Sunday, March 10, 2019

Der Westen, Russland und die Krim – der ewige Zankapfel

Der Westen, Russland und die Krim – der ewige Zankapfel
Die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer, historischer Zankapfel und willkommener Aufhänger für die westlichen Macht- und Medieneliten, um gegen Russland vorzugehen – etwa im Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts.
Wohin westliche Doppelmoral und anti-russische Propaganda führen können, zeigte schon der Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie heute dominierten bereits damals "die Werte des Westens" bei seinen Macht- und Medieneliten – Selbstgerechtigkeit und Heuchelei.
von Stefan Korinth
Kommenden März jährt sich die Abspaltung der Krim von der Ukraine zum fünften Mal. Ein weiterer Jahrestag wird dann wohl deutlich weniger Beachtung finden: 160 Jahre vor der Krimkrise hatten westliche Großmächte Russland schon einmal den Krieg erklärt. Die Halbinsel im Schwarzen Meer wurde dabei zum Hauptschlachtfeld. Die damalige internationale Konfliktlage und die geopolitischen Interessengegensätze, die zum Krimkrieg führten, weisen beachtliche Parallelen zur derzeitigen Situation auf. Und auch die russophobe Propaganda im Westen folgte denselben Prinzipien wie heute.
Der Generalstabschef der britischen Armee, General Sir Nicholas Carter, während seiner Rede am 22. Januar 2018 beim Royal United Services Institute (RUSI).
Im März 1854 erklärten Großbritannien und Frankreich dem Russischen Reich den Krieg. Der folgende militärische Konflikt, der als Krimkrieg in die Geschichte einging, ist im Westen inzwischen fast völlig vergessen. Obwohl er doch mit seinen Hunderttausenden Todesopfern (1) der verlustreichste Krieg zwischen 1815 und 1914 war und wegen vieler technischer Neuerungen als erster "moderner Krieg" gilt.
In Russland erinnert man sich des Krimkriegs als einer von mehreren westlichen Invasionen, die im Gegensatz zu den anderen – in den Jahren 1812, 1918 und 1941 – zwar zu einer russischen Niederlage führte, aber gleichzeitig auch patriotischen Stolz auf den zähen Verteidigungskampf Sewastopols hervorbrachte (2). Fast vergessen ist jedoch überall, wie Akteure der westlichen Öffentlichkeit – vor allem die britische Presse – damals für den Krieg trommelten und ihr blutiges Ziel schließlich erreichten.
Krimkrieg knapp zusammengefasst
Ein kurzer Blick auf den Ablauf des Krieges: Im Streit über den Vertretungsanspruch der Christen im Heiligen Land, das damals unter osmanischer Herrschaft stand, hatte der russische Zar Nikolaus I. im Juli 1853 die Fürstentümer Moldau und Walachei, zwei osmanische Vasallenstaaten, besetzen lassen. Mit britischer Rückendeckung erklärte das Osmanische Reich daraufhin Russland den Krieg. Es war bereits der neunte russisch-türkische Krieg. 1854 traten Großbritannien und Frankreich auf osmanischer Seite in den Krieg ein. Später schlossen sich noch italienische Truppen aus Sardinien-Piemont an (3).
Nachdem der Zar seine Truppen aus den Fürstentümern zurückgezogen hatte, entschieden sich die Westmächte zur Invasion der Krim. Die Segelschiffe der russischen Schwarzmeerflotte hatten keine Chance gegen die dampfgetriebenen, teilweise schon gepanzerten Schlachtschiffe der Alliierten. Die russische Marine versenkte ihre eigenen Schiffe vor Sewastopol und blockierte damit die Hafeneinfahrt für den Feind. Auf der Krim besiegten die britisch-französisch-türkischen Invasionstruppen – heute übrigens allesamt NATO-Mitglieder – in mehreren Feldschlachten die russische Armee. Zudem belagerten sie die Garnisonstadt Sewastopol, bis diese, nach einem Jahr sturmreif geschossen, kapitulierte. Anfang 1856 schlossen die Kriegsparteien den Frieden von Paris. Russland musste die Krim und seine gesamte Schwarzmeerküste entmilitarisieren.
