Zur Gauck-Rede an der Hamburger Bundeswehrakademie - ein Gastartikel von Holdger Platta
„Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.“
(Heinrich Heine „Deutschland ein Wintermärchen“)
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.“
(Heinrich Heine „Deutschland ein Wintermärchen“)
Ist Herr Gauck noch recht bei Troste? Oder ist das alles kalkuliert?
Herr Gauck hat in Hamburg an der Bundeswehrakademie den Satz von sich gegeben: „Daß es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen.“ Und anschließend warf er uns auch dieses noch vor: „Hedonismus“, also das „Verlangen nach Sinneslust“ (so die DUDEN-Definition).
In der Tat: human gebliebene Menschen ertragen das Unglück anderer Mitmenschen schwer, und staatlich verordneten Tod (dem die Tötung anderer Menschen womöglich vorausging) noch weniger. Diese Ablehnung von Unglück und Tod stellt die Reaktion empathiefähiger Mitmenschen dar, die Reaktion beziehungsfähiger Menschen, die Reaktion von Menschen, denen das Weiterleben anderer Menschen noch etwas bedeutet, denen Frieden etwas bedeutet und Mitmenschlichkeit. Aber man faßt es nicht: diese Menschen finden sich bei Gauck als „glückssüchtige“ Menschen etikettiert. Noch einmal gefragt: ist dieser Herr noch bei Sinnen? Oder verfolgt er bereits sehr genau berechnete Zwecke? Doch der Reihe nach:
Erstens: Wer die Glückssuche und das Glücksbedürfnis von Menschen – oder einer ganzen Gesellschaft – als „Sucht“ qualifiziert, pathologisiert diese Suche und dieses Bedürfnis. Der Begriff der „Sucht“ stellt diese Strebungen des Menschen nach Glück auf eine Stufe mit Abhängigkeiten von Alkohol und Heroin, er macht aus diesen Strebungen einen Krankheitsfall für die Psychiatrie.
Zweitens: Wer diese Glückssuche und dieses Glücksbedürfnis dabei ausgerechnet solchen Menschen als Krankheitssymptome zuschreibt, die den Tod anderer Menschen nicht wollen, pathologisiert damit auch gleich die Friedenssehnsucht der Menschen! Kurz: auch Pazifismus ist, dem Bundespräsidenten zufolge, ein Erkrankungszustand, auch Pazifismus ist so etwas ähnliches wie Alkohol- oder Heroinsucht.
Drittens: Gleichzeitig argumentiert Herr Gauck mit diesen „Diagnosen“ beides – Glücksverlangen und Friedenssehnsucht – auch noch in die moralische Verwerflichkeit hinein, denn eigentlich handelt es sich bei diesen Bedürfnissen ja um ein „Verlangen nach Sinneslust“, um aus seiner Sicht sittenlosen „Hedonismus“. Friedenssehnsucht und Glücksverlangen signalisieren demzufolge ein ethisches Defizit. Heißt: Menschen, die Glück erstreben – für andere und für sich -, Menschen, die für Frieden und friedliche Lösungen kämpfen, sind dieser ‚Logik’ zufolge nicht nur krank, ein Fall für die Medizin, sondern auch noch schlecht, ein Fall für den Pastor oder gleich Kandidat für die Hölle. Das bedeutet umgekehrt:
Viertens: Anwärter fürs Paradies oder schlicht ein guter Mensch, normal und gesund, das ist lediglich jener Mitbürger, der den Auffassungen dieses Bundespräsidenten entspricht. Doch was für eine Psychologie, was für eine Ideologie ist das eigentlich, die da der vormalige Seelenhirte aus Rostock vertritt? Ich werde deutlich, es tut mir leid:
Gauck träumt von einem Menschen, der von Nekrophilie befallen ist, befallen ist von der Liebe zum Tod und allem Toten. Und: offenbar einzig diese Nekrophilie hält dieser Herr Gauck für sittlich und gesund, eine Nekrophilie, der Erich Fromm, der weltberühmte Psychologe und Humanist, vor Jahrzehnten ein ganzes Buch gewidmet hat (1973) und als Hauptsymptom der menschlichen Destruktivität analysierte (siehe deutsche Buchausgabe mit dem Titel „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ 1974!).
