Wieso dieser Hass auf die G20?
Andreas Wehr
Bis zum Hamburger Gipfeltreffen war die Gruppe der G20-Staaten in Deutschland so gut wie unbekannt. Dabei gibt es sie auf der Ebene der Regierungschefs bereits seit 2009, und elf Gipfel fanden seitdem statt. Ganz anders als in Deutschland ist die Sicht auf die Gruppe hingegen in Ländern wie China, Indien, Russland oder Japan, wo sie als wichtiger Schritt hin zu einer multipolaren Weltordnung verstanden und gewürdigt wird. Die Japanische Kommunistische Partei sieht in ihrer Etablierung sogar einen Beitrag zur „Demokratisierung der Weltwirtschaft“
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Die Legenden über die G20
In Deutschland wird die G20 fälschlich oft als eine bloße „Erweiterung“ der G7 angesehen, also jenes seit Mitte der 70er Jahre existierenden Zusammenschlusses der imperialistischen Kernländer USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada .
[2] In Wahrheit sind aber die G7 weiter eigenständig und sehr lebendig, erst Ende Mai hielten sie im sizilianischen Taormina ihr Gipfeltreffen ab. Diese Gleichsetzung von G7, bzw. der kurzzeitig um Russland auf G8 erweiterten Gruppe, und der G20 aber ist gewollt: Damit soll eine Kontinuität zwischen den Demonstrationen gegen die Treffen der G7/G8 und dem Gipfel der G20 in Hamburg hergestellt werden. Die Proteste gegen die G7/G8 von Seattle 1999, Genua 2001, Heiligendamm 2007 und 2015 auf Schloss Elmau werden zu diesem Zweck in Erinnerung gerufen. An sie sollte in Hamburg angeknüpft werden.
Selbst über die Zusammensetzung der G20 herrscht in Deutschland oft Unklarheit. So spricht Attac fortwährend von der G20 als der Versammlung der „reichsten Staaten“ der Welt.
[3] Die Reihe „der Reichsten“ wird aber von Katar angeführt, gefolgt von Luxemburg, Macao, Singapur, Brunei Daressalam, Kuwait, Irland und Norwegen. Nebenbei bemerkt: Es ist mehr als eine bittere Ironie, ausgerechnet das G20-Land Indien zu den reichsten Ländern zu zählen! Der Gruppe der Zwanzig gehören tatsächlich folgende 19 Staaten sowie die Europäische Union an: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, die Türkei und die USA. Anders als bei der G7 ist also der Westen hier nicht unter sich. Mit am Tisch sitzen auch seine größten Kontrahenten Russland und China sowie weitere Schwellenländer.
[4] Die G20 sind daher keine „Erweiterung“ der G7. Ihre Etablierung ist auch kein Geschenk des Westens an die übrige Welt. Sie entstand vielmehr aus der Not in der Weltwirtschaftskrise 2008, die man ohne Hilfe Chinas und anderer Schwellenländer alleine nicht mehr bewältigen konnte. Mit der Etablierung der G20 sind die globalen Verhältnisse aber natürlich nicht umgestürzt worden. Wie sollte das auch möglich sein? Aber es wurde ein wichtiger Schritt in Richtung einer multipolaren Weltordnung getan.
Der G20 wird vorgeworfen, eine „Weltregierung“ etabliert zu haben.
[5] Dieser Vorwurf ist substanzlos, hatten sich doch in der Hansestadt Regierungschefs mit solch gegensätzlichen Interessen versammelt, wie sie schärfer in der Welt kaum vorstellbar sind. Man denke nur an das durch westliche Sanktionen bestrafte Russland oder an China, das militärisch durch die USA mit Hilfe seiner Verbündeten Australien, Japan, Südkorea und Taiwan immer stärker unter Druck gesetzt wird.
Den G20-Staaten wird weiter vorgehalten, sie seien ein „illegitimer Zusammenschluss exklusiver Staaten“, sie hätten sich selbst ernannt.
