Thursday, January 8, 2015

Mogherini: EU to Lift Anti-Russia Sanctions if Minsk Agreements Observed

News | 09.01.2015 | 00:03
 
Anti-Russian sanctions imposed by the European Union (EU) over Moscow's alleged role in the Ukrainian crisis, will be lifted if the Minsk agreements on ceasefire in Ukraine are fully observed, EU foreign policy chief Federica Mogherini said Thursday.
“What I can for sure say — as it has always been the case — is that it will depend on the situation on the ground. If, and when, all Minsk points would be delivered, then for sure we won’t have sanctions any more. But we are far from that,” Mogherini told the press.
Mogherini noted there have been positive signals demonstrating a slight shift in Moscow’s approach to the Ukrainian situation. However, the EU foreign policy chief said the developments were very limited.
Mogherini's words echoed an earlier statement by German Chancellor Angela Merkel. After meeting with Ukrainian Prime Minister Arseniy Yatsenyuk, Merkel also cited adherence to the Minsk agreement as a key prerequisite for lifting the sanctions against Russia.
Russia has seen several rounds of sanctions imposed by the West, based on accusations of Moscow meddling in the Ukrainian crisis. In particular, the restrictions targeted Russia’s banking, energy and defense sectors, hampering the country's cooperation with the West.
In September 2014, the warring parties in eastern Ukraine agreed a ceasefire deal in Minsk, brokered by Russia and the Organization for Security and Co-operation in Europe (OSCE). Despite the signing of the agreement, Kiev forces and independence supporters have since accused each other of multiple episodes of breaking the truce.
 
Tags: European Union Russia Ukraine

Names of three terrorists were previously known to French police - media

News | 08.01.2015 | 23:15
 
All the three terrorists who killed 12 and injured 11 people in Paris on January 7 had been previously known to the French police, France’s BMF TV international news channel reported without confirming that the suspects had been detained.
“All the three, as police suspected, had been linked to recruitment of volunteers for the Jihad war in 2003-2005. They were also suspected of complicity to organization of a 2010 criminal operation to release a number of terrorists who had been kept in French prisons since 1995 but the attempt had failed,” the channel’s crime expert said.
Three unknown gunmen attacked the office of the Paris-based Charlie Hebdo satirical weekly paper that had outraged Muslims by printing caricatures of Prophet Muhammad on Wednesday morning. According to the latest reports, 12 people were killed. They include ten journalists and two policemen who guarded the editorial office’s building. Another eleven people were injured.
The January 7th attack has become the most high-profile terrorist act in France over the past 50 years. A three-day national mourning has been announced in the country.
French President Francois Hollande is to hold an emergency meeting with the heads of the key security and police agencies at the Elysee Palace on Thursday.

Putin presents condolences to Hollande over terrorist attack on office of Charlie Hebdo

News | 08.01.2015 | 23:12
 
Russian President Vladimir Putin has telephoned French President Francois Hollande to present his condolences to the French leader and the French people over a terrorist attack on the office of the Paris-based weekly Charlie Hebdo, the Kremlin press service reported on Thursday.
“The Russian leader condemned the barbaric action and expressed the hope that its perpetrators would be found and would face condign punishment,” the Kremlin press service went on to say.
Putin asked Francois Hollande to convey a feeling of profound compassion and words of support to the families of the dead and wished the earliest recovery to the injured.
The French president thanked Putin for his manifestation of friendly feelings.
Three unknown gunmen attacked the office of the Paris-based Charlie Hebdo satirical weekly paper that had outraged Muslims by printing caricatures of Prophet Muhammad on Thursday morning. According to the latest reports, 12 people were killed. They include ten journalists and two policemen who guarded the editorial office’s building. Eleven people were injured.
 
