18:22
03/03/2006
Der
Diplomat Dr. Valentin Falin beleuchtet in einem Interview für RIA
Novosti, wie der Kalte Krieg fast nahtlos an den Zweiten Weltkrieg
anschloss.
MOSKAU,
03. März (RIA Novosti). Die berühmte Rede Winston Churchills im amerikanischen
Fulton wurde am 5. März 1946, also genau vor 60 Jahren, gehalten.
Diese Rede gilt als ein "Manifest" des Kalten Krieges, den
der Westen der Sowjetunion erklärt hat. Zugleich wurde damit der
Anti-Hitler-Koalition ein Ende gesetzt.
Wurde
mit Churchills Rede wirklich eine Grenze zwischen den
Bündnisbeziehungen und einer qualitativ neuen Konfrontation gezogen,
bei der die Menschheit mehrmals an den Rand eines Abgrunds gestellt
wurde? Oder hat der frühere britische Premier und einer der
markantesten Politiker des 20. Jahrhunderts damit nur eine Politik
enthüllt, die von den Vereinigten Staaten und Großbritannien viel
früher eingeleitet worden war?
Ein
Interview mit dem Historiker und Diplomaten Dr. Valentin Falin zu
diesem Thema führte der militärpolitische RIA-Novosti-Kommentator
Viktor Litowkin.
Heute
kennen wohl nur Historiker den Inhalt der Fulton-Rede Churchills. Die
meisten Russen, insbesondere diejenigen, die noch in der Sowjetzeit
in die Schule gegangen sind, würden aber auch heute sofort sagen,
gerade dort sei "der Kreuzzug gegen den Kommunismus"
erklärt worden. Nach dieser Rede, würden sie auch sagen, sei
zwischen Sowjetrussland und der "freien Welt" der "eiserne
Vorhang" gefallen. Was hat aber Churchill vor 60 Jahren konkret
gesagt? Und was stand in Wirklichkeit hinter seinen Worten?
Seit
eh und je sind wir gewohnt, in einer Welt von Legenden zu leben.
Viele nehmen das als eine Selbstverständlichkeit auf, ohne zu
überlegen, wie oft Legenden von der Wahrheit wegführen. Kommentare
und Spekulationen um Churchills Fulton-Äußerungen und überhaupt um
diese Figur sind ein klares Beispiel dafür.
In
Fulton ist nämlich das Übel ans Tageslicht getreten, das in den
Londoner und den Washingtoner Korridoren der Macht jahrelang
herangereift war. Begründet wäre die Frage, warum gerade Winston
Spencer Churchill damit beauftragt wurde, die bisher geheimen
Absichten öffentlich zu artikulieren. Immerhin waren gerade einmal
sieben Monate nach der Wahlniederlage der Konservativen und dem
Rücktritt Churchills vergangen. Warum haben die Amerikaner gerade
ihn für dieses Anliegen gewählt? Die Antwort scheint banal und
einfach zu sein: In der gesamten angelsächsischen Welt ließe sich
kaum ein anderer Politiker finden, der den Russenhass derart
umfassend und zügellos verkörpern würde.
Noch
während des I. Weltkrieges wollte Churchill dafür sorgen, dass die
Hauptkräfte Kaiserdeutschlands auf die Zerschlagung des zaristischen
Russlands konzentriert werden, während Großbritannien seinen
Entente-Verpflichtungen nach Möglichkeit ausweichen könnte. Es war
Churchill, der 1918 aufrief, unser Land in "Aktionssphären"
aufzuteilen und auf diese Weise einen Zerfall des multinationalen
russischen Staates herbeizuführen. Er war es auch später, der sich
darum bemühte, dass Sowjetrussland von Ländern umgeben wird, die
"die Bolschewiki wild hassen" würden.
In
der Sprache Churchills und seiner Gesinnungsgenossen galt diese
Betätigung als eine "Fortsetzung des Krim-Krieges 1853-1856".
Die antikommunistische Rhetorik, die nach der Oktoberrevolution
intensiv ausgebeutet wurde, änderte nichts am Wesen der Sache.