[6]Übersehen wird dabei, dass Staaten souverän sind, d.h. ihre Regierungschefs können sich in welcher Zusammensetzung auch immer völlig frei treffen, dafür benötigen sie keine Genehmigung und schon gar keine Belehrung aus Deutschland.
Schließlich wird verlangt, die G20 hätte sich der UN unter- bzw. in sie einzuordnen. Doch der damit verbundene Vorwurf, nicht repräsentativ für die Staaten der Welt zu sein und etwa aus Afrika mit Südafrika nur ein Land in den Reihen zu haben, trifft auf die UN erst recht zu. Unter den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats, also des Gremiums das dort einzig zählt, ist weder ein afrikanisches noch ein südamerikanisches Land. Japan, das ökonomisch drittstärkste Land der Welt, fehlt dort ebenso wie der bald bevölkerungsreichste Staat Indien. Die Zusammensetzung der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder spiegelt die längst überkommene Weltordnung von 1945 wider. So richtig es wäre, die G20 mit den Strukturen der UN zu verknüpfen, so wichtig ist es gleichzeitig, die UN grundlegend zu reformieren. Im Übrigen gibt es längst eine Zusammenarbeit der G20 mit Organisationen der UN, etwa im Bereich der Agrar- Umwelt- und Gesundheitspolitik. Diese Kooperation zu vertiefen bzw. auf weitere Felder zu erweitern, hätte eine konstruktive Forderung an die in Hamburg versammelten Regierungschefs sein können.
Und was den Vorwurf mangelnder Repräsentation in der G20 angeht, so stimmt es, dass in ihr solch bevölkerungsstarke Länder wie Vietnam, Bangladesch, Ägypten oder Iran fehlen. Vor allem der afrikanische Kontinent ist unterrepräsentiert. Man muss aber wissen, dass es die USA waren, die darauf drängten, stattdessen Saudi-Arabien, Kanada und Australien zu Mitgliedern zu machen. Die europäischen Staaten wiederum bestanden auf der Teilnahme der EU. Der Vorwurf sollte daher an die dafür wirklich Verantwortlichen gerichtet werden, also an die USA und die EU-Mitgliedsländer.
Harmloser Protest und Zerstörungswut
Die Demonstrationen und Proteste in Hamburg richteten sich unterschiedslos gegen alle eingeladenen Staatschefs. Ohne jede Differenzierung wurden sie mal als „Mächtige“, mal als „Oligarchen“, dann wieder als „Herrschende“ oder auch „Autokraten“ bezeichnet, die gleichermaßen für Hunger, Armut, Hochrüstung, ja Krieg verantwortlich seien. Täter und Opfer der westlichen imperialistischen Politik wurden unterschiedslos auf eine Stufe gestellt. Was sie auch immer sonst trennte, in dieser undifferenzierten Kritik unterschieden sich die harmlosen Jugendlichen vom Event „Lieber Tanz ich als G20“ nicht von den ganz und gar nicht harmlosen Gewalttätern des Schwarzen Blocks der "Welcome to Hell"-Demonstration.