Medien werden zu Machtfaktor
Nicht nur wegen des Einsatzes von Schnellfeuergewehren, Dampfschiffen, Eisenbahnen und des massiven Trommelfeuers auf Sewastopol (4) gilt der Krimkrieg als erster militärischer Konflikt der Moderne. Auch die damals neuen Technologien der Telegrafie und Fotografie wurden eingesetzt. Medien in Frankreich und vor allem Großbritannien erzeugten massive öffentliche Aufmerksamkeit für den Krieg und wurden zu einem politischen Machtfaktor.
Große britische Zeitungen schickten Kriegsberichterstatter auf die Krim. Ihre Nachrichten und Bilder von der Front erreichten die Öffentlichkeit im damals unglaublich schnellen Tempo weniger Tage. Nachdem die Briten im April 1855 ein Unterwasserkabel von der Krim aufs bulgarische Festland verlegt hatten, kamen Meldungen sogar innerhalb weniger Stunden in London an.
Zwar produzierte der bekannte Pionier der Kriegsfotografie, der Brite Roger Fenton, im Auftrag der Regierung vor allem Propagandabilder. Doch die meisten anderen Korrespondenten wie etwa William Russell von der Timesberichteten durchaus kritisch über den miserablen Zustand der britischen Soldaten vor Ort. Wegen fehlender Winterkleidung und der katastrophalen sanitären und medizinischen Bedingungen starben rund 16.000 von ihnen fernab der Kampfhandlungen.
Die Macht der Medien war enorm. Der britische Kommandant Lord Raglan beschwerte sich sogar in mehreren Briefen bei seinem Kriegsminister, dass die Berichte englischer Zeitungen, die auch in St. Petersburg gelesen wurden, den russischen Befehlshabern nicht nur wichtige militärische Informationen zukommen ließen, sondern auch die Moral des Feindes stärkten.
Die Berichterstattung führte in Großbritannien zu einer großen Anzahl von Spenden für Hilfsfonds und zur Entstehung von Initiativen wie der der Krankenschwester Florence Nightingale. Und das war noch nicht alles: Die Macht der britischen Öffentlichkeit war damals so groß, dass im Januar 1855 sogar die britische Regierung wegen der publizistischen Kritik an den Missständen zurücktrat. "Es handelte sich um den ersten Krieg der Geschichte, in dem die öffentliche Meinung eine so bedeutende Rolle spielte", urteilt der englische Historiker Orlando Figes in seinem Buch über den Krieg (5).
Der Kreml am Roten Platz in Moskau
Medien als Hauptkriegstreiber
Doch die Medien waren keine humanitären Helfer, die nur das Wohl der Soldaten im Auge hatten. Zuvor hatten sie nämlich höchstselbst die Londoner Regierung und ebenjene Soldaten in den Krieg getrieben. Figes kommt zu dem bemerkenswerten Urteil: Mit dem Krimkrieg hatte zum ersten Mal in der Geschichte die Macht der Presse einen militärischen Konflikt ausgelöst.
Als Schuldige der jeweiligen Kriegsparteien nennt der Historiker für Russland und Frankreich deren autokratische Herrscher Nikolaus I. und Napoleon III. Aber mit Blick auf sein Heimatland identifiziert Figes tatsächlich die Medien als hauptverantwortliche Kriegstreiber. Der deutsche Historiker Jürgen Osterhammel urteilt in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts exakt genauso.
Zwar gab es auch in der Londoner Regierung kriegswillige Politiker wie den Innenminister Lord Palmerston, der nach dem Regierungssturz als neuer Premierminister den Krieg gegen Russland noch ausweiten wollte, doch habe sich dieser erst im Zusammenspiel mit den Medien durchsetzen können. Der Historiker Manfred Hildermeier schreibt: Palmerston und die britische Regierung "konnten sich auf eine öffentliche Meinung stützen, die ihren antirussischen Ressentiments freien Lauf ließ".
Dabei handelte es sich nicht nur um niveaulose Revolverblätter, sondern auch um die meinungsbildenden Leitmedien des damaligen Empire. Heute würde man sie wohl Qualitätszeitungen nennen. Neben eigenen Hetzkommentaren boten diese Gazetten auch immer wieder anonymen Scharfmachern ein Podium für deren anti-russische Tiraden.