London, aber auch Washington haben sich lange vor dem Sturz der
Monarchie dem Russenhass verschrieben. Das Streben, uns aus dem
Orchester der Weltmächte auszustoßen, prägte die Position der
patentierten Demokratien zu allen halbwegs wichtigen regionalen und
globalen Problemen im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts.
Wovon
sprach aber Churchill in Fulton wirklich? Man muss Lehren aus der
Geschichte ziehen, dozierte der Ex-Premier. Die Versuche, den
Nazismus zu befrieden, hätten zu einer Eskalation der aggressiven
Vorhaben Deutschlands und zu einem Krieg geführt. Die "Demokratien"
sollten die verhängnisvollen Fehler nicht wiederholen, sie müssten
sich im Kampf gegen die neue totalitäre Gefahr zusammenschließen,
die heute die Sowjetunion verkörpert, die ein halbes Europa mit
eisernem Vorhang abgeschnitten hat, um ihre Ordnung in den von ihr
kontrollierten Gebieten herzustellen.
Das
ist kurz das Wesen. Und wer den Text von Churchills Fulton-Opus nicht
zur Hand hat, kann sich mit dessen Neuauflage in einer der jüngsten
PACE-Resolutionen begnügen. Es wurde nichts Neues erfunden. Viel
bequemer ist, die gewohnte Bahn weiter zu fahren. Sonst würde jemand
vielleicht um die Erlaubnis bitten, Einblick in Archive zu bekommen,
die in der Lage wären, Licht in die Kontakte Londons, Washingtons,
Paris', Warschaus und Stockholms im Vorfeld des Amtsantritts von
Mussolini und Hitler, aber auch in der späteren Zeit, darunter auch
in den für die Geschicke der Welt verhängnisvollen Jahre 1941 bis
1945, zu bringen. Nicht von ungefähr ruhen die besonders ergiebigen
Dokumente hinter sieben Siegeln in den westlichen Archiven.
Werden
die wirklich immer noch geheim gehalten?
Ja,
bis zum heutigen Tag. Und niemand verspricht, diese Siegel in
absehbarer Zukunft zu beseitigen.
Einige
Worte zur "Versklavung anderer Völker" und zum "eisernen
Vorhang". Die Idee der Abtrennung der Interessen der "Großen
Drei" in der Nachkriegswelt gehörte übrigens Winston
Churchill. Zu Roosevelts Unzufriedenheit erfand er sogar eine
prozentuelle Formel einer solchen Abtrennung. Und Stalin entsprach
dieser Offerte des britischen Premiers gern. Das Wichtigste besteht
aber in etwas anderem.
Im
Endstadium des Krieges hatte Moskau etwas andere Sorgen. Man musste
das Land aus den Trümmern heben und nicht von einer
quasi-kommunistischen Expansion träumen. Es ist eine festgestellte
und nachgewiesene Tatsache, dass die sowjetische Führung weder 1945,
noch 1946 vorhatte, in Zentral- und Osteuropa dem Stalinismus
verwandte Modelle der wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Ordnung zu reproduzieren.
Natürlich
sollte es keine Regimes, die die UdSSR "wild hassen"
würden, in der Nähe geben. Bis zum Herbst 1947 bzw. Frühling 1948
waren in der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien Regierungen von
Vertretern bürgerlicher Parteien an der Macht. In Polen wurde der
Prozess der Bildung der nationalen Einheit von subversiven
Aktivitäten Großbritanniens erschwert, das unbedingt einen
Intelligence-Service-Agenten in die obersten Machtetagen bringen
wollte. Tito hat Stalin nicht gefragt, wie er Jugoslawien verwalten
soll. Auch Buglarien folgte Dimitrow ohne unser Diktat.
Logischerweise
sollte Deutschland ein spezielles Problem darstellen. Was hat die
Sowjetunion vorgeschlagen? Beibehaltung der Einheit des Landes,
Abhaltung gesamtdeutscher freier Wahlen, Bildung einer nationalen
Regierung gemäß den Wahlergebnissen sowie einen baldigen Abschluss
des Friedensvertrages und den Abzug aller ausländischen Truppen vom
Territorium Deutschlands. Natürlich sollte den Deutschen gestattet
werden, ihre Gesellschaftsordnung, in der sie leben möchten, selbst
zu bestimmen. Moskau wäre mit einer Weimarer Variante durchaus
zufrieden gewesen.
