Thursday, November 23, 2017

„Skandalurteil“ gegen Mladic: „Illegales Tribunal im Auftrag der Nato“

Kritik an „Skandalurteil“ gegen Mladic: „Illegales Tribunal im Auftrag der Nato“

© AFP 2017/ Gabriel BOUYS
Von einem "Skandalurteil auf Basis vorgefasster Meinungen" gegen den bosnisch-serbischen Ex-General Ratko Mladic am Mittwoch spricht Klaus Hartmann, Vorsitzender des Freidenker-Verbandes und Beobachter der Ereignisse. Der Journalist Hannes Hofbauer sieht im Urteil eine juristische Fortsetzung des Nato-Vorgehens gegen Jugoslawien.
Mit deutlicher Kritik haben langjährige Beobachter der Ereignisse, Prozesse und Hintergründe beim Zerfall Jugoslawiens auf das Urteil des UN-Sondertribunals in Den Haag vom Mittwoch gegen den ehemaligen bosnisch-serbischen Militärchef Ratko Mladic reagiert. Dieser wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, weil der heute 75-Jährige des Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnien-Krieges (1992 bis 1995) schuldig sei. Der Ex-General war in elf Fällen angeklagt worden. Dazu zählte laut den Berichten die Ermordung von 8000 muslimischen Jungen und Männern in Srebrenica, die vom UN-Tribunal als Völkermord eingestuft wurde.
Es war der letzte Völkermord-Prozess des Tribunals. Ende des Jahres wird das Gericht laut der Nachrichtenagentur dpa nach 24 Jahren seine Arbeit abschließen. Wegen des angeblichen Völkermordes in Srebrenica waren mit Mladic 16 Personen schuldig gesprochen worden.

„Kriegsbefürworter und Kriegstreiber zufriedengestellt“

Für unbedarfte Zuschauer klinge das Urteil „eigentlich gerecht“, schätzte der österreichische Journalist und Verleger Hannes Hofbauer gegenüber Sputnik ein.
„Es ist aber nicht gerecht“, fügte der langjährige Beobachter der Entwicklung auf dem Balkan hinzu. Das UN-Tribunal sehe nur „auf einem Auge scharf, nämlich auf dem serbischen Auge, und ist auf allen anderen Augen blind“.
Für Klaus Hartmann handelt es sich um ein „Skandalurteil auf Basis vorgefasster Meinungen“. Der Bundesvorsitzende des Deutschen Freidenker-Verbandes hat die Vorgänge seit Jahren verfolgt und die Verfahren in Den Haag wie das gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic deutlich kritisiert. Das Tribunal sei auch gegen Mladic einseitig der Nato-Auffassung gefolgt und habe in allen Verfahren einseitig antiserbisch entschieden, erklärte er gegenüber Sputnik. Dazu gehöre, dass die Rolle der Nato in den jugoslawischen Teilungs-Kriegen in den 1990er Jahren nicht hinterfragt worden sei.
Die Kriegsbefürworter und —treiber seien mit dem Urteil gegen Mladic „nun zufriedengestellt“. Es werde nicht mehr nach den Ursachen und Tatsachen gefragt, so Hartmann. Das hätte mit Blick auf die inneren und äußeren Zusammenhänge, die zum jugoslawischen Zerfallsprozess führten, erfolgen müssen, bestätigte Verleger Hofbauer. Er schloss dabei auch die externen Faktoren wie die Rolle Deutschlands und Österreichs mit ein – „die ja eigentlich seit 1991 zu dieser Sezession Bosniens getrieben haben und immer wieder von serbischer Seite gewarnt worden sind, dass das nicht ohne Krieg funktionieren wird.“