Über viele Jahre hinweg hatten die Zeitungen eine anti-russische Stimmung aufgebaut, die erschreckende Parallelen zur heutigen Situation in der westlichen Medienlandschaft aufweist. Und selbst nach der Kapitulation Sewastopols hatte die Presse noch nicht genug und blies – letztlich vergeblich – zu einer Ausweitung des Krieges auf andere Teile Russlands.
Doch der Reihe nach.
Am 7. Dezember 2013 auf dem Kiewer Maidan Nesalezhnosti.
Unrealistische Ängste vor Russland schüren
Schon seit Ende der 1820er Jahre war in britischen Zeitungen häufiger von der russischen Bedrohung Indiens – der wichtigsten britischen Kolonie – die Rede. Orlando Figes schreibt:
Aber obwohl fast niemand in offiziellen britischen Kreisen glaubte, dass Russland eine ernste Bedrohung für Indien war, hielt dieser Umstand die russenfeindliche britische Presse nicht davon ab, solche Ängste zu schüren (…).
Die Zeitungen boten militärischen Falken wie George de Lacy Evans Bühnen, auf denen diese ohne jeden Beweis Schreckensszenarien über russische Invasionen konstruieren durften. Nicht von ungefähr erinnert dies an heutige "Warnungen" vor einer russischen Invasion im Baltikum, die gern von NATO-affinen Autoren vorgebracht werden. Auch anonyme Pamphletisten durften sich in den Zeitungen ausbreiten. Einer schrieb 1838 von "beispiellosen Aggressionen Russlands in alle Richtungen".
Anti-russische Lobbyisten, die meist auch den Freihandel befürworteten, warnten vor russischen Zöllen und dem Ausgreifen Russlands auf für die Briten wichtige Häfen und Überlandhandelswege und fanden so Gehör bei Unternehmern. Anspruchsvolle Zeitschriften der intellektuellen Kreise wie die Foreign Quarterly Review oder die British and Foreign Review berichteten so neben den Tageszeitungen ebenfalls immer russlandfeindlicher, wie der Wissenschaftler erklärt.
Vorbild für westliche Russophobie des 20. Jahrhunderts
Manche dieser Schriften erinnern an die Domino-Theorie aus dem Kalten Krieg. Generell prägten viele britische Gedanken des 19. Jahrhunderts die anglo-amerikanische Russophobie des 20. Jahrhunderts, erläutert Figes. Diese Erkenntnis lässt sich wohl mühelos auch auf das 21. Jahrhundert übertragen.
Das Klischee Russlands, das aus diesen überspannten Schriften hervorging, war das einer brutalen Macht, die von Natur aus aggressiv und expansionistisch, doch auch hinreichend verschlagen und betrügerisch war, um sich mit 'unsichtbaren Kräften' gegen den Westen zu verschwören und andere Gesellschaften zu infiltrieren.
Und täglich grüßt das Murmeltier. Aggressivität, Landhunger, Verschlagenheit – bis heute sind genau solche Russlandbilder in westlichen Medien dominant. Die Russophobie sei "das ausgeprägteste und hartnäckigste Element der britischen Einstellung zur Außenwelt gewesen", urteilt Figes weiter – wohlgemerkt über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Irrationale Ängste vor dem Zarenreich gehörten im British Empire zum journalistischen Alltag. Überall in Europa hätten vor allem Fantasien und Ängste die Einschätzung Russlands bestimmt.
EU-Ratspräsident Donald Tusk (rechts) im ukrainischen Parlament. (19. Februar 2019)
Zeitungen fordern Krieg
Gern agierten die englischen Zeitungen im Zusammenspiel mit bestimmten anti-russisch gesinnten Politikern. Der britische Istanbul-Gesandte und spätere Parlamentsabgeordnete David Urquhart hatte russische Diplomatendepeschen veröffentlicht, die er zuvor selbst gefälscht hatte. Diese ließen Russland in schlechtem Licht erscheinen. Die britische Presse habe die Fälschungen jedoch gern als authentisch anerkannt, berichtet der Historiker.
1836 schickte derselbe Urquhart aufständischen Tscherkessen, die in der Kaukasusregion gegen die russische Armee kämpften, ein britisches Schiff voller Waffen. Der Diplomat verletzte damit bewusst den Vertrag von Adrianopel, der es ausländischen Schiffen verbot, an der Ostküste des Schwarzen Meeres anzulegen. Er wollte einen Konflikt zwischen Großbritannien und Russland anzetteln, schreibt Figes.
