Offener Brief von Dr. Günter Rexilius, Dipl.-Psych. Mönchengladbach, Ausdruck des noch hilflosen Nichteinverständnisses der Vielen mit dem aktuellen Kurs, in den eine verantwortungslose Politik uns immer tiefer hineinreitet. Ein Appell für Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit
Die täglichen Emails zur Lage in der Welt haben mich bewogen, eine Bestandaufnahme zu formulieren, um die eigene Wut und Ohnmacht eine wenig los zu werden. Sie ist entstanden, bevor ich das bemerkenswerte Interview in der Tageszeitung "junge welt" am 13.9.2014 mit Willy Wimmer gelesen und am 14.9. in 3sat die Vorstellung von Volker Pispers gesehen und gehört habe - beide haben mich überzeugt, meine Überlegungen öffentlich zu machen. Erschreckend fand ich die Erkenntnis, dass ein Kabarettist eine radikal-treffende Analyse der herrschenden Zustände präsentiert, wie sie von keiner Partei, keiner Organisation, keiner Vereinigung o. ä. in der letzten Zeit zu hören oder zu lesen war. Ich meine, seine Einschätzung "Kabarett ist ein Ort, an dem man sich die Kritik an seinem Lebenswandel genauso folgenlos um die Ohren schlagen läßt wie in der Kirche" ist auch eine Aufforderung zum Handeln.
Kurze/politische Bestandsaufnahme mit praktischen Folgen
Die meisten Menschen wollen nicht in Kriege hineingezogen werden, die dann auch noch in ihrem Namen geführt werden. Die meisten Menschen wollen nicht, dass ihre Freiheit am Hindukusch oder an der russischen Grenze in Osteuropa verteidigt wird. Kaum jemand wünscht, dass für ihren/seinen materiellen Wohlstand Bodenschätze oder anderer natürlicher Reichtum, der Völkern oder Nationen irgendwo auf dem Globus gehört, mit Waffengewalt geraubt werden. Kaum jemand befürwortet die Produktion von Waffen und Waffensystemen. Sehr wenige sind dafür, dass Waffen exportiert und mit ihnen ganze Völker ausgerottet oder die europäischen Grenzen gegen Menschen gesichert werden, die um Einlass bitten, hungern und dursten, traumatisiert und hoffnungslos sind. Die meisten Menschen in Deutschland, in Europa, in der Ukraine, in Gaza, auch in Israel, in Syrien und wo immer, wollen in Frieden und Sicherheit und ohne Angst leben.
Die meisten Menschen wollen auch ernst genommen und respektiert werden. Sie wollen, dass ihre Wünsche nach einem friedlichen und angstfreien Leben erfüllt werden. Sie erwarten, dass die Gesellschaft jedem Menschen ein würdevolles Leben sichert, sozial gerecht ist und kein Kind systematisch ausschließt oder benachteiligt. Und sie fürchten sich vor einer Welt, in der Gift und andere Schadstoffe ihre Gesundheit ruinieren und die Natur, auf deren Wohlwollen sie angewiesen sind, zerstört. Diese und andere bedrohliche Szenarien aber drängen sich mit jedem Tag massiver und bedrohlicher in unseren Alltag, in unser Leben und das unserer Familien, unserer Kinder. Viele Menschen fühlen sich ohnmächtiger und hilfloser denn je. Und viele machen sich bemerkbar, schreiben und unterstützen Appelle, Leserbriefe, Verlautbarungen. Die einschlägigen Internetseiten vieler Verbände und Vereine und NGOs sind voller Äußerungen besorgter Mitmenschen.