Tags: France Russia Putin

Das Massaker in Paris

von Volker Bräutigam
François Hollande, monsieur le président.- Ein fürchterliches Massaker wurde Ihnen vor die Haustüre serviert. 12 Tote sind zu beklagen. Ihren Angehörigen sowie den vielen Verletzten des Terroranschlags am 7. Januar in Paris gilt unser ganzes Mitgefühl. Ihnen, monsieur le président, gilt hingegen nur unser leises Bedauern. Denn anscheinend sind Sie, unfreiwillig und unbedacht, ein Mitverursacher dieses Verbrechens.
Am 4. Dezember vorigen Jahres haben Sie eine Reise in die einstige Sowjetrepublik Kasachstan unternommen. In der Hauptstadt Astana trafen Sie den Präsidenten Nasarbajew und den russischen Präsidenten Putin. Ohne Rücksicht auf die Gefühle unseres US-amerikanischen Weltherrschers – und ohne ihn um Erlaubnis zu bitten! – sprachen Sie sich dafür aus, zusammen mit dem russischen Präsidenten Putin, Bundeskanzlerin Merkel und dem ukrainischen Führer Poroschenko nach einer „diplomatischen Lösung“ der Ukraine-Krise zu suchen.
Doch damit nicht genug. Auf Ihrer Rückreise machten Sie am 6. Dezember einen Zwischenstopp auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo 2 und trafen sich zu einem weiteren Gespräch mit Putin. Wiederum ohne vorher in Washington gefragt zu haben, ob Sie das auch dürfen. Und abermals verhandelten Sie mit dem Russen über den Ukraine-Komplex, ohne zu bedenken, dass in Kiew längst eine personalstarke US-Botschaft regiert und allein zuständiger Gesprächspartner für alle Fragen von Krieg und Frieden ist.
Wie konnten Sie nur!
Am 30. Dezember erwiesen Sie sich gar als von allen guten Geistern verlassen, als Sie, Vertreter einer der Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat, dort für eine Palästina-Resolution stimmen ließen anstatt dagegen, wie es der Anstand gegenüber Washington und Jerusalem verlangte.
Und am 5. Januar setzten Sie allen Unverschämtheiten ihrer sogenannten Vernunftpolitik die Krone auf: Sie forderten öffentlich die Rücknahme aller Sanktionen gegen Erzfeind Russland. Sie stellten sich auf die Seite Putins, des Bösen.
Um wirklich alle Zweifel auszuschließen, dass das grauenhafte Massaker in Paris eine kalkulierte Abrechnung, ein termingerechtes Auftragsverbrechen war, hinterließ einer der Attentäter „versehentlich“ seinen Personalausweis in einem der Fluchtfahrzeuge. Die Parallele zum 9/11-Anschlag auf die Zwillingstürme in New York fällt ins Auge: Auch dort wurde nachher auf dem Aschehaufen über den Tower-Trümmern der völlig unbeschädigte Ausweis eines der angeblichen Attentäter „gefunden“.
Die Herren der Welt in Washington sind überzeugt, es gebe auf dem Erdenrund keine intelligenteren Zeitgenossen als sie selbst, Donald Duck und Micky Mouse.
Was lernen wir aus alledem? Das Imperium will uns einen Unterschied glauben machen zwischen den moslemischen Killern, die in Lybien und Syrien Bürgerkrieg führen – das sind „Freiheitsaktivisten”, also die „guten Moslems” – und denen, die als IS-Terroristen Köpfe abschneiden, als Verrückte aus Gaza Raketen abschießen und als Ein-Mann-Bomber Selbstmordattentate in Israel und dem Rest der Welt verüben – das sind “die Bösen”: dschihadistische fundamental-extremistische Radikalislamisten, gelle?
Es soll nur keiner auf den Gedanken kommen, nachzufragen, wessen Interessen all das organisierte Morden und Totschlagen und Vergewaltigen und Verstümmeln und Foltern eigentlich dient.
Eine ordentliche Abreibung für Sie war überfällig, monsieur-le-président. Das sehen Sie hoffentlich ein? Gut, Sie zeigen erste Anzeichen der Besserung: Der Westen müsse im Kampf gegen den islamistischen Terror jetzt zusammenstehen, die Attentatsopfer seien schließlich “für die Freiheit” gestorben. Das sind erste kleine Schritte zurück in die richtige Richtung, monsieur-le-président.
Religiöse Phantasterei, gleich welcher Schattierung, ist mir gleichgültig. Ich bin bekennender Atheist und halte fest: Das Massaker in Paris ist ein abscheuliches Verbrechen. Es richtete sich zwar gegen die Macher eines Käseblatts, die „Satire“ für sich beanspruchten, jedoch nicht die geringsten Bedenken hatten, Christen und Juden und Moslems gegeneinander aufzuhetzen. Dass die “Gläubigen” das mit sich machen lassen, ist zum Teil ihre eigene Schuld. Aber die bedauernswerten Toten und Verwundeten und ihre Angehörigen sind nicht lediglich Opfer durchgeknallter Moslems, sondern Opfer einer verbrecherischen Politik des kapitalistischen Westens, der seinen Herrschaftsanspruch überall und mit allen Mitteln durchzusetzen trachtet; auf ein paar Tote mehr oder weniger kommt es der uns anführenden Verbrecherelite überhaupt nicht an. Mit einem einzigen Drohnenangriff bringt der Mörder im Oval Office des Weißen Hauses Woche für Woche dienstags mehr Menschen um, als an diesem Dienstag in Paris sterben mussten.
Wenn hier schon jemand die moslemfeindliche Denkschublade aufgemacht hat, in die das verehrte Publikum die Schreckenstat einordnen soll, dann kann unsereiner das auch: Packen wir das gemeine Verbrechen in das Fach mit der Aufschrift “False-Flag, Psy-Ops, CIA, Mossad, Gladio-NATO”. In den entsprechenden Güllegruben könnte es durchaus geplant worden sein.