Urquharts vorgesetzter Botschafter in Istanbul und der britische Außenminister hätten von dem Plan gewusst. Nachdem das englische Schiff namens Vixen gezielt die Konfrontation mit russischen Kreuzern gesucht hatte, wurde es – wie erwartet – von der russischen Marine aufgebracht. Die britische Presse rief empört zu einem Krieg gegen Russland auf.
Muslimische Rebellen gegen Russland bewaffnen und militärische Zwischenfälle im Schwarzen Meer provozieren? Es wirkt, als wären heutige NATO-Strategen beim British Empire in die Lehre gegangen. Parallelen zu den Kriegen in Afghanistan (1979 bis 1989) und Syrien (seit 2011) sowie zur kürzlichen Konfrontation in der Straße von Kertsch sind unverkennbar.
Doch zurück ins 19. Jahrhundert: Noch waren die britischen Zeitungen mit ihren Kriegsrufen nicht erfolgreich, doch das änderte sich Ende 1853.
Presse treibt Regierung in Krimkrieg
Der neunte russisch-türkische Krieg war bereits im Gange, als die russische Kriegsmarine im November 1853 ein osmanisches Flottengeschwader im Hafen der türkischen Schwarzmeerstadt Sinope zerstörte. Laut Figes ein normaler Kriegsakt. Doch die britische Presse verwandelte den Angriff sofort in eine "brutale Freveltat", ein "Gemetzel" und übertrieb maßlos bei der Zahl der getöteten Zivilisten. Sie wollte England in den Krieg hineinschreiben.
Die Times polterte: "Wir hielten es für unsere Pflicht, die Sache des Friedens aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, solange der Frieden sich mit der Ehre und Würde unseres Landes vereinbaren ließ (…), aber der Kaiser von Russland hat den Seemächten den Fehdehandschuh hingeworfen."
Im Chronicle war zu lesen: "Wir werden das Schwert ziehen, wenn wir es ziehen müssen, nicht nur um die Unabhängigkeit eines Verbündeten zu schützen, sondern auch um die Ambitionen und Intrigen eines Despoten zu durchkreuzen, dessen unerträgliche Anmaßung ihn zum Feind aller zivilisierten Nationen gemacht hat."
Auch die regionalen Zeitungen zogen nach. "Die Zeit scheint reif zum Handeln zu sein, wenn wir die bösen Pläne und Bemühungen Russlands vereiteln wollen", verkündete etwa der Sheffield and Rotherham Independent (6).
"Die Zeitungen grölen dauernd nach Einmischung"
Die britische Regierung dachte Figes zufolge im Dezember 1853 überhaupt nicht daran, sich in diesen Krieg ziehen zu lassen. (7) Auch Queen Victoria warnte. Doch russophobe Politiker erhöhten in Zusammenarbeit mit den Medien den Druck. Innenminister Lord Palmerston war zurückgetreten und rief nun gemeinsam mit den Journalisten nach Krieg. Außenminister Clarendon schwenkte auf diese Position ein, als er die öffentliche Mehrheitsmeinung wahrnahm.
Premierminister Lord Aberdeen, der die empfindliche Regierungskoalition aus Konservativen und Liberalen zusammenhalten wollte, klagte: "Ein englischer Minister muss die Zeitungen zufriedenstellen. (…) Die Zeitungen grölen dauernd nach Einmischung. Sie sind Schinder, und dazu machen sie auch die Regierung."
Pazifisten und andere Kriegsgegner wurden von der britischen Presse als "prorussische" Verräter geschmäht. Dies ging sogar so weit, dass der Morning Advertiser – eine Art Bild-Zeitung dieser Zeit – die Hinrichtung des gegen den Krieg eingestellten Prinz Albert forderte. Im Namen der Königin sprachen Premierminister Aberdeen und der Unterhausführer John Russell mit den Herausgebern aller großen Blätter. Figes schreibt:
Doch deren Antworten ließen kein Ende der Kampagne erhoffen: Die Herausgeber selbst hatten die Artikel gebilligt und sie in manchen Fällen sogar eigenhändig geschrieben (…).