Unterlassene Fragen nach Rolle der Nato

Hofbauer verwies darauf, dass in dem Krieg Morde und Überfälle nicht nur von einer Seite erfolgten. So hätten kroatische Einheiten 1995 die UN-Schutzzone „Sektor West“ in Slawonien überfallen, was nie thematisiert worden sei. Das zeige, dass es sich um „ein ungleichgewichtiges Tribunal“ handele. Freidenker Hartmann widersprach unter anderem der vom Gericht behaupteten Belagerung Sarajevos durch die bosnischen Serben:
„Es wird negiert, dass Sarajevo in diesen Jahren immer eine geteilte Stadt war, in der Serben und Kroaten und bosnische Muslime in unterschiedlichen Stadtteilen wohnten und, aufeinander gehetzt, sich gegenseitig beschossen haben. Eine Belagerung fand in dieser Hinsicht nie statt.“
Der Freidenker-Vorsitzende betonte, der Vorwurf, Mladic habe befohlen, UN-Blauhelme als menschliche Schutzschilde gegen Nato-Bomben zu missbrauchen, sei konstruiert. Das unterlasse die Frage, ob die Nato-Bombenangriffe 1994 völkerrechtlich legitimiert waren. „Es gab für nichts dergleichen einen UN-Sicherheitsratsbeschluss.“

Merkwürdiger „Kronzeuge“ für Srebrenica

Hartmann ging ebenso darauf ein, dass Mladic die mutmaßlichen Massaker von Srebrenica 1995 mit angeblich etwa 8000 Toten und „Völkermord“ vorgeworfen wurden. Letzteres sei 2010 nach einer Klage Bosnien-Herzegowinas vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag nur für diesen einen Fall bestätigt worden, allerdings ohne jegliche eigene Ermittlungen.
Das UN-Sondertribunal stütze sich bei den Vorwürfen zu Srebrenica auf allein ein Verfahren und die immer wieder voneinander abweichenden Aussagen eines einzigen „Kronzeugen“ namens Drazen Erdemovic, stellte Hartmann klar. Erdemovic habe als bosnischer Muslim auf Seiten der Serben gekämpft. Dabei gebe es die „verblüffende Situation“, dass kein einziger von ihm benannter angeblicher Mittäter verhaftet und befragt worden sei. Es handele sich um einen „merkwürdigen, gekauften Zeugen“. Als Slobodan Milosevic in seinem Verfahren 2003 Erdemovic befragen wollte, habe der vorsitzende Richter das untersagt.
Im Interview machte der Freidenker-Vorsitzende darauf aufmerksam, dass in die wiederholt genannte Gesamtzahl der Opfer anscheinend verschiedene Zahlen von Opfergruppen auf allen beteiligten Seiten von verschiedenen Kämpfen und Ereignissen zusammengerechnet wurden. Diesen Widersprüchen bei den Zahlen gehe bis heute niemand nach, beklagte Hartmann. Journalist Hofbauer findet die Frage wichtig, ob es sich wie behauptet um eine „willentliche Ausrottung“ gehandelt hat. Er machte dabei auf ein Problem aufmerksam: „Seit die Europäische Union mit einem Beschluss 2007 die Leugnung von Völkermord – und dabei war insbesondere Srebrenica gemeint – unter Strafe stellt, ist die offene Debatte darüber nicht möglich.“
Das sei für ihn kritikwürdig. Alle Beteiligten in dem bosnischen Bürgerkrieg von 1992 bis 1995 seien darauf aus gewesen, die jeweils andere Bevölkerung von ihren jeweiligen Gebieten zu vertreiben und auch zu vernichten. „Das ist kein Alleinstellungsmerkmal eines Bürgerkrieges.“ Für Hofbauer ist es „ungerecht, das nur einer Seite vorzuwerfen“. Niemand von der kroatischen, der bosnisch-muslimischen und auch der albanisch-kosovarischen Seite sei vor Gericht gestellt worden.