Wie
reagierten aber die USA, England und Frankreich auf die sowjetischen
Vorschläge? Um nicht in Details zu versinken, beschränke ich mich
auf einen Hinweis auf die Haltung Washingtons. Der USA-Außenamtschef
legte fest: "Wir haben keinen Grund, dem demokratischen Willen
des deutschen Volkes glauben zu schenken." Also keine freien
Wahlen, kein Friedensvertrag mit den Deutschen, zu deren Konzipierung
Moskau Vertreter Deutschlands einzuladen vorschlug, und kein Abzug
der ausländischen Truppen aus diesem Land.
Es
ist etwas merkwürdig, dass sich Churchill nicht bemüht hatte, die
Herkunft des Klischees "eiserner Vorhang" zu klären.
Unmittelbar vor dem Ex-Premier hatte Göbbels an einem solchen
"Vorhang" gebastelt, als er die Deutschen zum Widerstand
gegen die russische Invasion bis zum Tod aufrief. Hinter diesem
"Vorhang" versuchten die Nazis auch, 1945 eine
"Rettungsfront der Zivilisationen" gegen die russischen
Horden zusammenzuzimmern. Hätte Churchill noch tiefer gegraben, so
hätte er erfahren, dass der Begriff "eiserner Vorhang"
erstmals in Skandinavien in Umlauf gesetzt worden war, wo die
Arbeiter Anfang der 20er Jahre gegen das Streben ihrer Herrscher
protestierten, sie gegen die "ketzerischen Ideen" aus dem
Osten abzuschirmen.
Kommen
wir aber auf die Frage zurück, warum die amerikanischen Reaktionäre
Churchill nach vorn geschickt haben. Was wollten sie damit schamvoll
zudecken?
Der
Verrat am Alliiertenbündnis, das Abwerfen der Verpflichtungen und
der abgelegten Schwüre waren und bleiben stets eine Schande. In
diesem Fall war aber die Sache noch schlimmer. In seiner letzten
Botschaft an den Kongress (März 1945) mahnte Präsident Roosevelt:
Von einer gewissenhaften Einhaltung der Vereinbarungen von Teheran
und Jalta hängen "die Geschicke der Vereinigten Staaten und der
ganzen Welt für Generationen voraus" ab. "Hier haben die
Amerikaner keinen Zwischenweg", betonte er. "Wir müssen
die Verantwortung für die internationale Zusammenarbeit übernehmen,
widrigenfalls würden wir Verantwortung für einen neuen globalen
Konflikt tragen."
Ein
Jahr nach der mehr als klaren Mahnung seines Vorgängers war Harry
Truman nicht sicher, dass die öffentliche Meinung in der Welt und in
Amerika mit Begeisterung auf ein Ende der Anti-Hitler-Koalition
reagieren würde. Hinsichtlich eines Bruchs mit der UdSSR gab es
keine Einigung auch innerhalb der Administration, der Generalität
und des Kongresses. Ich berufe mich hier auf General Clay. Im April
1946 berichtete er als der amerikanische Vizegouverneur Deutschlands
an das Außenamt: Den sowjetischen Vertretern im Kontrollrat "kann
man nicht vorwerfen, sie würden die Potsdamer Vereinbarungen
verletzen". Im Gegenteil: "Sie erfüllen diese höchst
gewissenhaft" und bekunden dabei "ihr aufrichtiges Streben
nach Freundschaft mit uns sowie Respekt gegenüber den USA".
"Wir haben an eine mögliche bevorstehende sowjetische
Aggression nicht geglaubt und glauben daran auch heute nicht",
so Clay.