Französische Presse zog mit
Auch in Frankreich forderten Zeitungen den kurz zuvor durch einen Staatsstreich zum Kaiser gewordenen Napoleon III. auf, militärisch gegen Russland vorzugehen. Besonders die katholische Presse tat sich – begründet durch ihre Feindschaft zur russischen Orthodoxie – dabei hervor.
Die Union franc-comtoise schrieb im Januar 1854: "Ein Krieg mit Russland ist bedauerlich, doch notwendig und unvermeidlich."
In der L'Impartial hieß es im selben Monat: "Falschheit in der Politik und Falschheit in der Religion – das verkörpert Russland. Seine Barbarei, die versucht, unsere Kultur nachzuäffen, weckt unser Misstrauen; sein Despotentum erfüllt uns mit Entsetzen. (…) Die Politik von Nikolaus hat in allen zivilisierten Staaten Europas einen Sturm der Entrüstung aufkommen lassen; dies ist die Politik der Vergewaltigung und Plünderung; es ist Banditentum in riesigem Maßstab."
Der Spectateur de Dijon rief zum "Heiligen Krieg" gegen Russland auf. Dort war weiter zu lesen:
Russland stellt eine besondere Gefahr für alle Katholiken dar. (…) Wir wissen, dass man in St. Petersburg davon träumt, dem Westen eine religiöse Autokratie aufzuerlegen. Dort hoffen sie, uns durch die grenzenlose Expansion ihrer Militärmacht zu ihrer Häresie bekehren zu können. Wenn sich Russland auf dem Bosporus festgesetzt hat, wird es Rom und Marseille gleichermaßen schnell erobern (8).
Ging es in der britischen Öffentlichkeit laut Figes damals um die Prinzipien von "Freiheit, Zivilisation und Freihandel" – heute würde man von "Freiheit, Demokratie und Menschenrechten" sprechen –, so warfen die Franzosen eher den Katholizismus und die Angst vor einer russischen Invasion in die propagandistische Waagschale.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier am 6. Februar 2019 während der wöchentlichen Kabinettssitzung im Kanzleramt in Berlin
Eroberer warnen vor Eroberern
Auch auf der französischen Seite des Ärmelkanals gab es Diplomaten, Militärs und Prediger, die in Pamphleten öffentlich auf den russischen Expansionismus schimpften; was wenige Jahrzehnte nach Napoleon Bonapartes gescheiterten Weltherrschaftsplänen schon eine satirische Note hat. Die Logik dieser Leute störte es auch nicht, dass Frankreich ausgerechnet dem Osmanischen Reich seit 1830 in einem grausamen Krieg Algerien entrissen hatte. Und nun warnte man vor einem russischen Autokraten und lebte doch selbst unter der Herrschaft eines putschenden Diktators – Bonapartes Neffen, Napoleon III.
Mehr Doppelmoral geht nicht? Warten Sie es ab. Die britischen Argumente kommen noch.
Der französische Diplomat Alexandre d'Hauterive schrieb:
In Zeiten des Friedens strebt Russland danach, nicht nur seine Nachbarn, sondern sämtliche Länder der Welt in einen Zustand der Verwirrung aus Misstrauen, Aufruhr und Zwietracht zu zwingen. (…) Russland bewegt sich nicht direkt auf sein Ziel zu (…), sondern es untergräbt die Grundlagen auf hinterhältigste Art.
Heute würde man von russischer Propaganda, hybrider Kriegführung und Wahlbeeinflussungskampagnen reden. Klar wird: Diese Propagandafiguren eines allmächtigen hinterlistigen Russlands sind schon sehr alt und existieren so lange, wie westliche Mächte Moskau als ernstzunehmenden Konkurrenten ihrer internationalen Machtansprüche wahrnehmen.
Frankreichs reale Interessen
Tatsächlich hatte Frankreich erhebliche militärisch-politische Interessen am Krimkrieg. Vor allem ging es darum, die eigene strategische Position im Mittelmeer zu sichern. Napoleon III. sah die Gefahr, dass Frankreich seinen Großmachtstatus verlieren könnte, wenn das Meer zwischen England und Russland aufgeteilt würde. Zudem wollte er die innere Unruhe nach seinem Putsch durch einen Krieg nach außen ablenken, wie er offenherzig schrieb. Außerdem hatte er vor, eine anglo-französische Allianz zu begründen, für die er einen gemeinsamen Feind benötigte.