Zum heutigen Staatsbesuch von Herrn Jazeniuk in Deutschland:

Seine Stiftung nannte bis für kurzem noch im Internet die NATO als Partner.
Herr Jazeniuk bekam heute bei den Tagesthemen eine Möglichkeit 
Propaganda zu machen.
Es wurde deutlich, Herr Jazeniuk will weiter Geld von Deutschland, 
obwohl sein Land pleite ist. Dieses Geld will er nach eigenen Aussagen 
für die weitere Aufrüstung und Kriegsführung gegen das eigene Volk im 
Osten der Ukraine verwenden.
Er hat tatsächlich heute in den Tagesthemen gesagt: "Wir können uns noch 
alle an den russischen Einmarsch in die Ukraine und in Deutschland 
erinnen."
Was meint dieser Mann? Ich dachte immer Deutschland hätte die 
Sowjetunion überfallen und Banderahilfskräfte aus der Ukraine hätten 
Hitlers Angriffskrieg dabei unterstützt? Wie kann man so 
geschichtsvergessen sein?
Gleichzeitig nannte er die Menschen im Osten "russische Terroristen".
Die Ukraine würde aber trotzdem in den Osten Strom und Gas liefern.
Herr Jazeniuk stellt die Dinge damit auf den Kopf. Denn Rußland hat 
zugestimmt, großzügig der Ukraine Gas zum Inlandstarif zu liefern.

Quelle: e-mail zuschrift

Charlie Hebdo – ein Symbol für Missverständnis und Polarisierung



Pressemitteilung Pressemitteilung zum mörderischen Überfall auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris 8.01.2015 vom Institut für Medienverantwortung