„Gericht im Auftrag der Nato und privater Finanziers“

Freidenker Hartmann bezeichnete das Tribunal in Den Haag als „voreingenommenes Gericht, das im Auftrag der Nato agiert“. Das bestätigte Hofbauer: „Das, was die Nato, Deutschland und die USA voran, in dem jugoslawischen Zerfallsprozess gemacht haben, nämlich sich auf eine Seite zu stellen, die immer antiserbisch war, das haben sie dann mit diesem Jugoslawien-Tribunal juristisch untermauert.“
Hartmann stellte fest: „Man kann einfach jedes Operettentribunal hier im Hinterzimmer einer Gaststätte gründen. Hauptsache ist, man platziert es in Den Haag und schon profitiert es vom Nimbus dieser Stadt, weil dort eine Reihe von internationalen legalen Gerichten tätig sind.“ Das Sondertribunal zu Jugoslawien sei ein „illegales Gericht“, weil es vom UN-Sicherheitsrat einberufen wurde. Das dürfe dieses Gremium laut UN-Charta aber überhaupt nicht, stellte Hartmann klar.
Nur die UN-Vollversammlung könne internationale Gerichte in Kraft setzen und begründen. Mit dem Sondertribunal seien rechtliche Grundsätze verletzt worden, auch durch sein einseitiges Vorgehen gegen die serbische Seite. Die Nato sei nicht nur Auftraggeber, sondern auch Nutznießer. Zudem dürften UN-Gremien nicht privat finanziert werden, was in diesem Fall aber geschehen sei. Auch die „Open Society Foundation“ von George Soros und die Rockefeller-Stiftung hätten dabei mitgemacht, erinnerte Hofbauer. Es sei die Frage, wie solche Quellen, die die Teilung Jugoslawiens unterstützten solch ein Tribunal mitfinanzieren können. Diese „Schieflage dokumentieren die Prozesse“, so der Journalist.
Für Hartman schreibt das Urteil gegen Mladic „Unrechts-Geschichte“, mit dem „die Kolonialgerichtsbarkeit der Nato über ungehorsame Staaten zum Vorbereiten ihrer Zerschlagung, Entmachtung und des Regime-Changes bekräftigt und beglaubigt“ werde. Der Freidenker-Vorsitzende hob hervor: „Es ist ein Bruch des Rechts und hat nichts zu tun mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Wer das in diese Reihe stellt, verharmlost den Faschismus in Deutschland.“
Tilo Gräser
Das Interview mit Klaus Hartmann, Freidenker-Verband, zum Nachhören:
Gabriele Krone-Schmalz: Die Geopolitik von Herrn Putin ist berechenbar - EXKLUSIV