Das Versagen der parteipolitisch organisierten Linken, nicht über die wirklichen Verhältnisse in der Welt aufgeklärt und damit nicht bewusstseinsbildend auf die in Hamburg Anwesenden eingewirkt zu haben, stellt ihr ein beispielloses Armutszeugnis aus. Ihre Sprache unterschied sich nicht vom üblichen Gerede von den „Machthabern“, die man nicht in der Stadt sehen wolle. Auch hier wurde alles zusammengerührt, war am Ende „alles eine Soße in der Weltpolitik.“
[7] So hieß es im Aufruf der Partei DIE LINKE: „Mitten in der Hamburger Innenstadt will Angela Merkel Trump, Putin, Erdogan den roten Teppich ausrollen. Gemeinsam wollen sich Neoliberale und Autokraten dort als Problemlöser inszenieren. Dabei ist es ihre Politik der letzten Jahre, die viele der drängendsten Probleme erst hervorgerufen hat.“
[8] Die Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE Ulla Jelpke setzte Erdogan direkt mit Putin gleich: „Wenn es um Erdogan den Kurdenmörder geht, oder wenn es um Putin geht, der überall seine Bomben einsetzt und einsetzen will, dann werden hier die tollsten Hotels angemietet und sie werden geschützt. Aber die friedlichen Demonstranten, die werden hier geprügelt und angegriffen
."[9] Der Parteivorsitzende der Partei DIE LINKE, Bernd Riexinger, begrüßte die Demonstration „Für grenzenlose Solidarität“ vom 8. Juli als eine „gegen die Politik der Trumps, Erdogans, Putins und Merkels, die diese Welt sozial und ökologisch an den Rand der Existenz bringt und deren Kriege Hunger, Not und Flucht verursachen“. Der DKP-Parteivorstand erklärte aus Anlass des Events: „Lasst uns der Politik der Herrschenden der Welt, ihrer Kriegs- und Ausbeutungspolitik, unsere grenzenlose Solidarität entgegensetzen.“
[10] Der Parteivorsitzende der DKP, Patrik Köbele, hatte schon Monate zuvor verkündet, dass es sich beim Gipfel schlicht um eine „undemokratische Zusammenrottung“ handele.
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Doch wer ist für die Kriege, für Not und Flucht in der Welt wirklich verantwortlich? Wer hat den Irak gleich zweimal angegriffen, wer Libyen überfallen und wer führt heute Krieg gegen den Jemen? Wer destabilisiert seit Jahren Syrien und interveniert ungeniert militärisch gleich in mehreren Staaten Afrikas, und wer droht jetzt Nordkorea offen mit Krieg? Wer hat gestattet, dass in Kiew Rechtsradikale mithalfen, die rechtmäßige ukrainische Regierung zu stürzen? Wer lässt es schließlich zu, dass Israel Palästina faktisch okkupiert? Und wer heizt den Konflikt in Venezuela von außen an? Diese Liste ließe sich weiter verlängern. In jedem Konflikt sind es die westlichen NATO-Staaten, zusammen mit ihren jeweiligen Verbündeten, die die Verantwortung dafür tragen. Ihnen gegenüber stehen die gleichfalls in der G20 vertretenen Staaten Russland, China, Indien, Südafrika, Brasilien, Mexiko sowie weitere, die immer wieder versuchen, zwischenstaatliche Konflikte friedlich beizulegen, militärische Auseinandersetzungen zu vermeiden und die internationale Politik auf diese Weise zu demokratisieren. Bei den Demonstranten zählte aber all das nicht. Es zählte auch nicht, dass das moderne China Hunderte von Millionen Menschen aus bitterster Armut befreit hat und das Land heute im Kampf gegen den Klimawandel weltweit zum Hoffnungsträger geworden ist. Für die G20-Gegner sind in der Nacht alle Katzen grau! Es ist eine einzige „reaktionäre Masse“, der sie sich gegenübersehen. Gegen eine solche Weltsicht, die keine Unterschiede kennt, polemisierten schon Karl Marx und Friedrich Engels gegen Ferdinand Lassalle bzw. Michail Aleksandrovič Bakunin. In der heutigen theorielosen Zeit kehren solche, überwunden geglaubten primitiven, da undialektischen Denkweisen zurück.
