11.07.2016
• 10:52 Uhr
Quelle:
Screenshot MDR
Anja
Böttcher hat genug. Nachdem der MDR abermals russische Medien -
darunter auch RT Deutsch - verunglimpfte, verfasste die Lehrerin
einen überaus deutlichen Offenen Brief an den öffentlich-rechtlichen
Sender. RT Deutsch dokumentiert das Schreiben im Wortlaut.
Sehr
geehrte MDR-Redaktion,
als
seit über zwanzig Jahren im Schuldienst tätige Lehrkraft mit
medienwissenschaftlichem Arbeitsschwerpunkt, die während ihres
Studiums auch diskursanalytisch und sprachsoziologisch zur Propaganda
im Nationalsozialismus und im deutschen Kaiserreich gearbeitet hat,
bin ich in hohem Grade über die unschwer erkennbare Degradierung
unseres Mainstreamdiskurses zu einer aggressiv anti-russischen
Feindpropaganda mit anscheinend unbegrenzter Eskalationsbereitschaft
und eine an frühere Erscheinungsformen rassistischer Hetze
erinnernde Reduktion des Russlandbildes hochgradig alarmiert.
Öffentliche
Schulen, die dem Rechtsbestand des Grundgesetzes und der Schulgesetze
ihres Bundeslandes verpflichtet sind, müssen in
medienwissenschaftlichen Unterrichtsvorhaben Schülerinnen und
Schülern das Handwerkzeug für die Analyse grundsätzlich jedes
vorliegenden medialen Beitrags nach Kriterien vermitteln, die
gänzlich unabhängig von der nationalen Herkunft des jeweiligen
Senders sind. Für ein wertendes Urteil über einen Artikel oder
Filmbeitrag ist von Belang, ob er eine solide
Vermittlung sorgfältig recherchierter Fakten und
Zusammenhänge leistet und ausgewogen begründende Kommentierungen
von deskriptiven Sachdarstellungen trennt oder aber nur versucht,
durch unsolide Vermengung von Vermutungen und selektiv gewählten
und aus ihrem Kontext fragmentarisch herausgelösten Einzelfakten
eine bloße Agenda zu propagieren.
Mehr lesen:Außer Spesen nix gewesen: ARD „fakt ab“ im PropagandakriegIm schlimmsten Falle erfolgt solches mit emotionalisierenden, auf die Konstruktion von Feindbildern zielendem Wording oder pejorativem Vokabular, um auf die Dämonisierung oder Dehumanisierung des thematisierten Darstellungsobjekts zu zielen, das dann nur noch als "target" herhalten muss.
Als
schlimmstes Beispiel solcher Form der Propaganda dienen im
Deutschunterricht öffentlicher Schulen Beispiele der
gleichgeschalteten Presse im Nationalsozialismus.
Da
Schulen zu Wissenschaftspropädeutik verpflichtet sind, empfehlen
sich hierfür anerkannte Modelle wie etwa das Propagandamodell von
Chomsky/Hermann, die strukturellen Beobachtungen aus Viktor
Klemperers LTI zur Sprache des Nationalsozialismus oder an den
Schriften des Freud-Neffen Edward Bernays orientierte Modelle, die
maßgeblich für die PR von US-Konzernen wurden. Systematisch hat
diese Modelle, die während des Kalten Kriegs in den USA unter
tätiger Mitwirkung der CIA jahrzehntelang perfektioniert wurden, der
Kognitionspsychologe Prof. Werner Mausfeld in seinem Vortrag
"Warum schweigen die Lämmer? Techniken des Meinungs- und
Empörungsmanagements" in anschaulichen Schaubildern dargelegt.
Seine mit 380.000 Zuschauern auf Youtube wohl meist gesehene
medienwissenschaftliche Vorlesung Deutschlands wird vermutlich
inzwischen auch einer wachsenden Anzahl junger Menschen bekannt sein.
Umso
erschreckender erscheint es zunehmend jungen wie älteren Menschen in
unserem Land, dass die durch obligatorische Gebühren eigentlich dem
Grundgesetz verpflichteten öffentlich-rechtlichen Sender gegen
Russland eine Propaganda fahren, die strukturell der medialen
Hetze gegen die Sowjetunion und "den russischen
Untermenschen" im Nationalsozialismus auf frappierende Weise
ähnelt.
