„Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“
Wie jede historische Erscheinung überhaupt, ist eine Nation und damit auch der Begriff von der Nation dem Gesetz der Veränderung unterworfen. Sie hat ihre Geschichte, ihren Anfang und ihr Ende. J. W. Dschugaschwili (1909?)
Begriffe sind historische Größen
Um auf einen aktuellen Konfliktraum Bezug zu nehmen: Die Vorfahren der heutigen Ukrainer und Belorussen etwa gehörten ursprünglich zur gleichen altrussischen Völkerschaft wie die der Russen. Nach dem Mongoleneinfall im 13. Jh. gelang es dem Großfürstentum Litauen, den westlichen Teil Rußlands mit dessen einstiger Hauptstadt Kiew zu erobern. Die dadurch bedingte mehrhundertjährige Isolierung der westlichen von den unter mongolisch-tatarische Abhängigkeit geratenen östlichen Russen bewirkte die Herausbildung zweier neuer ostslawischer Ethnien.
Während der Sowjet-Ära gehörte die Ukraine zur UdSSR, war eine autonome Sowjetrepublik und profitierte dadurch vom tatkräftigen Wirken des russischen Bevölkerungsanteils und von den Investitionen des Sowjetstaates in der Ukraine wie auch die Staatengemeinschaft vom Beitrag der Ukraine profitierte. Das Russische war die alle Sowjet -’Völker’ verbindende ‘National-’Sprache, neben den ebenfalls gelehrten und regional spezifisch zugelassenen ‘nationalen’ Amtssprachen. Ähnliches gilt bezogen auf das Englische etwa bis heute in Indien.
Die Zugehörigkeit zu ein und demselben ‘Staatswesen’ ist langfristig eine Voraussetzung für den Zusammenhalt und Bestand eines Ethnos. Dafür müssen weder etwaige Religionszugehörigkeit oder Religionslosigkeit noch die Sprache allen Angehörigen gemeinsam sein. Die Schweiz ist nur ein Beispiel für Sprachenvielfalt innerhalb einer ‘Nation’. China, Russland oder Indien sind Beispiele für vielsprachige, multiethnische Großnationen. Syrien war bis 2011 ein hervorragendes Beispiel für säkulare Multireligiosität innerhalb einer Nation.
Wird ein bereits konsolidiertes Volk für längere Zeit durch Staatsgrenzen getrennt, kann es aber, wie die Trennung der altrussischen Völkerschaft in Russen, Ukrainer und Belorussen zeigt, zur ethnischen Differenzierung kommen. Ähnliches galt auch für die beginnende Herausbildung einer eigenen Nationalität auf dem Boden der DDR. Wir hatten 1949 -1989 ein Volk, aber zwei deutsche Nationen.
Begriffe sind als Denkwerkzeuge interessengeleitet
Die Begriffe ‘Bevölkerung’, ‘Ethnos’, ‘Land’, ‘Volk’, ‘Nation’, ‘Staat’ werden manchmal nahezu synonym verwendet, sind aber hinsichtlich ihres Realitätsbezuges und in ihrer Aussagekraft deutlich von einander zu unterscheiden. Insbesondere handelt es sich bei den Termini ‘Volk und Nation’ um geopolitisch aufgeladene Begriffe. Wir müssen also unbedingt die Interessenlage klären, die der jeweiligen Begriffsverwendung zugrunde liegt.
Rechtsstaatlich-verfassungsrechtliche Begriffsfundierung
Die deutsche Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat und der Artikel 20 GG gilt unverändert. In diesem zentralen Verfassungsartikel heißt es in Abschnitt 2:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Die jüngste Äußerung des deutschen Bundespräsidenten Gauck nach dem BREXIT-Votum der Briten, demzufolge „nicht mehr die Eliten das Problem (sind), sondern die ‘Bevölkerungen’“, muss mit Bezug auf Artikel 20 GG entschieden hinterfragt werden. Der in Herrn Gaucks Worten zum Ausdruck kommende Demokratiebegriff ist nicht zuletzt auch durch die Vermeidung des Begriffes Volk oder Völker höchst fragwürdig. Sollten aus Sicht des Bundespräsidenten etwa nicht „die Völker“ der EU über wesentliche Belange des Zusammenlebens in ihrem Staatsgefüge entscheiden dürfen? Die angestrebte Vermeidung eines Parlamentsvotums über das TTIP lässt solches vermuten. Abgesehen davon mangelt es unserem obersten Repräsentant schon lange an der verfassungsrechtlich dem Amtsträger verordneten Zurückhaltung.
Der britische Regierungschef Cameron bekundete in seiner Ansprache nach dem Bekanntwerden des Mehrheitsvotums über die EU noch eindeutigen Respekt vor der demokratischen Entscheidung des britischen Volkes. Sein Rücktritt mag als folgerichtig gelten, da er nicht bereit war, dem Votum seines Volkes Folge zu leisten.