Man weigert sich aber nicht nur, irgendwelche Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen. Man vermeidet auch, die wirklich Herrschenden mit Hilfe einer konkreten Analyse der konkreten Situation bei ihrem Namen und ihren Taten zu nennen. Sieht man sich nur die offiziellen Forderungen der vom Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE, Jan van Aken, angemeldeten Demonstration „Für grenzenlose Solidarität“ an, so erkennt man wie harmlos in Wirklichkeit der Protest der geschätzten 60. 000 war. Nirgendwo ist darin von der NATO die Rede. Zynisch verharmlosend heißt es unter der Überschrift „Es läuft etwas gehörig falsch auf der Welt“: „Kriege und bewaffnete Konflikte wie in Syrien, in Kurdistan, im Irak oder der Ukraine scheinen kein Ende zu nehmen.“ Ja, warum wohl? Lediglich der Bürgerkrieg im Südosten der Türkei wird erwähnt, und hieran Deutschland eine gewisse Mitschuld gegeben: „Die deutsche Regierung paktiert sogar mit Diktatoren wie Erdogan und unterstützt dessen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, um eigene Interessen in der Region zu verfolgen und damit die Türkei flüchtenden Menschen den Weg nach Europa versperrt.“
[12] Als wenn das militärische Vorgehen der Türkei gegen die Kurden das einzige Problem in der Welt wäre. Vor allem aber: Gegenüber dem eh schon international isolierten Erdogan traute man sich, ihn als Verantwortlichen für einen Krieg anzuklagen. Gegenüber den übrigen Vertretern der NATO-Staaten aber schwieg man. Wenn das nicht Opportunismus ist!
Die zentrale Botschaft des Demonstrationsaufrufs lautete: „Unsere Kritik richtet sich nicht nur gegen einzelne Personen und Repräsentanten, sondern gegen die Verhältnisse und Strukturen, die diese hervorbringen. Wir werden unsere Ablehnung der kalten und grausamen Welt des globalen Kapitalismus deutlich machen, wie sie von den G20 repräsentiert und organisiert wird. Wir werden unsere Solidarität mit all jenen zum Ausdruck bringen, die weltweit durch Proteste, Streiks oder Aufstände der Politik der G20 entgegentreten. Unser Verlangen nach einer Welt des Friedens, der globalen Gerechtigkeit und der grenzenlosen Solidarität wird unüberhörbar sein.“
[13] Allgemeiner und unverbindlicher hätte man es nicht formulieren können. Stolz wurde verkündet, dass dieser Aufruf von nicht weniger als 174 Organisation unterstützt wurde, von der Reitschule Bern bis zum MLPD Landesverband Nord. Ein solcher Text hätte aber jedem Kirchentag zur Zierde gereicht und auch Papst Franziskus, womöglich sogar der Dalai Lama, hätten ihn unterzeichnen können. Die in Hamburg anwesenden Repräsentanten des Westens bzw. der NATO hatten daher von solchen Protesten und dem abstrakten Verlangen nach einer „Welt des Friedens, der globalen Gerechtigkeit und der grenzenlosen Solidarität“ nichts zu befürchten. Zwar gab es in der Demonstration, vor allem von Aktivisten der Friedensbewegung vorgetragen, auch Forderungen, die sich eindeutig gegen die NATO und gegen die Politik der Bundesregierung richteten, doch diese Stimmen gingen in dem Einheitsbrei „Alle sind gleichermaßen schuld“ unter.
Zu den Ergebnissen des Hamburger Gipfels
Was bleibt vom Hamburger Gipfel? Natürlich zunächst einmal die nicht endende Auseinandersetzung um die anarchistische Gewalt, die die Stadt heimgesucht hat. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Bilder brennender Autos und geplünderter Läden bald überall in Deutschland im Straßenbild auftauchten, etwa im Bundestagswahlkampf auf Plakatwänden der AfD und womöglich auch der CDU/CSU. Die Gewalttäter dürfen sich schon jetzt über den zu erwartenden Rechtsruck bei den Wahlen freuen.