Dies
wird besonders zur Absurdität in solchen Beiträgen, die sich
als Warnung vor Propaganda ausgeben, selbst aber alle Merkmale
plumper Feindpropaganda aufweisen - wie etwa der folgende Beitrag auf
„MDR aktuell“.
Hier
werden ohne jede sachliche Argumentation oder empirische
Untersuchungen pauschal mediale Beiträge des russischen
Auslandssenders RT als "russische Propaganda" verschrien,
was wohl einem generellen Verdammungsurteil gleichkommen soll. Nach
Auffassung der verantwortlichen Redakteure erzeugt
offensichtlich alleine der Ursprungsort „Russland“ einen
moralischen Imperativ, jeden Versuch einer Rezeption dort
publizierter Sichtweisen gefälligst zu unterlassen. Der in
seiner Botschaft primitiv als "Alles Russische ist pfui!"
daherkommende Kurzbeitrag gipfelt im Zitat eines deutschen
Politikers, RT habe in deutschen Wohnzimmern nichts zu suchen.
Ja, liebe Deutsche: Kauft bloß dem Russen nichts ab!
Dieser
Tenor ist nicht nur unerträglich in seiner rassistisch-russophoben
Verdammung einer Mitteilung allein wegen des russischen Ursprungs
der Nachrichtenquelle (bzw. eigentlich nur ihrer
Finanzierungsquelle, denn die meisten Verfasser und Moderatoren
auf RT sind Mitglieder der deutschen Zivilgesellschaft), sondern
auch in seinem anti-demokratischen Paternalismus gegenüber
dem Zuschauer.
Weiß
der MDR eigentlich noch, welcher Staatsform er zu dienen hat? Ist ihm
klar, dass sich aus den mündigen Bürgern dieses Landes der
Souverän unseres demokratischen Rechtsstaats
konstituiert, von dem laut Artikel 20 des Grundgesetzes
alle
Macht
ausgehen soll? Worauf beruht dann also das medial dekreditierte
Wahrnehmungsverbot einer russischen Sicht auf die Welt? Nach dem
Wertekodex des Grundgesetzes wären nur mediale Äußerungen zu
beanstanden, die die Würde des Menschen missachten und Menschenhass
aufgrund ethnischer, religiöser oder nationaler Zugehörigkeit sowie
biologischer Eigenschaften verbreiten. Ich habe noch keinen
RT-Beitrag mitbekommen, bei dem dies der Fall ist, oder gehört, dass
irgendwer dem Sender solches vorgeworfen hat.
Mehr lesen:Der ultimative Mainstreammedien-Guide von RT Deutsch - Teil 3: Öffentlich-rechtliche SenderAngeprangert wird einzig, dass der Sender Interessen und Sichtweisen der russischen Regierung diene. Abgesehen davon, dass auch noch nie jemand nachgewiesen hat, dass dies in der Gänze für die dort veröffentlichten Beiträge gilt, wäre daran aber auch gar nichts verwerflich. Denn nach Maßstäben des Grundgesetzes darf sich jeder mündige Bürger über die Sichtwese jeder beliebigen Regierung zu jedem auf der Welt vorkommenden Problem informieren, ohne dass ein deutscher Politiker dies zu verhindern trachtet.
Gibt
es also im Falle Russlands aus der Warte eines deutschen
Rechtsstaats, welcher ja die Informationsfreiheit seiner Bürger und
die Pressefreiheit zu seinen zentralen Säulen erhebt, ein
grundgesetzlich belastbares Kriterium, ein solches Rezeptionsverbot
zu propagieren? Das wäre schon merkwürdig! Denn immerhin ist
Russland ein Land, das alle rechtlichen Kriterien erfüllt hat, dem
Europäischen Rat anzugehören. Dies gilt weder für Saudi-Arabien
noch für Katar, selbst nicht für die USA, deren Strafsystem
Todesurteile kennt und die seit 15 Jahren weltweit Folterlager
unterhalten, welche dem internationalen Recht widersprechen. Aber für
keines dieser Länder wird mantrahaft gefordert, der gute deutsche
Staatsbürger möge sich gegen deren mediale Erzeugnisse komplett
immunisieren.