Gabriele Krone-Schmalz gilt als eine der führenden Russlandexperten und war zur Zeit der Perestroika Russland-Korrespondentin der ARD. Ihr neues Buch heißt „Eiszeit – Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“. Im Exklusiv-Interview gibt sie ihre Einschätzung zu Putin, dem Ukraine-Konflikt, Syrien und dem Feindbild Russland.
Sputnik-Redakteur Armin Siebert im Gespräch mit Gabriele Krone-Schmalz
© FOTO: ILONA PFEFFER
Sputnik-Redakteur Armin Siebert im Gespräch mit Gabriele Krone-Schmalz
Frau Prof. Krone-Schmalz, in einer immer komplexer werdenden Welt gibt es endlich wieder etwas, worauf man sich verlassen kann: das gute alte Feindbild Russland. Wenn irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes passiert, dauert es nicht lang, und es wird klar: die Russen waren’s. Sollte man sich darüber aufregen oder darüber lachen?
Zum Lachen ist es zu gefährlich, denn es hängt zu viel davon ab. Man muss sich darüber aufregen, weil die Welt so simpel nicht ist. Wenn von falschen Voraussetzungen Entscheidungen abhängen, werden die Entscheidungen auch falsch sein. In der Wirtschaft kosten falsche Entscheidungen Geld, in der Politik hin und wieder den Frieden.
Diejenigen, die Krieg miterlebt haben, sterben langsam aus. Und ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein für Zerbrechlichkeit, für Frieden auch ausstirbt. Dabei sollte das immer das oberste Gebot sein, und man sollte nicht so gedankenlos an einer Eskalationsspirale drehen.
Ein Phänomen ist, dass trotz breiter Einheitsfront gegen Russland in den Medien im sogenannten Volk doch noch nicht der Letzte davon überzeugt ist, dass der Russe per se böse ist. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Das fällt mir auch auf im Gespräch. Die Mehrheit der Menschen in Russland wie in Deutschland hat das Bedürfnis nach Frieden und guten Beziehungen zueinander. Leider spiegelt sich das in den Leitmedien und in der politischen Aussage so nicht wieder. Mich wundert, dass so ein Begriff wie "Verstehen" zum Schimpfwort geworden ist. Verstehen heißt ja nicht, alles, was der andere macht, in Ordnung zu finden, sondern, etwas zu begreifen und auf dieser Grundlage das eigene Handeln auszurichten. So muss man auch die russischen Interessen erst einmal verstehen, um mit westlicher Politik darauf zu reagieren.
Ich versuche in meiner Arbeit, die Dinge von beiden Seiten zu beleuchten, also auch mal einen Perspektivwechsel vorzunehmen, also die russischen Interessen zu betrachten. Wenn in einer Gesellschaft allein schon das Einnehmen dieser anderen Perspektive, um sie zu verstehen und zu erklären, von vornherein als Kumpanei gebrandmarkt wird, dann sollten die Menschen, die gute Beziehungen wollen, sich auf die Demokratie berufen dürfen.
In der Kreml-Astrologie wird gemutmaßt, dass Wladimir Putin viele Dinge persönlich nimmt und entsprechend reagiert. Wenn Putin tatsächlich so empfindlich wäre wie beispielsweise sein türkischer Kollege Erdogan, dann müsste er die westlichen Medien täglich mit Verleumdungsklagen überziehen. Mir scheint, dafür regiert der russische Präsident noch relativ moderat. Wie sehen Sie das?
Mit Verlaub, wenn es etwas Berechenbares gibt, dann ist es die absolut kühl kalkulierte, strategische Geopolitik von Herrn Putin. Das hat man alles vorher wissen können, auch vieles, was sich in der Ukraine entwickelt hat. Im Vorfeld des EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine haben Entscheidungsträger im Westen durchaus geraten, dass sich hierfür Brüssel, Moskau und Kiew an einen Tisch setzen müssen. Nur leider wurden sie überstimmt.