Es gab aber auch andere Ergebnisse, die ihre Wirkung entfalten werden. Der Westen präsentierte sich in Hamburg tief gespalten. Der gastgebenden deutschen Bundesregierung und denen der anderen EU-Staaten blieb nichts anderes übrig, als auf China und sogar auf Russland zuzugehen, um mit ihnen ein Bündnis gegen die unter Trump abseits stehenden USA zu schmieden, so in der Klimapolitik, so in der Handelspolitik. Moskau und Peking verschafft dies Bewegungsspielraum, und die wenigen verbliebenen Kritiker des Imperialismus im Westen werden ermutigt. Vor allem China steht nach Hamburg international so gut da wie wohl noch nie. Das musste zähneknirschend sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung einräumen: „Es ist einerseits der weltpolitischen Realität, andererseits aber auch dem Problem namens Donald Trump geschuldet, dass sich die Bundeskanzlerin bei der Bewältigung der vielfältigen Probleme in zunehmendem Maße auf China stützt.“ Und man ahnt in der FAZ-Redaktion bereits, dass man einen Preis für Chinas Unterstützung, etwa in der Nordkoreapolitik, zu zahlen haben wird: “Eine weitere Verschärfung der Sanktionen, die nach dem jüngsten Raketentest Nordkoreas wieder einmal auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht, könnte China davon abhängig machen, dass man seinen maßlosen Gebietsansprüchen im Südchinesischen Meer mit mehr ῾Verständnis῾ begegnet. Fazit: China ist ein unentbehrlicher, aber mit großer Vorsicht zu genießender Partner für Deutschland und die Welt.“
[14] Die pünktlich zum Gipfel gestartete Medienkampagne um die Haftentlassung des seinerzeit schwerkranken und inzwischen verstorbenen, vom Westen zum Menschenrechtler geadelten Liu Xiaobo verfing denn diesmal auch nicht so recht.
Der zweite Gewinner des Gipfels heißt Russland. In Hamburg kam es zur ersten Begegnung von Trump und Putin überhaupt. Allein diese Tatsache und der Umstand, dass das Gespräch deutlich länger als geplant andauerte und –wie gemeldet wurde – in entspannter Atmosphäre verlief, ist bereits ein Erfolg. Die dabei verabredete Waffenruhe im Südwesten Syriens kann die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Mächten im gegenwärtig wohl gefährlichsten Konflikt der Welt verringern. Interessant auch, dass man sich darauf einigte, die Frage der angeblichen russischen Einmischung in den US-Wahlkampf zur Seite zu legen. Und hätte die Absprache über die Schaffung eines gemeinsamen Vorgehens in Sachen Cyberkriminalität in Washington Bestand gehabt, so wäre dies ein enormer Erfolg gewesen.
Interessant sind aber auch die Ergebnisse des Gipfels in den verschiedenen politischen Feldern, von Digitalisierung bis Gesundheit. Hier hatten Arbeitsgruppen unter Leitung der Fachminister der G20-Staaten in den letzten Monaten umfangreiche Dossiers und Aktionsprogramme erarbeitet. Die
taz hat eine erste Übersicht der Ergebnisse veröffentlicht.
[15] Neben Negativem, etwa in der Strategie zur Entwicklung Afrikas, mit der vor allem der westlichen Industrie der Teppich ausgerollt werden soll, gibt es durchaus auch Positives zu registrieren, so in den Vereinbarungen zur Gesundheitspolitik. Dort verständigte man sich auf einen koordinierten Kampf gegen die zunehmenden Antibiotikaresistenzen und auf die Ausrottung bzw. Zurückdrängung von Kinderlähmung und Tuberkulose. All das soll übrigens in enger Koordination mit der zur UN gehörenden Weltgesundheitsorganisation (WHO) geschehen. Nichtregierungsorganisationen wie „Oxfam“ und „Ärzte ohne Grenzen“ konstatierten bei aller verbliebenen Kritik denn auch viel Fortschrittliches.
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Es ist bedauerlich, dass sich die Demonstranten für diese, bereits vor dem Gipfel vorgelegten Ergebnisse so gut wie gar nicht interessierten. Doch unterhalb der Einforderung einer „Welt des Friedens, der globalen Gerechtigkeit und der grenzenlosen Solidarität“
[17], und das nach Möglichkeit sofort, macht man es eben nicht.
Warum nur dieser Hass?