Truman
brauchte eindeutig eine Hilfe von außen, um seine Doktrin "pax
americana", diesen Anspruch auf eine Hegemonie in den
internationalen Angelegenheiten, abzusegnen. Neben dem von der Zeit
geprüften Russenhass Churchills fühlte sich der USA-Präsident von
einem erlesenen Zynismus des britischen Ex-Premiers angezogen, den
Roosevelts Verteidigungsminister Stimson als "die zügelloseste
Abart des aus dem Konzept bringenden Randals" beschrieb. Für
Churchill sprach in Trumans Augen auch die Tatsache, dass während
des Krieges niemand mehr als Churchill unternommen hatte, um das
militärische Zusammenwirken der Westmächte mit der Sowjetunion
auszuhöhlen, eine reale Koordinierung von Handlungen der
Streitkräfte der drei Mächte zu verhindern, die Eröffnung der
Zweiten Front in den Jahren 1942 und 1943 zu torpedieren. Und das tat
er, um den Krieg damit in die Länge zu ziehen und mit einer
himmlischen Ruhe zuzusehen, wie die Deutschen und die Russen in den
erbitterten Kämpfen gegenseitig entkräften. In dieser Hinsicht
entsprach die Konzeption des britischen Premiers der Position
Trumans, der im Juni 1941 gesagt hat: "Gewinnen die Deutschen,
so soll den Russen geholfen werden, gewinnen aber die Russen, so soll
man den Deutschen helfen - mögen sie einander umso mehr umbringen."
Ein
Prüfstein, an dem Vor- und Nachteile von Politikern getestet werden,
ist ihr Verhalten in kritischen Situationen. Nehmen wir die Schlacht
an der Wolga. Damals stand nicht nur die Frage auf der Tagesordnung,
dass Japan und die Türkei in den Krieg gegen die UdSSR einsteigen
würden, sollte Stalingrad fallen. Auch eine separate Abmachung der
"Demokratien" mit dem Nazi-Deutschland bahnte sich bereits
an, wovon der damalige USA-Außenamtschef Hull in seinen Memoiren
schreibt. Und was war mit Churchill? Im Oktober 1942, noch vor dem
Beginn der Gegenoffensive der Roten Armee, forderte er in einer
Sitzung des Kriegskabinetts, "die russischen Barbaren möglichst
lange im Osten aufzuhalten, damit sie das freie Europa nicht
bedrohen".
Der
Kursker Bogen. Die schwerste Schlacht des Zweiten Weltkrieges war
noch nicht zu Ende, als die Stabschefs der USA und Großbritanniens
bei einem Treffen im August 1943 in Quebec nicht ohne Mithilfe
Churchills die Zweckmäßigkeit eines Komplotts mit Nazi-Generälen
erörterten, um "den Russen gemeinsam Abfuhr zu erteilen".
Churchill war äußerst besorgt, dass die Sowjetunion in der Schlacht
bei Kursk die Fähigkeit zeigte, das Dritte Reich im Alleingang in
die Knie zu zwingen. Die USA waren von dieser Entwicklung zwar
ebenfalls beunruhigt, Roosevelt zog aber etwas andere Schlüsse
daraus: Er wollte die amerikanische Fahne in Europa zeigen, damit die
USA mit der Sowjetunion die Siegesfrüchte teilen könnten.
Man
würde sagen, dass ist Geschichte, die von der Zeit überholt wurde.
Alle Völker hätten zum Ende des Krieges und danach ein viel
ruhigeres Leben gehabt, wenn diese Feststellung auf Fakten beruhen
würde. Leider war es nicht der Fall. Die antisowjetische und vom
Rassenhass geprägte Ausrichtung der Politik Londons und eines Teils
des amerikanischen Establishments ließ selbst nach den
offensichtlich gescheiterten Versuchen nicht nach, Moskau in der
abschließenden Kriegsetappe Initiative zu entreißen. Spätestens im
März 1945 erteilte Churchill den Befehl, die erbeuteten deutschen
Waffen für deren möglichen Einsatz gegen die UdSSR aufzusammeln und
zu lagern. Damals erteilte er auch den Befehl, die Operation "Das
Undenkbare" zu konzipieren, einen Kriegsplan gegen die
Sowjetunion. Der Krieg sollte am 1. Juli 1945 beginnen und von 112
bis 113 Divisionen geführt werden, u. a. von einem Dutzend
Wehrmacht-Divisionen, die sich den Engländern ergeben hatten. Die
Divisionen wurden nicht aufgelöst, sondern in Lager in
Schleswig-Holstein und in Süddänemark gebracht. Dort wurden sie bis
zum Herbst 1946 bereitgehalten.