Ihre ganz banalen weil lebensnahen Anliegen richten sich mit besonderem Nachdruck an die gewählten PolitikerInnen, die in Parlamenten und Regierungen sitzen. Und in jeder neuen Wahlperiode machen die meisten Menschen die gleichen Erfahrungen: Ihre Anliegen werden nicht nur nicht ernst genommen, ihnen wird demonstriert, dass Verlogenheit und Wortbruch die vorherrschenden Charakteristika der politischen Klasse geworden sind. Nein, man muss es noch deutlicher sagen: In den letzten zwanzig Jahren ist dieses politische Handlungsmuster zum bestimmenden Prinzip ihrer Politik geworden. Die Hoffnung, dass Nachkriegszeit und europäische Integration eine Zivilgesellschaft geschaffen haben könnten, die durch Friedfertigkeit, demokratisches Selbstverständnis und von einem universellen Gerechtigkeitsverständnis geprägt ist, hat sich, spätestens mit Beginn des letzten Balkankrieges, verflüchtigt.
Meinungen, Vorstellungen, Wünsche, Bedürfnisse des weitaus größten Teils der Bevölkerungen spielen bei politischen Planungen und Entscheidungen nur noch eine plakative Rolle. Politik hat sich von den Menschen, deren Interessen und Lebensbedürfnisse sie vertreten soll, gelöst. Wir erleben eine Eskalation der Konfliktszenarien, an der EU und Nato offensiv und entscheidend beteiligt sind: In allen Krisenherden haben ihre militärischen, geheimdienstlichen und aufrüstenden Aktivitäten dazu beigetragen, Situationen zu schaffen, auf die dann mit mehr oder weniger lautem Säbelrasseln reagiert werden kann – sozusagen eine politisch durchkomponierte Self-fulfilling Prophecy, egal ob im Nahen Osten, in der Ukraine, in Syrien, in Libyen, in Afghanistan, im Irak und und... Wer etwa in Bezug auf den sog. Ukraine-Konflikt die Nato-Landkarte von vor 20 Jahren mit der heutigen vergleicht, bekommt einen erschreckenden Eindruck von der konflikttreibenden strategischen Inszenierung gegen Russland. Putin hin, Putin her – europäische und Nato-Politik haben sich in einem erschreckenden, bedrohlichen, beängstigenden Ausmaß militarisiert, die Rolle, die EU und Nato in der Ukraine und an vielen anderen Orten waffentechnisch, geheimdienstlich und personell spielen, setzt den kalten Krieg fort und forciert den heißen.
Wenn die Widersprüche zwischen politischem Handeln und Meinung und Wollen der meisten Menschen sich immer weiter zuspitzen, ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr ausreicht, Appelle zu verfassen und Artikel zu schreiben. Wer sie täglich liest, spürt vielleicht, wie beklommene Gefühle in seinen Eingeweiden hochkriechen, weil mit jeder Meinungsäußerung gewisser wird: Kein Wort, kein Satz, kein Kommentar im Radio oder Interview im Fernsehen, ändert etwas an dem Horrorszenario, das vor unseren Augen und bei unserem vollem Bewusstsein mit immer größerem Tempo inszeniert wird. Die Zeit der Worte, der gepflegten und vielleicht auch engagierten Diskurse, ist vorbei. Nein, Steine und Molotowcocktails werfen wollen die meisten von uns nicht. Aber wir müssen über angemessene Handlungsmodelle nicht nur nachdenken, wir müssen sie entwickeln, um aufzuhalten, was wie eine immer bedrohlicher werdende Welle über uns hinweg schwappt, wie ein kriegerisch-gewalttätiger Tsunami.