Es ist leider so, dass viele hochrangige Politiker sich anders äußern, wenn Mikrofon und Kamera an sind, als im persönlichen Gespräch. Wenn es in einer Gesellschaft so ist, dass man zwar auf die äußere Freiheit sehr stolz sein kann, aber die innere Freiheit nicht mehr da ist, weil man Angst haben muss, medial oder in der eigenen Partei oder vom politischen Gegner oder Partner hingerichtet zu werden, dann ist es mit der Freiheit nicht weit her. Ich wünsche mir informierte Debatten. Die können auch sehr intensiv sein, aber mit dem Ziel Entspannungspolitik.
Informiert heißt faktenbasiert. Aber auch hier scheint es zwei Wahrheiten zu geben, was man an Begriffen wie Putsch oder Aufstand in Bezug auf die Machtübernahme in Kiew oder Angliederung und Annexion in Bezug auf die Krim sieht. Oder ein älteres Beispiel: bis heute denkt der gesamte Westen, dass Russland den Georgienkrieg 2008 begonnen hat. Wie kann es sein, dass es zwei Wahrheiten gibt und jede Seite vehement nur an ihre Version glaubt?
der Kreml (Symbol)
© SPUTNIK/ ALEXEJ DRUZSCHININ/ANTON DENISOW/PRESSEDIENST DES PRÄSIDENTEN RUSSLANDSА РФ
Sie brauchen Dinge nur oft genug zu wiederholen, und dann setzen sie sich fest. Man hat auch damals schon wissen können, dass Georgien begonnen hat und nicht Russland, aber das wurde nicht transportiert. Wenn also heute argumentiert wird, Russland, also im Zweifel Putin persönlich, will sich Polen und die baltischen Staaten unter den Nagel reißen, wie man das schon in Georgien gesehen hat, dann sieht man, was passiert, wenn Schlussfolgerungen aufgrund falscher Voraussetzungen gezogen werden.
Frau Krone-Schmalz, wo sehen Sie die Ukraine in zehn Jahren? In der EU? In der Nato?
Ich will nicht in die Zukunft spekulieren, aber ich hätte mir gewünscht, dass die Ukraine nicht als Zankapfel zwischen West und Ost in die Geschichte eingeht, sondern als Scharnier zwischen West und Ost.
Danach sieht es im Moment nicht aus.
Was ja ein Win-Win für alle Seiten wäre, genauso wie es für die EU doch eigentlich nur von Vorteil wäre, vom Handel bis zur Sicherheit gut mit Russland zusammenzuarbeiten. Warum kommt es nicht dazu?
Es liegt auf der Hand, dass die Zusammenarbeit der EU mit Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion mehr als Win-Win wäre. Das wäre natürlich im Interesse der EU und Russlands, aber nicht im Interesse der USA. Und das hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun. Selbst amerikanische Experten bestätigen, dass ein einiges Eurasien den USA gefährlich werden könnte. Das erklärt auch das vehemente Interesse der USA daran, dass die EU Sanktionen gegen Russland verhängte. Auch innerhalb der EU sind die Interessen natürlich unterschiedlich, vor allem zwischen den neuen und den alten EU-Mitgliedern. Wenn die Sichtweise der baltischen Staaten, Polens und einiger anderer Länder allerdings die EU-Politik bestimmt, dann ist das eine vergiftete Grundatmosphäre, auf der man keine Friedenspolitik aufbauen kann.
Und Russland? Wenn man sich ansieht, was Russland alles kann: die Wahlen der Weltmacht No.1 manipulieren, die größte Militärmacht der Welt, also die Nato bedrohen, die Demokratie der westlichen Welt mit Propaganda aushebeln – dann dürfte Putin doch in zehn Jahren der Weltherrscher sein, oder?
Klar, wenn irgendetwas irgendwo schief läuft, sind die Russen schuld, auch daran, dass Amerika jetzt Trump ertragen muss. Wenn man seine Kräfte damit verschleißt, äußere Einflüsse zu bekämpfen, dann hat man keine Kraft mehr, an den inneren Problemen zu arbeiten. Das betrifft auch einige Länder der EU. Rechtspopulistische Parteien bekommen sicher keinen Aufwind, weil sie von Moskau unterstützt werden, was der Fall sein mag, aber dass sie überhaupt entstehen können, hat doch mit unseren Problemen zu tun.
Kommen wir auf Syrien zu sprechen. Zwei Jahre nach dem Eingreifen Russlands ist der IS aus dem Land vertrieben, in weiten Teilen des Landes herrscht Frieden, Flüchtlinge kehren zu Tausenden zurück. Wir erinnern uns alle an die dramatische Quasi-Live-Berichterstattung aus Aleppo, obwohl sich tatsächlich damals kaum Journalisten da reingetraut haben. Jetzt kann man sicher in die Stadt und könnte zum Beispiel über den Wiederaufbau berichten. Wann haben Sie das letzte Mal einen Bericht zu Aleppo im deutschen Fernsehen gesehen?