Es
ist ein offenes Geheimnis, dass sich Churchill sehr bemüht hat,
Truman, der Roosevelt nach dessen Tod am 12. April 1945 im
Präsidentenamt abgelöst hatte, für das Projekt "Das
Undenkbare" zu gewinnen. Ungeklärt bleibt allerdings der
Zusammenhang zwischen diesen Bemühungen des Premierministers und dem
Vorschlag, den der frischgebackene USA-Präsident am 23. April 1945
in einer Konferenz mit politischen und militärischen Beratern im
Weißen Haus unterbreitete. Bei dieser Unterredung legte Truman seine
Vorstellung vom heutigen Tag und von den nächsten Perspektiven dar:
Die Sowjetunion hat ihre Rolle im amerikanischen Szenario des zu Ende
gehenden Krieges erledigt; es wäre Zeit, einen Schlusstrich unter
die Anti-Hitler-Koalition zu ziehen; die Vereinigten Staaten werden
Japan auch ohne Assistenten zur Kapitulation zwingen. Hätte es keine
kategorisch ablehnende Haltung der höchsten USA-Militärs dazu
gegeben, so hätte Churchills "Undenkbares" durchaus real
und denkbar werden können.
Der
Bruch mit der Sowjetunion wurde um einige Monate verschoben. Dennoch
veranstalteten Washington und London am 7. Mai 1945 eine separate
Kapitulation des deutschen Oberkommandos vor dem Eisenhower-Stab in
Reims. Die Engländer und die Amerikaner wussten sehr wohl Bescheid,
dass Admiral Dönitz, Hitlers Nachfolger im Amt des Reichskanzlers,
und General Keitel ihre Emissäre nach Reims mit einer Anweisung
entsandten, wonach die Kampfhandlungen gegen die USA und
Großbritannien "nicht zum Nachteil der Land- und
Seeoperationen" eingestellt würden, "welche dem Loslösen
vom Gegner im Osten dienen". Damit wollten die Nazi-Generäle
nicht bloß ihre Offiziere und Soldaten vor sowjetischer
Gefangenschaft retten. Damit wurden Reserven für "Das
Undenkbare" gesammelt.
Um
also ganz genau zu sein, reifte die Philosophie des "Kalten
Krieges" noch im Gedonner des Zweiten Weltkrieges heran. Man
kann feststellen, dass die Washingtoner Regierung ernsthaft damit
rechnete, die riesige wirtschaftliche Überlegenheit in der
Kombination mit der erlangten militärischen Stärke auszunutzen, um
den Rest des 20. Jahrhunderts in ein "Zeitalter Amerikas"
zu verwandeln. Diese Absicht brachte jedoch einen Mutanten zur Welt:
Die Politik gestaltete sich spätestens ab Frühling 1945 in eine
Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
In
den 80er Jahren bekam ich die Möglichkeit für einen
Meinungsaustausch mit dem Verfasser des bekannten "langen
Telegramms", George Kennan. "Mit Ihrem 8 000 Worte langen
Telegramm verbinden so manche die Wende in der USA-Politik und den
Beginn des Kalten Krieges", sagte ich ihm.
War
Kennan zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Dokuments Botschafter in
Russland?
Nein,
er war der interimistische Geschäftsträger der USA in Moskau.
Kennen erwiderte: Er habe den Kalten Krieg nicht heraufbeschwört. In
seinem Telegramm ging es um die Notwendigkeit, wirtschaftliche,
politische und psychologische Schwierigkeiten für die UdSSR zu
schaffen, damit das Sowjetsystem ins Stottern kommt und zu einer
"Selbstreinigung" gezwungen wird. Das "lange
Telegramm" stand im Einklang mit anderen Dokumenten, die sowohl
vor als auch nach dem Tod Roosevelts in der USA-Administration im
Umlauf waren. In diesem Zusammenhang erwähnte Kennan den Namen Grew.