Es gibt keine Hoffnung mehr, dass über politische Institutionen und Gremien Veränderungen möglich werden könnten, die einen Mehrheitswillen umsetzen. Die parlamentarische Demokratie hat abgewirtschaftet, sich selbst ad absurdum geführt, indem die politisch Verantwortlichen ihren Lebensnerv, die Grundlage ihrer Existenzberechtigung, systematisch zerstört haben: Das Vertrauen, die gewählten „Volksvertreter“ könnten sich ihren Wählern verpflichtet fühlen, ihre Interessen im Parlament vertreten und ihre Versprechen vor der Wahl halten, ist aufgebraucht. Entmündigende Absurditäten wie Fraktionszwang, oder die gerade bei lebenswichtigen Themen geheimen Beratungen und Entscheidungen hinter verschlossenen Türen ohne öffentliche Kontrolle, die demokratisches Selbstverständnis verhöhnen, oder der Diebstahl von Hunderten von Milliarden an Steuergeldern im Zuge der sog. Finanzkrise, um Banken und ihre Bosse und Manager immer reicher und verantwortungsloser zu machen, oder die vielfältigen Formen der korrupten Dienstbarkeit von PolitikerInnen für mächtige Gruppeninteressen; oder die Privatisierung von Gesetzgebungen, die mehr und mehr von fürstlich entlohnten Lobbyisten verfasst werden – all diese und viele andere Knebelungen demokratischer Grundsätze demonstrieren eine so infame Gleichgültigkeit gegenüber den meisten Menschen, dass Demokratie zu einer scheinheiligen Phrase verkommen ist. Ein Hoffnungsschimmer, sie könnte irgendwie runderneuert werden, ist nicht zu sehen.
Wie dringend eine Veränderung unserer Handlungsmuster ist, machen die täglichen Verlautbarungen der sog. „politisch Verantwortlichen“ deutlich: Frau Merkel und Frau von der Leyen treiben, unterstützt von Herrn Gabriel, die militärisch-kriegerischen Aktivitäten immer weiter voran, einschließlich der Waffenlieferungen, die wie Öl ins Feuer der Konflikte wirken; den politischen Parteien in Deutschland und anderswo fehlt Bereitschaft oder Wille, gegen Entmündigung und Kriegstreiberei aufzustehen; die neue EU-Außenbeauftragte strotzt vor Dummheit, wie ihre ersten öffentlichen Äußerungen zur Ukraine zeigen, und wird nachplappern, was die wollen, die in der EU mächtig sind, also „das Sagen haben“; die Nato rüstet weiter auf und lässt sich von polnischen und baltischen ScharfmacherInnen aufhetzen, deren Neurosen und Ranküne zu einer Bedrohung für uns alle werden; Katar, Saudi-Arabien und andere arabische Unterstützer des IS werden weiter hofiert und mit jeder gewünschten Waffe versorgt; mit CETA und TTIP verkauft die Politik sich endgültig und unumkehrbar an ökonomische Profiteure, Spekulanten und Schmarotzer und erstickt die letzten demokratischen Fünkchen; usw. – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Dieser Realität ins Gesicht blicken heißt, nicht länger an Wahlurnen eine pseudodemokratische Attrappe zu stützen. Es ist an der Zeit, mit den Füßen oder mit Taten abzustimmen: millionenfach, weltweit, unermüdlich. Wir brauchen nicht nur Demos mal zu diesem oder jenem Problem – sie werden von den politischen und ökonomischen Drahtziehern belächelt oder gleich ganz ignoriert, ihre Wirkung gleicht der eines David, der mit der Wasserpistole sein Leben verteidigt. Wir brauchen etwas einer Steinschleuder Vergleichbares, zeitgemäß aber wirkungsvoll, damit wir uns gegen diesen Goliath wehren und, das Wichtigste überhaupt, damit unsere Kinder noch überleben können. Wir brauchen eine Bewegung, die täglich und überall präsent ist, bis wir alle in dieser Welt friedlich, gerecht und geschwisterlich leben können. Unsere Stärken sind unsere Utopien und Hoffnungen und die große Zahl derer, die unterdrückt, ausgebeutet und ausgenutzt werden, die leiden und sich ein zufriedenes, würdevolles Leben wünschen.