Ich fürchte, Sie haben Recht mit dem, was Sie andeuten. Da wird nicht mehr so hingeguckt. Der Fokus war auf Aleppo. Aber was war denn mit Mossul oder anderen Brennpunkten, wo die Bomben anderer zu gleichem Leid geführt haben? Ich halte es für geboten, gerade bei diesen Themen nicht nur in Gut und Böse zu unterteilen. Dafür ist die Situation in Syrien zu komplex. Aber allen ist klar, dass es nur geht, wenn Amerikaner und Russen zusammen versuchen, in Syrien eine politische Lösung hinzukriegen. Das sollte sich auch in der Berichterstattung wiederspiegeln. Im Moment gibt es wieder eine entsprechende Initiative von Herrn Putin.
Wieso wird dann in der Berichterstattung ständig mit zweierlei Maß gemessen? Bei den USA sind es Kollateralschäden, bei den Russen Kriegsverbrechen?
Ich glaube, ich habe nicht ein Buch über Russland geschrieben, wo es nicht in einem Kapitel genau um dieses „Zweierlei Maß“ ging. Die Liste wäre endlos. Darauf muss man die Menschen aufmerksam machen, weil sich sonst Automatismen festsetzen. Da muss man dran rütteln, dass sie keine Eigendynamik entwickeln, die sehr schädlich ist.
In der Recherche für dieses Gespräch bin ich auf relativ wenige Rezensionen zu Ihrem neuen Buch „Eiszeit“ gestoßen. Ist die Resonanz tatsächlich geringer geworden, und wenn ja, wie erklären Sie sich das?
Ja, es gibt bisher kaum Rezensionen. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Es wird offensichtlich in irgendeiner Form ignoriert. Vielleicht passt es nicht rein. Keine Ahnung. Das müssen Sie die sogenannten Leitmedien fragen, in denen normalerweise ein Buch rezensiert würde, das schon ein paar Wochen auf Platz Eins der Bestsellerliste steht.
Im Austausch mit Kollegen, treffen Sie überhaupt noch Osteuropaexperten, die in der Lage sind, die Geschehnisse objektiv und neutral zu bewerten?
Es gibt durchaus eine ganze Reihe von Kollegen, die nicht alles, aber vieles auch so sehen wie ich. Aber es ist halt ein Unterschied, ob man im Kollegenkreis darüber redet, oder ob sich das auch niederschlägt in Artikeln und Beiträgen. Es herrscht eine ungute Atmosphäre, die Menschen davon abhält, das zu sagen, was sie denken und was sie herausgefunden haben, weil sie damit rechnen müssen, dass es ihnen Nachteile bringt. Das ist etwas, was ich nicht gewillt bin hinzunehmen.
Apropos Kollegen, gibt es im Westen genug Russland-Expertise im Vergleich zu den Zeiten, als Sie Korrespondentin waren?
Ich habe schon den Eindruck, dass der Nachwuchs nicht gefördert wurde und wird. Das fängt schon in der Schule an, dass Eltern dagegen sind, dass ihr Kind Russisch lernt. Dieses Umfeld trägt sicher nicht dazu bei, dass sich junge Menschen dafür interessieren, was sich da abspielt. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass gerade dies dazu führen könnte, dass junge Menschen hinterfragen wollen. Die beste Friedenspolitik ist Jugendaustausch. Wenn man sich persönlich kennenlernt, ist man etwas mehr immun gegen dummes Geschwätz.
Frau Krone-Schmalz, Sie sind hier in Berlin für den Petersburger Dialog. Was erwarten Sie sich von diesem Forum? Spielt der Petersburger Dialog überhaupt noch eine Rolle?
Jawohl, er spielt noch eine Rolle. Ich denke, dass jedes Dialogforum zwischen Russland und dem Westen, das es noch gibt, gehegt und gepflegt werden sollte. Ich würde mir vom Petersburger Dialog ein gemeinsames Statement, einen Appell von beiden Seiten wünschen, in dem ganz massiv eine neue Entspannungspolitik gefordert wird.
Gabriele Krone Schmalz im Sputnik-Studio
Das komplette Interview finden Sie hier
Das Buch „Eiszeit – Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ ist im C.H.Beck-Verlag erschienen.