Joseph
Grew, Roosevelts enger Freund und stellvertretender Außenamtschef
1945, richtete am 19. Mai 1945 ein Memorandum an Truman, in dem es
hieß: "Wenn es in der Welt etwas Unabwendbares gibt, so ist das
ein Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion."
Hat
das Grew geschrieben?
Ja.
"Es wäre besser und sicherer, diese Kollision zu haben,
bevor Russland mit seinem Wiederaufbau fertig ist und sein riesiges
militärisches, wirtschaftliches und territoriales Potential
entwickelt hat." Bis dahin sollte man aber "die
amerikanische Sowjetunion-Politik in allen Bereichen verhärten",
empfahl Grew.
Auf
der in Grews Memorandum formulierten ideologischen Grundlage verlief
eigentlich die Demontage des politischen Erbes Roosevelts, u. a.
hinsichtlich der Verwirklichung (bzw. einer Verweigerung) der
USA-Verpflichtungen gemäß den Vereinbarungen von Teheran und Jalta.
Parallel wurde eine neue Militärdoktrin der Vereinigten Staaten
auf Hochtouren vorbereitet. An ihrer Wiege stand die erfolgreiche
Erprobung von Kernwaffen im Bundesstaat Nevada, die von Truman als
"die USA-Visitenkarte für heute und für ewig" besungen
wurde.
Die
Potsdamer Konferenz wurde am 17. Juli 1945 eröffnet, und am
19. Juli schloss der USA-Generalstab die Arbeit am Projekt
JCS-1496 ab, mit dem die amerikanische Militärpolitik
grundlegend revidiert wurde. Ihr Hauptmotiv: Die beste
Verteidigung sind präventive Schläge gegen den potentiellen Gegner.
Nur die Vereinigten Staaten haben dabei zu bestimmen, wer dieser
"potentielle Gegner" ist, worin die Bedrohung besteht und
wie diese eliminiert werden kann.
Gerade
diese Doktrin könnte wohl als der Beginn des Kalten Krieges gelten?
Oder zumindest als ein Symbol des Kalten Krieges?
Wohl
doch nicht ganz so. Das Abgleiten zum Kalten Krieg war, wie auch die
Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, kein momentaner Akt. Ich
wiederhole: Bereits am 23. April 1945 war Truman bereit, der UdSSR
den Status eines Verbündeten abzuerkennen und das Land in den
Bereich der potentiellen Gegner der USA überzuführen. Nicht allen
ist die Tatsache bekannt, dass Politiker während der Potsdamer
Konferenz einen weiteren Versuch unternommen haben, die Sowjetunion
hinter dem Rücken der Generäle aus dem Krieg gegen Japan
auszuschließen. Die Politiker wollten die in Jalta abgestimmten
Veränderungen in der Einrichtung des Pazifikraums nach dem Krieg
unbedingt revidieren.
Washington
hatte seine Ansprüche, u. a. auf die Kurileninseln. Gesucht wurden
Kontakte mit Chang Kaishi, damit dieser die Mongolei nicht als einen
selbständigen Staat anerkennt. Moskau machte indessen die
Kriegserklärung gegen Japan von einer internationalen Anerkennung
der Mongolei abhängig. Uns gelang es, dieses Manöver Washingtons zu
vereiteln.
In
der Nacht zum 9. August überwand die Rote Armee den Fluss Amur und
nahm Kämpfe gegen die eine Million Mann starke Quangdong-Armee in
der Mandschurei auf. Der Geist der Alliiertengemeinschaft schien zu
triumphieren. Bis zur Kapitulation Japans blieben nur noch
dreieinhalb Wochen.
Nach
dem 20. August tauchte aber eine unter Beteiligung der
USA-Luftstreitkräfte zusammengestellte "Strategische Karte
einiger Industrieregionen Russlands und der Mandschurei" auf.