Napoleon III. hatte die Haltung der Öffentlichkeit bei seinen politischen Handlungen stets mit im Blick. Jürgen Osterhammel charakterisiert ihn als "Hasardeur", der durch prestigeträchtige außenpolitische Manöver seine Popularität im Lande zu steigern versuchte. Und Napoleon III. wusste um die Macht der britischen Presse. Er kalkulierte deren Reaktion in seine internationalen Vorhaben ein.
Orlando Figes schreibt, laut dem Diplomaten Duc de Persigny war der französische Kaiser davon überzeugt, "dass die Entsendung der [französischen] Flotte die britische Russophobie ansprechen, den Beistand der bürgerlichen Presse hervorrufen und die eher vorsichtige Regierung Aberdeen zwingen werde, sich Frankreich anzuschließen".
Zum 5. Jahrestag des Beginns der Maidan-Proteste legen Menschen Blumen an einer Gedenktafel für die bei den Protesten getöteten Demonstranten ab. (Kiew, 21. November 2018)
England kämpft für "Gerechtigkeit"
Mit Lord Palmerston, der ein Jahr später Premierminister sein würde, gab es in Großbritannien ebenfalls einen Politiker, der die moderne Medienwelt verstanden hatte. Im Gegensatz zum konservativen Regierungschef Aberdeen hegte und pflegte Palmerston die Hauptstadtjournalisten. Er wusste außerdem, schon 160 Jahre vor der Erfindung von Twitter, dass es schlichte und laute Botschaften braucht, um in der Presse auf sich aufmerksam zu machen.
Vor allem gelang es ihm, seine Außenpolitik als gleichbedeutend mit dem imaginierten britischen Nationalcharakter darzustellen: freiheitsliebend, kühn, stolz, ritterlich und streitlustig in der Verteidigung der Schwachen. Im Parlament erklärte Palmerston einmal, es sei Englands wirkliche Politik, "Vorkämpfer von Recht und Gerechtigkeit" zu sein und "das Gewicht seiner moralischen Sanktion dort einzusetzen, (…) wo immer seiner Ansicht nach Unrecht begangen worden ist".
Wie heute: Westliche Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral
Darin kommt exakt jene unerträgliche Doppelmoral westlicher Macht- und Medieneliten zum Vorschein, die bis in die Jetzt-Zeit zu beobachten ist. Aus heutiger Sicht mag es zwar geradezu drollig erscheinen, wenn damals mit Großbritannien und Frankreich die beiden größten Imperial- und Kolonialmächte der Welt vor Expansionismus und militärischer Aggressivität eines anderen Reichs warnten. Doch so befremdlich ist das gar nicht, bedenkt man, dass die USA – das heutige Abbild des British Empire – gegenüber Russland auch weiterhin haargenau so verfahren.
Dabei bedurfte es auch im 19. Jahrhundert schon eines bemerkenswerten Maßes an Naivität oder Selbstbetrug, um zu glauben, dass britische Machteliten, die etwa in Nordamerika rund 150 Jahre lang die einheimischen Indianer vertrieben, versklavt und ermordet hatten und dort und anderswo nie vor Annexionen, Einmischungen und Massakern zurückgeschreckt hatten, sich mit dem Krimkrieg plötzlich aus Gerechtigkeitsgründen an die Seite eines unterdrückten Landes stellten – das Osmanische Reich –, das im Übrigen selbst ein mächtiges Imperium war.
Es genügt ein Blick in die Geschichte der britischen Überseegebiete und Kronkolonien. Von den Falkland-Inseln bis Hongkong, von Gibraltar bis Australien, von Virginia bis Südafrika: Nie hatte die aggressive Außenpolitik des British Empire irgendetwas mit Recht und Gerechtigkeit oder gar mit dem Schutz von Schwächeren zu tun.
