Soldaten bezahlt wurde, deren Opfer zu Recht nicht hoch genug gewürdigt und gedacht werden sollte, als wäre aber der D-Day das zentrale Ereignis des Zweiten Weltkrieges gewesen, während die Rote Armee sich bis zum 6. Juni 1944 in den Schützengräben der „Ostfront“ die Zeit mit Kartenspielen vertrieben hätte, obwohl die sowjetischen Truppen bis zu diesem Zeitpunkt zwei Drittel der Wehrmacht und ihrer Verbündeten gebunden hatten.
Die Umschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges hatte begonnen, als über die großangelegten Feierlichkeiten zum 74. „Tag des Sieges“, am 9. Mai 2019 in Moskau, im Westen despektierlich mit Überschriften wie „Wann endet der Sieges-Wahn?“ berichtet wurde und natürlich die Militärparade auf dem Roten Platz nur „Putins Großmachtstreben“ dokumentierte.
Mittlerweile ist bei der Umschreibung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges die Phase eingetreten, in der ganz offen versucht wird, der Sowjetunion eine gleichrangige Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zuzuschreiben und die Last und Leistungen, die das sowjetische Volk bei der Bekämpfung und Niederschlagung der Nazi-Barbarei getragen und erbracht hat, als eine Art Petitesse und die Empörung in Russland über dieses Klein- und Umschreiben als „Putins ausufernder russischer Nationalismus“ diffamiert wird.

Wehe, es lobt jemand russischen Kampf gegen Antisemitismus

Die ARD-Kommentatorin meinte unter anderem auch:
„Und es sind Zweifel angebracht, ob aus dem Erinnern an diesem Tag und an denen, die in den nächsten Tagen noch folgen, ob aus all den nochmal erzählten herzzerreißenden Schicksalen der Toten und Überlebenden, ob daraus tatsächlich konkrete Schritte folgen, mit denen der grassierende weltweite Antisemitismus zurückgedrängt werden kann.“
Diesen Zweifeln kann abgeholfen werden, denn Moshe Kantor, Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC), der die Gedenkveranstaltung in Yad Vashem organisierte, berichtete in seiner Rede von fünf Beispielen aus Deutschland, den USA, Frankreich, Großbritannien und Russland, wo die Regierungen Gesetze erließen, die den Kampf gegen Antisemitismus stärken sollen. Kantor erwähnte dabei Russland als das Land mit den „wahrscheinlich niedrigsten Fallzahlen von Antisemitismus“, wo „aufgrund einer sehr kompromisslosen, langfristigen Antisemitismuspolitik…antisemitische Vorfälle…mit maximaler Schwere behandelt“ werden und damit „Antisemitismus in der Öffentlichkeit praktisch beseitigt“ sei.
Aber, wir ahnen es und können es auch in diversen Medien dieser Tage lesen, Moshe Kantor ist suspekt. Denn der 1953 in Moskau geborene Oligarch gilt als Vertrauter und Berater von Wladimir Putin, und natürlich war die Einladung des russischen Präsidenten nach Yad Vashem, inklusive Rede eine üble Verschwörung gegen Polen, dessen Präsidenten angeblich oder tatsächlich durch Moshe Kantor ein Rederecht in Yad Vashem verweigert wurde, weshalb der polnische Präsident und andere behaupteten, Putin würde diese Rede zur Verunglimpfung Polens nutzen. Wie war das noch mit den verbalen Attacken?
* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.