Vielleicht kann das Internet unsere „Waffe“ sein, das heute bis in den letzten Winkel hinter dem Horizont reicht. Es könnte die moderne Steinschleuder werden: Ein Aufruf weltweit, damit vielleicht viele Menschen zu reagieren beginnen, vielleicht erst einmal nur zehn Minuten demonstrativ stehen und schweigen; jeden Tag wiederholt, mit Ausdauer aber Überzeugung, dass es funktionieren könnte. Und wenn jeden Tag nur tausend Menschen mehr mitmachen, könnte innerhalb kurzer Zeit eine Massenbewegung entstehen, die zu ignorieren nicht mehr möglich ist. Bis Millionen Menschen auf der ganzen Welt alles lahmlegen, was ihnen schadet und sie leiden lässt.
Mag sein, dass die Idee naiv ist, aber es ist eine. Ist ja auch egal, denn klar ist: Wir brauchen, nicht übermorgen sondern heute, Initiativen, Aktionen, Eingriffe, Einmischungen mit Tiefen- und Breitenwirkung. Und jetzt kommt ein gefährliches Zitat aus der Schmuddelkinder-Ecke, von Ulrike Meinhoff und deshalb angesichts des gegenwärtig düster inszenierten Terrorwahns besonders verdächtig und gegen die guten Sitten des demokratischen Schein-Dialogs verstoßend – aber so verdammt wahr und zeitgemäß: „Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen. “
Wenn wir einfach weitermachen, unzufrieden und voller Wut im Bauch, aber die Dynamik der Politik und der Ökonomie, die dabei sind, unsere Lebensgrundlagen zu vernichten, nicht mit den gewaltfreien Gewaltmitteln (?), die wir zur Verfügung haben, mit unerbittlichem Widerstand, unterbrechen, geben wir uns und die Kinder, denen wir das Leben geschenkt haben, auf. Es gibt keinen Gandhi mehr, aber es gibt eine unüberschaubare Fülle von Menschen, die nicht korrumpierbar und voller Tatendrang sind. Sie müßten zusammenfinden. Vielleicht sogar, ganz sollten wir diese Hoffnung nicht aufgeben, zu einer demokratischen Renaissance, die mit einer „Partei für Frieden und Gerechtigkeit“ beginnen könnte. Frieden und Gerechtigkeit: Diese beiden Ziele sind so einfach wie umfassend, verkümmern aber in irgendwelchen Floskelspeichern, praktisch-politisch werden sie bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt, entstellt. Aber sie sind die Grenzsteine für eine Welt, die den Fähigkeiten des homo sapiens angemessen wäre. Vielleicht würden sie auch den Unzähligen, die mutlos, verzweifelt, resigniert und deshalb wie gelähmt sind, Hoffnung machen und sie zum Handeln ermuntern.
(Dr. Günter Rexilius, Mönchengladbach)
Dr. Günter Rexilius Dipl. -Psych., Priv. -Doz. Psychol. Psychotherapeut
Kurze/politische Bestandsaufnahme mit praktischen Folgen
Die meisten Menschen wollen nicht in Kriege hineingezogen werden, die dann auch noch in ihrem Namen geführt werden. Die meisten Menschen wollen nicht, dass ihre Freiheit am Hindukusch oder an der russischen Grenze in Osteuropa verteidigt wird. Kaum jemand wünscht, dass für ihren/seinen materiellen Wohlstand Bodenschätze oder anderer natürlicher Reichtum, der Völkern oder Nationen irgendwo auf dem Globus gehört, mit Waffengewalt geraubt werden. Kaum jemand befürwortet die Produktion von Waffen und Waffensystemen. Sehr wenige sind dafür, dass Waffen exportiert und mit ihnen ganze Völker ausgerottet oder die europäischen Grenzen gegen Menschen gesichert werden, die um Einlass bitten, hungern und dursten, traumatisiert und hoffnungslos sind. Die meisten Menschen in Deutschland, in Europa, in der Ukraine, in Gaza, auch in Israel, in Syrien und wo immer, wollen in Frieden und Sicherheit und ohne Angst leben.