OSZE: Anschuldigungen der Ukraine gegen Russland falsch - kein russisches Militär im Donbass (Archivbild)
Russen kritisierten Doppelstandards schon damals
Die westliche Doppelmoral erkannte der russische Historiker und Publizist Michail Pogodin bereits 1853. In einem Memorandum an den Zaren schrieb er:
Frankreich nimmt der Türkei Algerien weg, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum: Nichts davon stört das Machtgleichgewicht; doch wenn Russland die Moldau und die Walachei auch nur vorübergehend besetzt, ist das Gleichgewicht der Kräfte gestört. Frankreich besetzt Rom und bleibt dort mehrere Jahre lang in Friedenszeiten – das ist gar nichts, doch Russland braucht nur an die Besetzung Konstantinopels zu denken, und der Frieden von Europa ist bedroht. Die Engländer erklären den Chinesen den Krieg, die sie anscheinend beleidigt haben – niemand hat das Recht einzugreifen. Russland aber ist verpflichtet, Europa um Erlaubnis zu bitten, wenn es sich mit seinen Nachbarn streitet.
Auch das russische Zarenreich war ein Imperium, das Angriffskriege gegen Nachbarländer führte, um seine Interessen durchzusetzen, oder mit militärischen Interventionen – etwa in Ungarn 1849 – überkommene Feudalregime am Leben erhielt. Innenpolitisch handelte es sich um eine Diktatur mit Leibeigenschaft, massiven Repressionen und einer extrem konservativen Reichskirche. Der rücksichtslose, schlecht informierte Zar Nikolaus hatte mit seiner diktatorisch-religiösen Verbohrtheit erheblichen Anteil am Zustandekommen des Krimkriegs.
Doch hier geht es um die Heuchelei des Westens: eigene Interessen und Verbrechen zu verschweigen, kleinzureden oder ganz zu leugnen und gleichzeitig Russland moralisch zu verurteilen. Das Prinzip wurde also schon damals von hiesigen Macht- und Medieneliten angewandt – es dient bis heute einzig dazu, die Öffentlichkeit zu täuschen. Diese PR-Manöver waren in Zeiten wachsender öffentlicher Meinungsmacht notwendig geworden, um unredliche Politikziele zu rechtfertigen.

Deutschland und der holprige Weg zu einer neuen Weltordnung

"Solidarität der Lemminge": 

"Solidarität der Lemminge": Deutschland und der holprige Weg zu einer neuen Weltordnung
Lüders, Braml und Rahr (von links) während der Diskussion 
Die USA verlieren ihre Hegemonie, eine neue Weltordnung ist im Entstehen. Darüber herrschte bei einer vom Deutsch-Russischen Forum veranstalteten Diskussion Einigkeit. Kritisch bewerteten die Diskutanten vor allem die derzeitige Rolle Deutschlands und der EU.
Am Dienstagabend veranstaltete das Deutsch-Russische Forum in der Repräsentanz der Robert Bosch GmbH in Berlin-Charlottenburg eine Podiumsdiskussion zum Thema "Eine neue Weltordnung: Vom Ende amerikanischer Hegemonie". Mit dem Moderator Dr. Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) diskutierten der vor allem als Nahostexperte bekannte Michael Lüders und der Russlandspezialist Prof. Alexander Rahr.
Die Diskussion verlief alles andere als kontrovers und war dennoch spannend. Braml, der sich selbst als Transatlantiker outete, gab mit seinen einleitenden Bemerkungen die Richtung vor. Die bisherige Weltordnung sei am Zerfallen, das Ende der US-amerikanischen Hegemonie ein Problem, vor allem für die Deutschen. 
Michael Lüders zu Gast bei Anne Will: Zusammen mit Jan van Aken widerspricht er der westlichen Propaganda zu Syrien, jetzt wird er selbst zum Ziel von Propaganda-Maßnahmen; Berlin 9. April 2017.
Rahr erklärte, dass die Ordnung der Pariser Charta, in der die westlichen Werte von Demokratie und Liberalität als allgemeinverbindlich festgeschrieben wurden, an ihr Ende gelangt sei. Die Versuche des Westens, die eigene Ordnung auszubreiten, seien gescheitert. Ähnlich sah es Lüders, der insbesondere den Irakkrieg der USA 2003 und die Finanzkrise von 2008 als Zäsuren für das Ende der US-amerikanischen Hegemonie bezeichnete.