Während die Familien der 12 Ermordeten vom 7.01.2015 in Paris noch kaum begriffen haben dürften, welches Schicksal sie getroffen hat, ist die Untat medial bereits endgültig in die vorhandenen Frames einsortiert. Exemplarisch schreibt Die Berliner Zeitung von heute: „Das Massaker von Paris ist Rache für satirische Zeichnungen, in denen die Täter eine Verunglimpfung ihres Propheten sehen.“
Woher wissen die Redakteure das? Aus den Ausrufen, die die Killer während des Angriffs gemacht haben sollen? Könnte nicht jeder so etwas rufen? Oder wissen sie es durch den glücklichen Fund des Personalausweises eines Verdächtigen, den er aller sonstigen Professionalität zum Trotz in einem der Fluchtautos verloren haben soll? Er weist einen arabischen Namen auf. Ist damit bereits alles erklärt?
Und wenn die Mörder tatsächlich fanatische Islamisten gewesen sind, wieso geht dann fast niemand der kommentierenden Politiker und Medienvertreter davon aus, dass die Muslime ebenso empört über die Tat sind, wie alle anderen auch? Merkt man nicht, dass man sie durch die Interpretationen und Forderungen, die jetzt ebenso vorschnell in den Raum geworfen werden wie die Schlussfolgerungen aus der Tat, aus der Gesellschaft ausgliedert?
Wichtige andere Hinweise und Fragen sucht man bisher in der Berichterstattung weitestgehend vergeblich: Warum hatte die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo trotz mehrfacher Anschläge keinen Gebäudeschutz mit mehreren Polizisten, sondern nur Personenschutz für den Chefredakteur? Woher wussten die Attentäter, dass genau zu dem Zeitpunkt die wöchentliche Redaktionssitzung stattfand, bei der ausnahmsweise viele Mitarbeiter da sind? Was bedeutet es, dass diese Tat ganz offensichtlich lange geplant war?
Wer auch immer die Terroristen waren und welche Motive sie genau verfolgten, die beobachtbaren Reflexe der Zuweisung von Unterstellungen und Ängsten haben bereits einen wesentlichen Effekt erzielt: Spaltung und Polarisierung. Weitere Radikalisierung und Eskalationen auf allen Seiten sind daher zu erwarten. Die „Lügenpresse“-Rufer von gestern feiern nun bereits die Meinungs- und Pressefreiheit als nützlicher Gegenpol zu Islam und Muslimen.

Europa geriert sich als Hort der Freiheit, als ob aktuell etwa nicht weltweit die Medienfreiheit verteidigt werden muss. Im letzten Jahr starben viele Journalisten bei der Arbeit, wie Reporter ohne Grenzen regelmäßig veröffentlicht. Die einen Toten sind nicht weniger wert als die anderen.
Umso wichtiger ist es nun, dass unsere Medien als Vierte Gewalt nicht vorschnell urteilen und weiter Stereotype bedienen, sondern eine konsequente Rechtsstaatlichkeit einfordern. Sowohl die Verbrechen von Paris müssen rechtsstaatlich verfolgt werden, als auch die Verhetzung Muslimen gegenüber. Nur bei konsequentem Eintreten gegen den Missbrauch der Meinungsfreiheit, die üble Nachrede und Volksverhetzung aus historischen Gründen nicht mit einschließt, ist eine weitere Polarisierung und Radikalisierung auf allen Seiten zu verhindern. Wer hier relativiert, arbeitet den falschen Kräften zu.
Charlie Hebdo als linke Satirezeitschrift hat zwar immer provoziert, aber konsequent gegen alle und jeden polemisiert – das ist in jedem Fall zu verteidigen. Darum ist sie mit der einseitig ausgerichteten Jyllands Posten auch nicht im gleichen Kontext zu sehen. Dass nun alle möglichen Zeitungen religionskritische Karikaturen nachdrucken, mag als Akt der Verzweiflung in diesem schweren Moment durchgehen. Dass man dadurch geopolitische und weitere möglicherweise relevantere Aspekte weltweit ausblendet, sollte langfristig korrigiert werden. Dazu bedarf es besonnener Analysen, die jenseits von Apologismen wieder Raum und Recht gewinnen müssen.


Mit freundlichen Grüßen

Dr. Sabine Schiffer
Institutsleitung
Quelle:From: IMV Büro

Interview zu Islamophobie mit Sabine Schiffer im MDRPegida ist das Symptom eines größeren Problems