Die meisten Menschen wollen auch ernst genommen und respektiert werden. Sie wollen, dass ihre Wünsche nach einem friedlichen und angstfreien Leben erfüllt werden. Sie erwarten, dass die Gesellschaft jedem Menschen ein würdevolles Leben sichert, sozial gerecht ist und kein Kind systematisch ausschließt oder benachteiligt. Und sie fürchten sich vor einer Welt, in der Gift und andere Schadstoffe ihre Gesundheit ruinieren und die Natur, auf deren Wohlwollen sie angewiesen sind, zerstört. Diese und andere bedrohliche Szenarien aber drängen sich mit jedem Tag massiver und bedrohlicher in unseren Alltag, in unser Leben und das unserer Familien, unserer Kinder. Viele Menschen fühlen sich ohnmächtiger und hilfloser denn je. Und viele machen sich bemerkbar, schreiben und unterstützen Appelle, Leserbriefe, Verlautbarungen. Die einschlägigen Internetseiten vieler Verbände und Vereine und NGOs sind voller Äußerungen besorgter Mitmenschen.
Ihre ganz banalen weil lebensnahen Anliegen richten sich mit besonderem Nachdruck an die gewählten PolitikerInnen, die in Parlamenten und Regierungen sitzen. Und in jeder neuen Wahlperiode machen die meisten Menschen die gleichen Erfahrungen: Ihre Anliegen werden nicht nur nicht ernst genommen, ihnen wird demonstriert, dass Verlogenheit und Wortbruch die vorherrschenden Charakteristika der politischen Klasse geworden sind. Nein, man muss es noch deutlicher sagen: In den letzten zwanzig Jahren ist dieses politische Handlungsmuster zum bestimmenden Prinzip ihrer Politik geworden. Die Hoffnung, dass Nachkriegszeit und europäische Integration eine Zivilgesellschaft geschaffen haben könnten, die durch Friedfertigkeit, demokratisches Selbstverständnis und von einem universellen Gerechtigkeitsverständnis geprägt ist, hat sich, spätestens mit Beginn des letzten Balkankrieges, verflüchtigt.
Meinungen, Vorstellungen, Wünsche, Bedürfnisse des weitaus größten Teils der Bevölkerungen spielen bei politischen Planungen und Entscheidungen nur noch eine plakative Rolle. Politik hat sich von den Menschen, deren Interessen und Lebensbedürfnisse sie vertreten soll, gelöst. Wir erleben eine Eskalation der Konfliktszenarien, an der EU und Nato offensiv und entscheidend beteiligt sind: In allen Krisenherden haben ihre militärischen, geheimdienstlichen und aufrüstenden Aktivitäten dazu beigetragen, Situationen zu schaffen, auf die dann mit mehr oder weniger lautem Säbelrasseln reagiert werden kann – sozusagen eine politisch durchkomponierte Self-fulfilling Prophecy, egal ob im Nahen Osten, in der Ukraine, in Syrien, in Libyen, in Afghanistan, im Irak und und... Wer etwa in Bezug auf den sog. Ukraine-Konflikt die Nato-Landkarte von vor 20 Jahren mit der heutigen vergleicht, bekommt einen erschreckenden Eindruck von der konflikttreibenden strategischen Inszenierung gegen Russland. Putin hin, Putin her – europäische und Nato-Politik haben sich in einem erschreckenden, bedrohlichen, beängstigenden Ausmaß militarisiert, die Rolle, die EU und Nato in der Ukraine und an vielen anderen Orten waffentechnisch, geheimdienstlich und personell spielen, setzt den kalten Krieg fort und forciert den heißen.