Politische Bedeutsamkeit des Begriffes „Volk“
Der Volksbegriff ist ein demokratischer Grundpfeiler. Er hat allerdings eine ethnologische und eine staatspolitische Bedeutung. Unter ethnologischem Gesichtspunkt definiert sich ein Volk durch seine ethnische Herkunft, seine Sprache, seine gemeinsame Geschichte und Kultur, seine Bräuche, seine typischen Charakterzüge. Er dient zur Unterscheidung. Als staatspolitische Größe ist das Volkin einer Demokratie der Souverän. Die Etymologie des im öffentlichen Diskurs so gewichtigen Wortes erklärt sich aus seiner griechisch zusammengesetzten Herkunft: ‘Demos’ heißt Volk und ‘kratein’ herrschen, demnach ist die Demokratie eine Volksherrschaft. Der Souverän, das Volk, die mündigen Staatsbürger eines gegebenen, demokratisch verfassten Staates stellen die Regeln für das Zusammenleben auf. Drei Grundelemente machen nach der klassischen Staatslehre einen Staat aus: Ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine (verfassungsrechtlich verankerte!) Staatsgewalt.
Ein Staatsvolk, also eine Nation kann aus mehreren Teil-Völkern zusammengesetzt sein. Seine Rechte regelt die jeweilige Verfassung. Bevölkerungen sind sind dagegen eher geographisch definierte Menschenansammlungen oder Siedlungsgemeinschaften. Bevölkerungen haben nicht den gleichen Rechtsstatus wie Völker. Bevölkerungen sind ein demographisches Phänomen, man erfasst sie statistisch. Bevölkerungen oder Einwohnerschaften sind unzusammenhängende, zufällige Größen.
„Dem deutschen Volke“ und nicht einer amorphen Bevölkerung ist der Reichstag gewidmet
Wenn der Dialektiker, Sprachmeister und scharfe Denker Brecht zur Zeit seines Exils während des Hitler-Faschismus vor der falschen Mystik des Volksbegriffes warnt, dann tut er dies natürlich zurecht. Wenn aber heute, zu Zeiten der bedrohlichen, US-gesteuerten Zertrümmerung von Demokratien und der Entrechtung ganzer Völker, im Zeitalter des bewaffneten „Regime Change“ von außen die Inschrift auf dem Reichstag nicht mehr „dem deutschen Volke“, sondern „der Bevölkerung“ gewidmet werden soll, dann ist Alarm geboten. Das Volk soll beiseite geschoben, entmündigt und entrechtet werden. Volksabstimmungen werden – in Missachtung des Grundgesetzes – schon lange als nicht „verfassungskompatibel“ dargestellt. Volkes Stimme ist nicht gefragt. Die Verlagerung wesentlicher Hoheitsbefugnisse auf EU-Ebene etwa soll wie auch das TTIP Handelsabkommen von unserem Volk kritiklos hingenommen werden.
Historisch Gewachsenes wider künstliche Konstrukte
Das Volk der Staatsbürger besitzt aber verbriefte Rechte. Bevölkerungen sind demgegenüber eben eine bloße Zählgröße, die sich austauschen, auf Wanderschaft schicken und manipulieren lässt. Bevölkerungen haben keinen nationalen oder irgend gearteten Zusammenhalt, keine gemeinsame Kultur oder Struktur. Bevölkerungen sind vor allem kein Völkerrechtssubjekt. In dem Zusammenhang ist interessant, wer aus welchem Herrschaftsmotiv heraus den Palästinensern etwa seit über einem halben Jahrhundert den Status einer Nation verweigert, ihre Staatsgründung und ihre Hoheitssymbole nicht anerkennt. Umgekehrt ist ebenso interessant, wer aus welchem gleichen Herrschaftsanspruch den in vier verschiedenen Staatsgebieten siedelnden Kurdensolche Rechte zubilligen will. Die Etablierung eines Kurden-Staates (von US-Gnaden nur denkbar) würde zur Balkanisierung, sprich Zersplitterung einer weiteren Region führen mit permanentem Kriegszustand. Ein solcher Staat wäre weiterer ein Pfahl im Fleisch der Nahost-Region, ihm käme eine Rolle ähnlich der Israels zu.