Das Dokument enthielt eine Liste von 15 sowjetischen Städten mit
erstrangigen Zielen und - ausgehend von den Erfahrungen Hiroshimas
und Nagasakis - Schätzungen der für deren Vernichtung nötigen
Atomsprengköpfe. Die Bezeichnung "Karte" ist da eher
formell. Es ging um einen Aufgabenplan von General Groves für die
Produktion und Anhäufung von Atombomben, die für eine Aggression
gegen die UdSSR bestimmt sein sollten. Der Unterton war klar:
Japan war nur ein Testgelände im Vorfeld eines geplanten
Atomwaffenangriffs auf die Sowjetunion.
So
kam der militaristische Rummel in Gang. Im September und Oktober 1945
wurden Beschlüsse angenommen, die die USA-Streitkräfte auf einen
"Erstschlag gegen den Ursprung einer Angriffsgefahr"
einprogrammierten. Ein besonderer Schwerpunkt wurde dabei auf den
Überraschungseffekt des Präventivschlags, auf einen "jähen
lähmenden Schlag" als "einzige Erfolgsgarantie"
gelegt. Im November legten die Stäbe eine "Studie" vor,
in der 20 sowjetische Städte als eventuelle Ziele eines
Atomwaffenangriffs genannt wurden. Dies musste nicht unbedingt
eine Antwort auf einen möglichen Angriff der Sowjetunion sein. Ein
Erstschlag käme in Frage, wenn "beim Feind Anzeichen dafür
ermittelt werden, dass er im Zuge seiner industriellen und
wissenschaftlichen Entwicklung die Fähigkeit erlangt, die
Vereinigten Staaten anzugreifen bzw. einen amerikanischen Angriff
abzuwehren".
Eine
Gruppe von Militärs unter Leitung Eisenhowers tüftelte am Plan
"Totality" herum, der einen umfassenden Krieg gegen die
Sowjetunion vorsah und auf eine Vernichtung des russischen Staates
gerichtet war. Ebenfalls Ende 1945 wurden systematische
amerikanische Spionageflüge über dem sowjetischen Territorium
aufgenommen. Zunächst drangen die Flugzeuge ohne
Erkennungszeichen in unseren Luftraum ein, einschließlich des Raums
über Moskau, später flogen sie eine Zeit lang unter britischer
Flagge. 50 Jahre später gab der Leiter des Luftaufnahmen-Projekt
offen zu, dass die amerikanischen Pläne eines Krieges gegen die
UdSSR ohne diese flagrante Verletzung des Völkerrechts nicht einmal
des Papiers wert gewesen wären, auf dem sie geschrieben wurden.
Darauf angesprochen, ob die Sowjetunion Aufklärungsflüge über dem
Territorium der Vereinigten Staaten vorgenommen hatte, gab der
General eine eindeutige und klare Antwort: "Nein".
In
dieser Atmosphäre fand im Dezember 1945 eine Beratung der
Außenminister der vier Mächte statt. Im Rahmen dieses Treffens
führte USA-Außenamtschef Bearns ein ausführliches Gespräch mit
Stalin. Nach seiner Rückkehr in die USA wandte sich Bearns am
30. Dezember mit einer Ansprache an seine Landsleute. Nach den
Verhandlungen in Moskau sei er mehr denn je von der Möglichkeit
eines "Friedens auf der Grundlage von Gerechtigkeit und
Weisheit" überzeugt.
Truman
rief Bearns zu sich. Am 5. Januar 1946 fand zwischen dem Präsidenten
und dem Außenamtschef ein "prinzipielles Gespräch" statt.
Wir brauchen keine Kompromisse, betonte Truman, wir haben eigene
Aufgaben und Ziele, und müssen resolut auf die "pax
americana" hinarbeiten. Der 5. Januar 1946 kann auch, wenn
auch mit gewissen Abstrichen, als der Tag gelten, an dem der Kalte
Krieg erklärt wurde. Es wäre wohl am Platze, hinzuzufügen, wie
Truman diese Betätigung auslegte. Nach seinen Worten sei der Kalte
Krieg eben ein Krieg, der mit anderen Mitteln geführt wird.
Daraus
ergibt sich eine natürliche Frage: Stellte die UdSSR in der Tat eine
Bedrohung für die "demokratische Welt" dar? Oder musste
diese Bedrohung ausgedacht werden, um das nukleare Wettrüsten zu
rechtfertigen?