Wenn die Widersprüche zwischen politischem Handeln und Meinung und Wollen der meisten Menschen sich immer weiter zuspitzen, ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr ausreicht, Appelle zu verfassen und Artikel zu schreiben. Wer sie täglich liest, spürt vielleicht, wie beklommene Gefühle in seinen Eingeweiden hochkriechen, weil mit jeder Meinungsäußerung gewisser wird: Kein Wort, kein Satz, kein Kommentar im Radio oder Interview im Fernsehen, ändert etwas an dem Horrorszenario, das vor unseren Augen und bei unserem vollem Bewusstsein mit immer größerem Tempo inszeniert wird. Die Zeit der Worte, der gepflegten und vielleicht auch engagierten Diskurse, ist vorbei. Nein, Steine und Molotowcocktails werfen wollen die meisten von uns nicht. Aber wir müssen über angemessene Handlungsmodelle nicht nur nachdenken, wir müssen sie entwickeln, um aufzuhalten, was wie eine immer bedrohlicher werdende Welle über uns hinweg schwappt, wie ein kriegerisch-gewalttätiger Tsunami.
Es gibt keine Hoffnung mehr, dass über politische Institutionen und Gremien Veränderungen möglich werden könnten, die einen Mehrheitswillen umsetzen. Die parlamentarische Demokratie hat abgewirtschaftet, sich selbst ad absurdum geführt, indem die politisch Verantwortlichen ihren Lebensnerv, die Grundlage ihrer Existenzberechtigung, systematisch zerstört haben: Das Vertrauen, die gewählten „Volksvertreter“ könnten sich ihren Wählern verpflichtet fühlen, ihre Interessen im Parlament vertreten und ihre Versprechen vor der Wahl halten, ist aufgebraucht. Entmündigende Absurditäten wie Fraktionszwang, oder die gerade bei lebenswichtigen Themen geheimen Beratungen und Entscheidungen hinter verschlossenen Türen ohne öffentliche Kontrolle, die demokratisches Selbstverständnis verhöhnen, oder der Diebstahl von Hunderten von Milliarden an Steuergeldern im Zuge der sog. Finanzkrise, um Banken und ihre Bosse und Manager immer reicher und verantwortungsloser zu machen, oder die vielfältigen Formen der korrupten Dienstbarkeit von PolitikerInnen für mächtige Gruppeninteressen; oder die Privatisierung von Gesetzgebungen, die mehr und mehr von fürstlich entlohnten Lobbyisten verfasst werden – all diese und viele andere Knebelungen demokratischer Grundsätze demonstrieren eine so infame Gleichgültigkeit gegenüber den meisten Menschen, dass Demokratie zu einer scheinheiligen Phrase verkommen ist. Ein Hoffnungsschimmer, sie könnte irgendwie runderneuert werden, ist nicht zu sehen.
Wie dringend eine Veränderung unserer Handlungsmuster ist, machen die täglichen Verlautbarungen der sog. „politisch Verantwortlichen“ deutlich: Frau Merkel und Frau von der Leyen treiben, unterstützt von Herrn Gabriel, die militärisch-kriegerischen Aktivitäten immer weiter voran, einschließlich der Waffenlieferungen, die wie Öl ins Feuer der Konflikte wirken; den politischen Parteien in Deutschland und anderswo fehlt Bereitschaft oder Wille, gegen Entmündigung und Kriegstreiberei aufzustehen; die neue EU-Außenbeauftragte strotzt vor Dummheit, wie ihre ersten öffentlichen Äußerungen zur Ukraine zeigen, und wird nachplappern, was die wollen, die in der EU mächtig sind, also „das Sagen haben“; die Nato rüstet weiter auf und lässt sich von polnischen und baltischen ScharfmacherInnen aufhetzen, deren Neurosen und Ranküne zu einer Bedrohung für uns alle werden; Katar, Saudi-Arabien und andere arabische Unterstützer des IS werden weiter hofiert und mit jeder gewünschten Waffe versorgt; mit CETA und TTIP verkauft die Politik sich endgültig und unumkehrbar an ökonomische Profiteure, Spekulanten und Schmarotzer und erstickt die letzten demokratischen Fünkchen; usw. – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Dieser Realität ins Gesicht blicken heißt, nicht länger an Wahlurnen eine pseudodemokratische Attrappe zu stützen. Es ist an der Zeit, mit den Füßen oder mit Taten abzustimmen: millionenfach, weltweit, unermüdlich. Wir brauchen nicht nur Demos mal zu diesem oder jenem Problem – sie werden von den politischen und ökonomischen Drahtziehern belächelt oder gleich ganz ignoriert, ihre Wirkung gleicht der eines David, der mit der Wasserpistole sein Leben verteidigt. Wir brauchen etwas einer Steinschleuder Vergleichbares, zeitgemäß aber wirkungsvoll, damit wir uns gegen diesen Goliath wehren und, das Wichtigste überhaupt, damit unsere Kinder noch überleben können. Wir brauchen eine Bewegung, die täglich und überall präsent ist, bis wir alle in dieser Welt friedlich, gerecht und geschwisterlich leben können. Unsere Stärken sind unsere Utopien und Hoffnungen und die große Zahl derer, die unterdrückt, ausgebeutet und ausgenutzt werden, die leiden und sich ein zufriedenes, würdevolles Leben wünschen.