Wie
soll aber ein Land, nämlich Deutschland, als demokratischer
Rechtsstaat funktionieren, wenn seine eigentlich
öffentlich-rechtlichen Medien und seine seiner Verfassung
verpflichteten Politiker sich ohne belastbare rechtliche Gründe von
der Prämisse leiten lassen, ein einziger Staat, nämlich
Russland, sei ein Pariah-Staat, für dessen Sicht auf die
Belange der Welt ein Denkverbot für erwachsene deutsche
Staatsbürger herrsche? Dass sich dies mit der pejorativen
Begriffsprägung des "Russland-Verstehers" bereits vor zwei
Jahren ankündigte, ändert nichts an der Tatsache, dass dieser
Umstand für mündige deutsche Staatsbürger langsam hochgradig
unheimlich ist. Das aber, was den Menschen da unheilvoll
erscheint, ist nicht der geistige Zustand der Russischen Föderation,
sondern der der Bundesrepublik Deutschland.
Die historisch
unstrittige Tatsache, dass eine solche Dämonisierung Russlands in
der deutschen Geschichte keineswegs originell ist, ist da alles
andere als beruhigend. Schließlich mündete die letzte entfesselte
mediale Russophobie in einem Vernichtungskrieg, der 55 Millionen
Menschen das Leben kostete, davon zur Hälfte, nämlich 27,5
Millionen, Bürgern der Sowjetunion, deren größter
Nachfolgestaat die Russische Föderation ist.
Auch
ist es gar nicht beruhigend, dass der deutsche öffentlich-rechtliche
Rundfunk, dessen "Alphajournalisten" zu außenpolitischen
Themen nach der empirischen Untersuchung des
Medienwissenschaftlers Uwe Krüger nahezu vollständig in
transatlantischen Elitenetzwerken bestens organisiert sind, hierbei
keinen „nationalen Alleingang“ betreibt.
Dies
wird ja auch dadurch deutlich, dass, wie man unschwer an diversen
Zeitungsmeldungen nachvollziehen kann, fleißig Steuergelder
ausgegeben werden, um auf NATO- und EU-Ebene diverse
„Taskforce“-Konstruktionen zu finanzieren, weil (alleine für den
deutschsprachigen Raum) 28 öffentlich-rechtliche Fernsehsender nebst
ebenso vieler öffentlich-rechtlichen Radiosender deutscher,
österreichischer und schweizerischer Provenienz plus die
US-amerikanischen Sender CBS und CNN zuzüglich der britischen BBC
World anscheinend nicht ausreichen, um zwei bescheidene russische
Internetportale, nämlich RT Deutsch und Sputniknews, an Einfluss
auszugleichen.
Die
mediale transatlantische Einheitsfront braucht offensichtlich, um
ihre eigenen Bürger zu überzeugen (was an sich schon eine wenig auf
die Mündigkeit der Bürger setzende Zielstellung ist), ernsthaft
Unterstützung durch zusätzliche steuerfinanzierte Initiativen der
EU und NATO, um ihre Bevölkerung davor zu schützen, nicht von der
Wucht russischer Meinungsmacht hinweggespült zu werden.
Mehr lesen:"Eine Welt ohne RT wäre genau das, was sich die westlichen Kriegstreiber wünschen"Wenn ein derartig paranoider Wahn, der einer solch dramatisierenden Warnung vor „russischer Desinformation“ zugrunde liegt, in einer mit Atomwaffen bestückten Welt nicht so beängstigend wäre, müsste ein gescheiter Mensch hier eigentlich laut lachen.
Aber
zum Lachen ist dem aufmerksamen mündigen Staatsbürger gar nicht
mehr zumute, der bestürzt zur Kenntnis nehmen muss, dass
Medienberichte und Politikeräußerungen inzwischen nach Kriterien zu
funktionieren scheinen, die weder unserer Verfassung noch dem mit ihr
übereinstimmenden Mehrheitswillen der deutschen Bevölkerung und
schon gar nicht einem reifen Fazit aus unserer historischen Erfahrung
entsprechen.
Ich
möchte Sie hiermit auffordern, von dieser propagandistischen,
menschen- wie friedensverachtenden Form eines feindseligen
propagandistischen Kampagnenjournalismus abzusehen, der siebzig Jahre
des Friedens in Europa ernsthaft zu gefährden droht.
Dafür
gilt es nur folgenden Artikel des Grundgesetzes zu beachten:
Art.
26
(1)
Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden,
das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die
Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig.
Sie sind unter Strafe zu stellen.
In
diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute Besserung!
Mit
freundlichen Grüßen,
Anja
Böttcher