Man faßt es nicht und möchte es für Irrtum halten, man zögert, weil es allzusehr nach ‚Retourkutsche’ klingt, aber es ist so: pathologisch, von allergrößter moralischer Fragwürdigkeit ist nicht die Gesellschaft, die keine Kriegstoten in Afghanistan und anderswo will, nein, pathologisch und von allergrößter moralischer Fragweürdigkeit ist die Kriegstodbejahungsideologie des Herrn Gauck. Was dieser Herr da von sich gibt, ist – in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt – ein Fall von Projektion: es ist die Fragwürdigkeit der eigenen Ideologie, die da in andere Menschen hineingedacht wird. Alles, was Gauck über die vermeintlich „glückssüchtige“ – über die angeblich krankhafte und moralisch verwerfliche – Gesellschaft sagt, ist nichts anderes als der Spiegel, der den Charakter seine eigenen ideologischen Verranntheit zeigt. Und (es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden): in diese Fragwürdigkeit seelischer wie moralischer Art will Gauck offenbar ein ganzes Volk hineinargumentieren.
Doch woher kommt diese verzerrende und verheerende Psychologie? In welcher Tradition steht dieses Denken?
Ich kann – der Kürze wegen – nur zwei Traditionslinien nennen, denen sich dieses Denken des Herrn Gauck verdankt.
Zum einen deckt sich diese Art des Denkens, Deutens und Bewertens einschränkungslos mit der obrigkeitsfrommen Theologie des frommen Vorfahren von Herrn Gauck, nämlich mit der „Zwei-Reiche-Theologie“ des Herrn Martin Luther von Wittenberg (genaueres kann man nachlesen dazu in Ernst Bloch „Naturrecht und menschliche Würde“, in der Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages aus dem Jahre 1985 auf den Seiten 42ff.): diesem Luther zufolge waren Glück und Frieden allein dem Menschen im Jenseits vorbehalten, für die Menschen im Diesseits galt hingegen einschränkungslos „Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht und kein anderes.“ Gerichtet hatte der protestantische Kirchenführer diese Zeilen im Jahre 1525 an die Bauern und Leibeigenen, die aufbegehrten gegen die Adelsherrschaft, um Schluß machen zu können mit ihrer eigenem Unglück. Die Ideologie des Herrn Gauck steht also in der Tradition reaktionärsten Luthertums – eines Luthertums, das die heutige lutherische Kirche längst schon überwunden hat. Mit Menschenrechtsdenken und Aufklärung, mit Rechtsstaat, Menschlichkeit und Demokratie hat dieses Denken nichts, aber auch gar nichts zu tun. In den USA wäre Herr Gauck mit seiner Verteufelung einer „glückssüchtigen Gesellschaft“ sogar expressis verbis ein Verfassungsfeind, steht doch in deren Unabhängigkeitserklärung zu den Menschenrechten aus dem Jahre 1776, ganz am Anfang sogar: „the pursuit of happiness“, das „Streben nach Glück“, sei unaufhebbares Menschenrecht. Ob Gauck für seine erste USA-Reise also ein Visum erhalten wird? Oder wird man ihn, sollte er in New York mit dem Flugzeug gelandet sein, gleich wieder zurückschicken, und unser Bundespräsident hat von den USA nur den John F. Kennedy Airport gesehen? Egal: der Vertreter eines erzreaktionären Luthertums, der Theologe Gauck, dürfte drüben wohl nur wenig willkommen sein.
Und der Politiker Gauck? Nun, die zweite, die ‚irdische’ Traditionslinie, in die sich diese Kriegstodbejahung des Herrn Gauck gestellt hat, geht ganz unmittelbar auf politische – auf reaktionäre und autoritäre – Vorgeschichte zurück.
Das fängt im wahrlich vordemokratischen Rom der Antike an, mit dem Horaz-Zitat, das unter Kaiser Wilhelm Zwo an allen „humanistischen“ Gymnasien gebimmst werden mußte: „Dulce et decorum est pro patria mori.“ – „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.“, ein Zitat, dessentwegen Bertolt Brecht im kriegsbraven Augsburg fast vom Realgymnasium flog, darum nämlich, weil er in einem Aufsatz gegen diese These aufbegehrte.