Man fragt sich, woher dieser Hass auf die G20 stammt, der sich in den Straßen Hamburgs sowohl friedlich artikulierte als auch gewalttätig austobte. Worin liegt der tiefere Grund für die unbestreitbare Breite der Ablehnung des Gipfels, selbst unter sonst unpolitischen Menschen? Diese prinzipielle Gegnerschaft steht im Gegensatz zu den mageren Mobilisierungserfolgen bei Ereignissen, die allemal Proteste verdienen. Zwar wurde auch gegen den Nato-Gipfel vor wenigen Wochen protestiert, doch in Brüssel kamen weit weniger als jetzt in Hamburg zusammen, und auch für Randale sah niemand eine Notwendigkeit. Selbst die Ratsgipfel der EU, auf denen die weitere Drangsalisierung Griechenlands beschlossen wird, laufen regelmäßig ohne Proteste ab, ganz zu schweigen von den Friedensdemonstrationen, die gegenwärtig nur wenig Zulauf haben.
Die Organisatoren der Hamburger Proteste täuschen sich, sollten sie glauben, es wäre ihre Agitation und Propaganda gewesen, die zu dieser Mobilisierung geführt hat. Dafür sind ihre Organisationen und Medien viel zu einflusslos. Der Schub wurde vielmehr von der breiten liberalen bzw. linksliberalen Öffentlichkeit, von Medien wie Zeit, Spiegel, Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Rundschau, Freitag, taz, Stern, Neue Zürcher Zeitung und auch von einigen öffentlich-rechtlichen Medien erzeugt. Dort fand man bereits vor Monaten die heute so aktuellen Vorwürfe gegen die G20: Sie handele selbstherrlich, geriere sich als Weltregierung, missachte die UN, sei schlicht illegitim. Vorwürfe, die man dort niemals gegenüber der G7 erheben würde. Es ist ganz offensichtlich, dass diesen Medien die ganze Richtung nicht passt. Es ist die Institution G20 als solche, die stört, weil in ihr mit Russland und China und anderen Schwellenländern Mächte an Einfluss gewonnen haben, die auch der deutsche Imperialismus unbedingt in seine Schranken zurückverweisen will. Ganz konkret stört Russland die unter deutscher Führung stehende Expansionsstrategie der EU in der Ukraine, Georgien und auf dem Westbalkan. Und was China angeht, so soll dem wachsenden ökonomischen Einfluss des Landes in Afrika Einhalt geboten werden.
Beispiele für diese Medienkampagnen gibt es unzählige. Hier seien lediglich zwei zitiert:
Spiegel-Online schrieb Anfang Juli unter der Überschrift „Gipfel in Hamburg – eine Farce“: „Da die USA unter Donald Trump als stabiler Partner offensichtlich verloren sind, setzt sie (gemeint ist Angela Merkel, A.W.) nun ihre Hoffnung auf den chinesischen Staatschef Xi als Gegengewicht. Gemeinsam hat man bereits in schönster Einvernehmlichkeit ein Pandagehege in Berlin eröffnet. Es mag schon sein, dass der Chinese im Vergleich zu Trump eine wohltuende Vernunft ausstrahlt. Doch es ist eine höchst zweifelhafte Partnerschaft, die Merkel hier eingeht. Man könnte auf den Hinrichtungsrekord der Volksrepublik verweisen, oder etwa auf den Umgang mit dem Friedensnobelpreisträger und Regimekritiker Liu Xiaobo, der erst aus der Haft entlassen wurde, als klar war, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Aber eigentlich reicht schon der Satz, mit dem Lukas Podolski jüngst begründete, mehrere Angebote ausgeschlagen zu haben, künftig in China Bälle zu treten: ῾Was da hinter den Kulissen passiert, das hat nichts mit Fußball zu tun.῾ Und das gilt im Grunde für diesen G20-Gipfel insgesamt. Man kann den Zorn verstehen, mit dem die Demonstranten in Hamburg gegen dieses Treffen der Mächtigen aufbegehren.“
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Und in der taz vom 10. Juli 2017 konnte man in der Rubrik „Der G-Kacken-Report“ der langjährigen taz-Reporterin Silke Burmester unter der Überschrift „Die Stadt stinkt noch immer nach muffigen Despoten“ lesen: „So hokuspokusmäßig hätte man mit Räucherstäbchen übers Gelände schleichen sollen, irgendwelche Indianer- oder Mönchsgesänge ertönen lassen und die Atmosphäre von den Trumps, Putins und Erdogans mit ihrer Aura des Gestanks von Käsefüßen gereinigt. Angesichts der Knappheit an Räucherstäbchen wäre auch Raumspray gegangen.“ Ein Bild daneben zeigt die Autorin einsatzbereit, bewaffnet mit Smartphone und Bauarbeiterhelm auf dem Kopf. So wird Stimmung gemacht.