Vielleicht kann das Internet unsere „Waffe“ sein, das heute bis in den letzten Winkel hinter dem Horizont reicht. Es könnte die moderne Steinschleuder werden: Ein Aufruf weltweit, damit vielleicht viele Menschen zu reagieren beginnen, vielleicht erst einmal nur zehn Minuten demonstrativ stehen und schweigen; jeden Tag wiederholt, mit Ausdauer aber Überzeugung, dass es funktionieren könnte. Und wenn jeden Tag nur tausend Menschen mehr mitmachen, könnte innerhalb kurzer Zeit eine Massenbewegung entstehen, die zu ignorieren nicht mehr möglich ist. Bis Millionen Menschen auf der ganzen Welt alles lahmlegen, was ihnen schadet und sie leiden lässt.
Mag sein, dass die Idee naiv ist, aber es ist eine. Ist ja auch egal, denn klar ist: Wir brauchen, nicht übermorgen sondern heute, Initiativen, Aktionen, Eingriffe, Einmischungen mit Tiefen- und Breitenwirkung. Und jetzt kommt ein gefährliches Zitat aus der Schmuddelkinder-Ecke, von Ulrike Meinhoff und deshalb angesichts des gegenwärtig düster inszenierten Terrorwahns besonders verdächtig und gegen die guten Sitten des demokratischen Schein-Dialogs verstoßend – aber so verdammt wahr und zeitgemäß: „Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen. “
Wenn wir einfach weitermachen, unzufrieden und voller Wut im Bauch, aber die Dynamik der Politik und der Ökonomie, die dabei sind, unsere Lebensgrundlagen zu vernichten, nicht mit den gewaltfreien Gewaltmitteln (?), die wir zur Verfügung haben, mit unerbittlichem Widerstand, unterbrechen, geben wir uns und die Kinder, denen wir das Leben geschenkt haben, auf. Es gibt keinen Gandhi mehr, aber es gibt eine unüberschaubare Fülle von Menschen, die nicht korrumpierbar und voller Tatendrang sind. Sie müßten zusammenfinden. Vielleicht sogar, ganz sollten wir diese Hoffnung nicht aufgeben, zu einer demokratischen Renaissance, die mit einer „Partei für Frieden und Gerechtigkeit“ beginnen könnte. Frieden und Gerechtigkeit: Diese beiden Ziele sind so einfach wie umfassend, verkümmern aber in irgendwelchen Floskelspeichern, praktisch-politisch werden sie bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt, entstellt. Aber sie sind die Grenzsteine für eine Welt, die den Fähigkeiten des homo sapiens angemessen wäre. Vielleicht würden sie auch den Unzähligen, die mutlos, verzweifelt, resigniert und deshalb wie gelähmt sind, Hoffnung machen und sie zum Handeln ermuntern.
(Dr. Günter Rexilius, Mönchengladbach)
Dr. Günter Rexilius Dipl. -Psych., Priv. -Doz. Psychol. Psychotherapeut
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