Verteidigen wir unsere Rechte als Nation gegenüber fremdstaatlichen Übergriffen
Das US-Imperium beansprucht seit der Zerschlagung des sozialistischen Staatengefüges ganz förmlich und offiziell „Full Spectrum Dominance“. Das bedeutet die Kontrolle über die Rohstoffe, die Nahrungs- und Finanzmittel und natürlich über die Menschen aller Herren Länder. Spätestens seit Brzenszkis Veröffentlichung „Die einzige Weltmacht“ (1997) und dem PNAC Papier des neokonservativen Sektors der USA ist es für jedermann einsehbar, dass die USA keine andere Macht neben sich dulden. Wer Souveränitätsansprüchegeltend macht, sich auf nationale Verfassungen oder auf die UN-Charta beruft, wer auch nur ansatzweise eine von US-Interessen unabhängige Politik zu machen sucht, wird zum Feind des Imperiums. Wer nicht gefügig ist, wird als Nationalist, Spinner oder Diktator diffamiert und dann beseitigt. Nationale Bewegungen werden unterwandert, und anschließend als rechtslastig, rückständig oder xenophob stigmatisiert. Der Volksbegriff selbst wird als antiquiert abgetan, nationale Grenzen gelten als unmodern. Die Verteidigung der Nation steht nach den meinungsprägenden US-Chefideologen nur einem Land zu, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika. Das Zustandekommen dieser ‘modernen’ Nation gründet auf Ausrottung der autochtonen Bevölkerung, auf den aus Europa vertriebenen Migrationsströmen und dem Import von Sklaven aus Schwarzafrika. Ein nationaler Flickenteppich, gespeist von Arbeitsmigranten aus Mexiko. Dieses Gebilde hätte allen Grund zur Zurückhaltung. Eine ähnliche Zurückhaltung ist auch dem Westen insgesamt, insbesondere Westeuropa angeraten. Auf Grund seiner äußerst gewalthaltigen Geschichte steht den EU/SA/NATO-Staaten nicht zu, anderen in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Lehren zu erteilen. Sie sind ganz und gar nicht befugt, vorzuschreiben, auf welche Weise ein anderes Volk sich fremder Übergriffe oder Putschversuche erwehrt.
Die Abwehr von Terrorangriffen ist zunächst eine nationale Angelegenheit. Nur auf ausdrückliche Einladung und auf Ersuchen um Zusammenarbeit darf in fremde herrschaftliche Belange eingegriffen werden. Wer also rechtsstaatlich definierte Begriffe wie Volk – Nation – Souveränität geringschätzt und für obsolet erklärt, der gerät schnell auf das schlüpfrige Terrain der Übermächtigen, jener nämlich, die meinen, ihren Willen allen anderen diktieren zu können. Für derlei Impertinenz, die auf Recht und Gesetz pfeift und zum Faustrecht zurückgreift ist die korrekte Bezeichnung noch immer „Imperialismus“. Dieser will mittels militärischer Überlegenheit anderen Völkern Regierungen aufzuzwingen oder sie ihnen wegnehmen, je nach Belieben. Diese Zeiten sind längst überholt und sie neigen sich ihrem verdienten Ende zu.
Auch Deutschen ziemt der aufrechte, freie Gang
Das uns Deutschen als Nation nach der ‘Niederlage’ von 1945 vom US-Oberbefehlshaber, nicht etwa von den leidgeprüften Russen eingeimpfte, schlechte Gewissen taugte weder zur Befreiung vom Faschismus noch zur Wiedergutmachung begangener Väterverbrechen. Das Herumreiten auf Schuldgefühlen für eine – in der Tat bittere Vergangenheit – ist ein ganz schlechter Ratgeber für eine unabhängige, souveräne, nationalen Interessen dienende Politik. Im übrigen haben das ganze Europa, der Westen, der globale Norden, die NATO gemeinsam anderen Nationen so viel Unheil zugefügt, dass sie einander wahrlich nichts vorzuwerfen haben. Die Geschichte der Kolonisierung der Welt ist blutig verlaufen und hält bis zum heutigen Tage an. Es sind immer noch die Völker selber, die gegen das kleine Prozent ihrer Eliten aufstehen müssen, um das Tyrannen-Joch zu brechen. Nationale Unabhängigkeit zu erlangen ist der erste Schritt auf dem Wege zu einer Befreiung. Wir brauchen aber gewiss ‘nicht andere Herren, sondern keine’ (Brecht). Das Joch im Inneren abzuschütteln, bleibt Aufgabe und geht ohne äußere Einmischung erheblich leichter.Dass es möglich ist, hat das 20. Jahrhundert neben den fürchterlichen, völkermörderischen Kriegen auch gezeigt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir wieder unsere sprichwörtliche Chance. China und Russland zeigen uns im Bunde mit der Kulturnation Iran den Weg. Sehen wir also – trotz der uns umgebenden Finsternis – das Licht am Ende des Tunnels: Ex Oriente Lux.
Anmerkungen:
RONALD LÖTZSCH in UTOPIE kreativ, H. 103/104 (Mai/Juni) 1999, S. 15-30 Ronald Lötzsch – Jg. 1931, Prof. Dr., Sprachwissenschaftler (Arbeiten vor allem zu Sprachtypologie und Kontaktlinguistik), Minderheitenforscher (Sorabist), Berlin.