Die Muslimfeindlichkeit in Deutschland ist deutlich älter als beispielsweise der so genannte "Islamische Staat", sagt die Islamwissenschaftlerin Sabine Schiffer in einem Interview mit der Webseite "NachDenkSeiten". Unsere Redaktion fand das so interessant, dass wir es an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von "NachDenkSeiten" publizieren.
Koran Islam
Pegida ist in aller Munde und wird dabei in aller Regel entweder vermeintlich "verstanden" und in Teilen "respektiert" oder aber als Problem der radikalen Rechten in Deutschland klassifiziert und bekämpft. Umfragen und Studien ergeben jedoch, dass die "Angst vor dem Islam" seit Langem ein deutsches wie internationales Problem darstellt - und sich nicht nur in einzelnen politischen Lagern verorten und an diese "wegdelegieren" lässt. Manch einer spricht daher auf der Suche nach Verständnis für die aktuelle gesellschaftliche Situation inzwischen von Pegida als dem "Produkt einer (langfristigen) politischen und medialen Inszenierung" und betont vor allem die Funktion von Rassismus in einer immer ungleicheren Welt. Die seit Jahren geschürte Islamfeindlichkeit diene dabei vor allem dazu, eigene Privilegien zu verteidigen sowie die nationale deutsche Identität zu revitalisieren, wie beispielsweise die Professorin für Diversity Studies, Rassismus und Migration Iman Attia betont. Jens Wernicke ("NachDenkSeiten") geht im Gespräch mit der Medienkritikerin sowie Sprach- und Islamwissenschaftlerin Sabine Schiffer diesen Fragen und Hintergründen weiter nach.

Frau Schiffer, Sie beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit der Darstellung des Islams in den Medien und konstatieren hier massive Verzerrungen sowie eine Art "Feindbildkonstruktion". Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung und woran machen Sie diese fest?

Das ist nicht nur mein Forschungsergebnis. Wissenschaftler wie Kai Hafez, Irmgard Pinn, Reinhard Schulze, Farid Hafez, Wolfgang Frindte, Iman Attia, Werner Ruf und viele andere mehr kommen zum gleichen Ergebnis: "Unser" Islambild stammt vor allem aus der Auslandsberichterstattung der letzten 30 Jahre.
Die stereotyp ausgewählten Fakten aus der so genannten islamischen Welt haben dabei zunächst starke Frames, also stereotypisierte Wahrnehmungen, und hierauf aufbauend schließlich ein handfestes Feindbild geformt. Die daraus resultierenden Ängste wurden dann spätestens ab dem Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh 2004 auch auf die in Deutschland lebenden Muslime projiziert.
Etwa zur gleichen Zeit sind zudem islamophobe Hetzportale im Internet entstanden, die seither unbeanstandet jede mögliche Untat eines Muslimen oder auch Nichtmuslimen in den Kontext "Islam", "Südländer" oder "Kulturbereicherer" verschieben - bei letzterem handelt es sich um die Ironisierung des Versuchs Gutmeinender, vor allem die Nützlichkeit und Bereicherung durch jene Menschen zu betonen, die tatsächlich oder vermeintlich "anders" sind. Die Auflistung unterschiedlicher Taten verschiedener Menschen auf derlei Portalen unterstellen dabei ständig "religiöse" statt etwa soziale oder politische Motive.
Was die Macher solcher Internetseiten dabei in aller Regel nicht wissen: Ihre vermeintliche Argumentation entstammt dabei vor allem evangelikalen und fundamentalistisch-katholischen Vordenkern wie beispielsweise Adelgunde Mertensacker, die mit dem Kurier der fundamentalistischen Christlichen Mitte in den 1990er-Jahren das Setting und die Perspektive für diesen kulturellen Rassismus vorgab. Und diese wiederum entstammt geopolitisch interessierten Denkfabriken, wie etwa dem Middle East Forum eines Daniel Pipes, wie inzwischen das Center for Amercian Progress nachgewiesen hat.

Das heißt?

Vor allem, dass die vermeintlichen Beschützer und Bewahrer des Abendlandes das tun, was andere zuvor als Spin und Denkmodell - der "Kampf der Kulturen" ist da nur ein Schlagwort aus diesem Bereich - bereits vor Jahren und Jahrzehnten vor- und angedacht haben.