Man sieht: Die Proteste der Zehntausende in Hamburg lagen ganz im liberalen Mainstream. Der ehemalige Diplomat und heutige Journalist Klaus von Raussendorff hat diese neudeutsche Protestkultur scharf, polemisch und treffend beschrieben: „In Hamburg haben wir erneut, aber so drastisch wie nie zuvor gesehen, was dabei herauskommt, wenn wohlmeinende Aktivisten so genannter sozialer Bewegungen in unmittelbarer Auseinandersetzung mit einer diplomatischen Staatenkonferenz ῾auf Weltebene῾ erreichen wollen, was sie in direkter Konfrontation mit den ῾Eliten῾ im eigenen Land zu erkämpfen zu mutlos, zu feige, zu bequem oder zu denkfaul sind. So kam zum G20-Treffen in Hamburg als Protest nur ein ῾Event῾ heraus, und zwar je nach Geschmack in zwei Versionen, einerseits in Form von musikalisch umrahmter harmlos-aktivistischer Selbstinszenierung, andererseits in Form blanker Zerstörungswut, sowohl ideologisch von Seiten der raffinierten Provokateure vom ῾Zentrum für politische Schönheit῾ als Stichwortgeber als auch organisiert martialisch auf der Straße vom ῾Schwarzen Block῾. So bot Hamburg ein lehrreiches Bild der derzeit in Deutschland grassierenden ῾Protestkultur῾: Regierung und Volk vereint gegen die ῾Diktatoren῾ dieser Welt, ein original faschistisches Konzept von ῾Volksgemeinschaft῾, allerdings bis zur Unerkennbarkeit neu drapiert als ῾Wertegemeinschaft῾ zur Verteidigung ῾unserer῾ Zivilisation.“
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[1] Auf dem 25. Parteitag der KPJ im Januar 2010 erklärte die Parteivorsitzende Shii Kazuoa zur Rolle der G20: „Emerging and developing countries in pursuit of economic development with their different approaches carry significant weight in the G20, and first ever enunciation of such a position in a G20 document is worthy of attention.” In: Achieving a Major Advance in the 2010s, Japanese Communist Party 25
th Congress, January 13-16 2010, Atami, Japan Press Service Tokyo, July 2010, page 43. Eine Dokumentation der Beschlüsse der KPJ zur G20 findet sich unter:
http://www.andreas-wehr.eu/eine-andere-sicht-auf-die-g20.html
[2] Lucas Zeise, Kurze Geschichte der G 20. Was die Mächtigen seit 40 Jahren auf den Weltwirtschaftsgipfeln verabreden, Marxistische Blätter 2_2017, S. 28
[7] Arnold Schölzel, Propagandastreifen des Tages. Animationsfilm, in: Junge Welt vom 26.05.2017
[14] Partner China, in FAZ vom 06.07.2017
[15] G20-Ergebnisse: Vieles sehr vage und unkonkret, in: TAZ vom 10.07.2017
[17] Aufruf „Für grenzenlose Solidarität statt G20“ a.a.O.