Die Diskutanten waren sich einig, dass sich eine neue, tatsächlich multipolare Welt bereits abzeichnet, in der China und Russland auf unterschiedliche Weise eine größere Rolle einfordern. Kritisch wurde in diesem Zusammenhang die Rolle der EU-Europäer bewertet, deren Reaktion auf den geopolitischen Wandel Lüders als hilflos beschrieb.
Lüders war es auch, der auf den Grund der gegenwärtigen Probleme in der internationalen Politik zu sprechen kam. Die USA setzten ausschließlich auf Druck, nicht auf Gespräche, um mit ihren Rivalen zu einem Übereinkommen zu gelangen. Die EU widersetze sich - wie im Iran-Konflikt - bestenfalls halbherzig, und spiele das Spiel der US-Amerikaner mit, anstatt souverän mit den Beteiligten nach Verständigungen zu suchen.
Rahr und Lüders gingen ausführlich auf die Rolle Russlands in der internationalen Politik ein. Rahr verwies auf die wiederholten Versuche der Russen, mit der EU zu einer Annäherung oder wenigstens Verständigung zu gelangen, die vom Westen allesamt herablassend zurückgewiesen worden seien. Er kritisierte dabei auch die Neigung der Russen, bisweilen die Welt wie im 19. Jahrhundert zu sehen. Den "Feind Russland" habe sich der Westen mit der NATO-Osterweiterung aber selbst geschaffen.
Rahr wies auch daraufhin, dass die anhaltende Neigung des Westens, sich als moralisch höherstehend zu sehen, eine Verständigung mit Russland und China erschwert. Die EU-Staaten und vor allem die Deutschen täten gut daran, sich auf ihre Interessen zu besinnen und sich mit allen Seiten ins Benehmen zu setzen.
Es sei im Interesse Deutschlands, zwischen den verschiedenen Vorstellungen innerhalb der EU bezüglich des Verhältnisses zu Russland und zu Nordamerika Kompromisse zu finden. Diese Frage lasse sich nicht verdrängen. Deutschland müsse sich um Äquidistanz bemühen, es brauche ein vernünftiges Verhältnis zu allen Akteuren.
Die deutsche Wirtschaft sei auf die Ressourcen Russlands angewiesen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel habe auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit ihrer Bemerkung, ob man Russland in die Arme Chinas treiben wolle, "einen phantastischen Satz" gesagt. Man müsse überlegen, ob man hier alles richtig mache.
Rahr sprach auch die offene Frage eines neuen Wettrüstens an. Deutschland müsse sich viel mehr Gedanken machen, damit es nicht zur Stationierung von Atomraketen in Mitteleuropa komme. "Wenn wir diese Situation verschlafen, sind wir wirklich Vasallen", so Rahr.
Michael Lüders allerdings bezweifelte, dass Politik und Medien in Deutschland derartige Fragen überhaupt noch rational diskutieren können. Auf die Frage des früheren WDR-Radiojournalisten Thomas Nehls, wie man das Mit-Zweierlei-Maß-Messen in den deutschen Medien überwinden könne, konstatierte Lüders vor allem in der Diskussion um Russland "Meinungskorsette", die nicht verlassen werden.
Es gebe eine "Bereitschaft zur Denunziation", denn wer sich für Ausgleich mit Russland einsetze und Verständnis für russische Positionen zeige, werde schnell disqualifiziert. Lüders sprach von einer Paradoxie der westlichen Wahrnehmung: Man glaube immer noch, "für das Wahre, Gute und Schöne" zu stehen und verorte Russland als "Hort des Bösen". Selbstkritik finde nicht statt. Er verwendete dafür den Begriff einer "Solidarität der Lemminge", die sich kollektiv in Richtung Abgrund bewegten.
Es gebe keinen Raum für eine wirkliche Debatte. In Medien und Politik gehe es um Scheindebatten, emotionale Themen und hochgejazzte Nebensächlichkeiten. Die eigentlich relevanten Fragen blieben ausgespart - und das nicht nur in der Außenpolitik. Wie unter diesen von Lüders überzeugend skizzierten deutschen Verhältnissen eine vernünftige außenpolitische Debatte zustande kommen soll - auf diese Frage hatten die Teilnehmer dieser anregenden Diskussionsrunde letztlich auch keine Antwort.