Das setzt sich fort mit dem menschenverachtenden Anfeuerungsruf des absoluten Herrschers Friedrich des Zweiten bei der Schlacht von Kolin (am 18. Juni 1757), adressiert an seine flüchtenden Soldaten: „Ihr verfluchten Racker, wollt Ihr denn ewig leben?“ (populär geworden als „Hunde, wollt ihr ewig leben?“, dem Titel des gleichnamigen Films aus dem Jahre 1959).
Und das hört noch lange nicht auf bei dem präfaschistischen Film der UFA aus den Jahren 1932/33 „Morgenrot“, in dem der Heldentod und die deutsche Begeisterung für ihn mit dem Satz des U-Boot-Kommandanten Helmut Lier gefeiert wird: „Zu leben verstehen wir Deutschen vielleicht schlecht, aber sterben können wir fabelhaft.“ Ein Satz, der von Hitler und Goebbels, die bei der Uraufführung dieses Films am 2. Februar 1933 zugegen waren, enthusiastisch bejubelt wurde.
Und eben dieses Dritte Reich verknüpfte dann auch beides aufs plausibelste miteinander, „deutschen Patriotismus“ und Nichtigkeitserklärung des einzelnen bzw. den Appell zu dessen Opferbereitschaft bis in den Tod hinein: „Du bist nichts. Dein Volk ist alles.“ Ein Doppelsatz, der an jedem HJ-Heim zu lesen war und natürlich das genaue Gegenteil ausdrückt von dem, was eine pazifistisch-gesonnene, was eine „glückssüchtige“ Gesellschaft vertritt. Nein, es ist keine gute Tradition, in die sich dieser Herr Gauck mit seiner Pathologisierungsrede an der Hamburger Bundeswehrakademie gestellt hat.
Ob Gauck selber bereit wäre, der eigenen Maxime Folge zu leisten? Und welchen Zwecken sollte diese Rede dienen?
Nun, lassen wir die Motivsuche beiseite und stellen nur fest: es fällt auf, daß Reden wie diese wieder gehalten werden können, ohne groß Widerspruch zu erregen „in der Mitte unserer Gesellschaft“, und daß sie aufs beste passen zum expansionistischen Globalisierungsgeschehen, das die Dritte und Vierte Welt mehr und mehr in Tod und Hunger treibt. Worüber ein Bundespräsident Köhler noch gestolpert ist – Kriege könnten gegebenenfalls wieder geführt werden, nicht zuletzt wegen deutscher Wirtschaftsinteressen -, diesen Stein des Anstoßes hat Gauck lediglich in reaktionäres Pastoraldeutsch verpackt. Wobei festzuhalten ist:
Ein Held seines eigenen Geredes wird dieser Gauck selbstverständlich nicht sein. Heißt: auf dem afghanischen Schlachtfeld werden wir diesen Herrn im feinen Zwirn nicht finden, da schickt man doch lieber die Jüngeren hin. Aber das genau ist der besonders widerwärtige Aspekt dieser Rede: sein wohlfeiler Gratismut! Wieder einmal entwickeln sich die Dinge so, daß junge Menschen ihr Leben lassen müssen, weil die älteren Menschen sich nicht verstehen. Und dazu fiel mir nach der Gauck-Rede ein Gedicht aus dem Jahre 1966 wieder ein und geht mir seit dieser Todespropaganda nicht mehr aus dem Kopf: ein Gedicht von Erich Fried, abgedruckt in dem Lyrikband „und VIETNAM und“, ein Gedicht, das den damaligen Kriegsbefürwortern bereits die gebührende – die pazifistische und „glückssüchtige“! – Antwort gab, den Befürwortern nämlich des us-amerikanischen Vietnamkrieges. Es hat den Titel „Beim Nachdenken über Vorbilder“, über eher ältere Leute mithin, und lautet so: „Die uns / vorleben wollen // wie leicht / das Sterben ist // Wenn sie uns / vorsterben wollten // wie leicht / wäre das Leben“.
Holdger Platta