Können Sie das bitte belegen und ein wenig ausführen? Sie wissen ja, "Verschwörungstheorien sind zurzeit sehr schlecht im Kurs …

Als ich in den 1990er-Jahren begann, dieses Thema zu bearbeiten, habe ich noch jede Behauptung von Intentionen hinter dem stereotypen und verzerrten Bild des Islams in unseren Medien und unserer Gesellschaft zurückgewiesen. Ich hielt das alles lange für ein großes Missverständnis, was nicht verharmlosend klingen soll. Inzwischen ist aber gut recherchiert und belegt, dass es Intentionen für ein Feindbild Islam gab und gibt.
Eine Art offiziellen Auftakt zur Nutzung der weltweiten Islamphobie waren dabei 1990 die Rede und der Aufsatz von Berhard Lewis "The Muslim Rage", deren Thesen sein Freund und Kollege Samuel Huntington später noch in Buchform goss. Dies ist kein zufälliger Zeitpunkt, denn während es immer Ressentiments gegen Islam und Muslime gab - Stichwort "Iranische Revolution" und historische Ereignisse wie "die Türken vor Wien" - ersetzte nach dem Wegfall des Ost-West-Konflikts in den 1990er-Jahren das Feindbild Islam zunehmend den alten Antagonismus. Und zwar mit geopolitischem Impetus, wie beispielsweise Daniele Ganser es mit Blick auf Ressourcen und Ressourcenwege beschreibt.
Das Center for American Progress hat Geldströme untersucht und am Beispiel des bereits erwähnten Middle East Forums nachgewiesen: Das Interesse am Nahen Osten ob seiner geostrategischen Bedeutung auf der einen und Islamismus sowie das Feindbild Islam auf der anderen Seite müssen zusammengehörig verstanden und analysiert werden. Der Vater von Daniel Pipes, Richard, war einst als Direktor des Zentrums für Russische Studien noch für den US-amerikanischen Antikommunismus sowie das Feindbild Russland zuständig, der Sohn ist dies nun offenbar für das Feindbild Islam. Die Bilder wechseln also, die Strategien hingegen bleiben gleich.

Und hat all das Ihrer Einschätzung nach auch etwas mit der Dresdner "Pegida-Bewegung" und artverwandten Entwicklungen im Lande zu tun? Wie erklären Sie dieses "Phänomen", das ja von einigen als rechtsextremistische Zusammenrottung interpretiert wird?

Ja, auch wenn der Weg bis hin zu Pegida auf den ersten Blick womöglich gewunden erscheint, so gibt es dennoch eine logische Abfolge der Ereignisse: Nach den Pogromen Anfang der 1990er-Jahre bekamen die Rassisten durch das neue Zuwanderungsgesetz Recht, denn Einwanderung wurde erschwert. Und muslimfeindliche Straftaten werden nach wie vor gar nicht erst systematisch erfasst und dokumentiert. Auf den islamfeindlichen Mord in Dresden 2009 hin reagierte man beispielsweise mit Abwiegelung, so als gäbe es nicht längst ein allgemeines Problem.
Und leider findet nun genau das statt, was ich immer befürchtet habe - und was in meiner Doktorarbeit im vergleichenden Exkurs zum antisemitischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts bereits steht: In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und politischer Ohnmacht gegenüber globalen Wirtschaftsstrukturen werden die Ängste der Menschen auf die bereits seit Langem hierfür offen dargebotene Minderheit projiziert. Das waren zuzeiten der Wirtschaftskrise um 1873 die Juden, und das sind heute vor allem die Muslime. Das schafft den Antisemitismus zwar nicht ab, als Projektionsfläche für alles Üble sowie die diffusen Ängste der Menschen dienen nun jedoch beide Gruppen zugleich: Juden als die vermeintlichen Drahtzieher der Welt und Muslime als die angeblich Verantwortlichen für deren Niedergang. Was leider nicht einmal ausschließt, dass die eine diskriminierte Minderheit, befördert durch eine unsolidarische, die Gruppen gegeneinander ausspielende Politik, der jeweils anderen auch noch die Schuld für diese Entwicklung zuschreibt.

Aber die Demonstranten behaupten doch, nicht gegen Muslime, sondern nur Islamisten zu sein …

Ob sie das selber glauben, weiß ich nicht. Die publizierten Äußerungen verraten jedenfalls eine große Verallgemeinerungstendenz. Aber in der Tat dienen Islam und Muslime vor allem zur Projektion. Um sie geht es faktisch überhaupt nicht. Und da das viele Muslime noch nicht begriffen haben, lenken sie mit der gut gemeinten Aufklärung über ihre Sicht auf den Islam nur noch mehr Aufmerksamkeit auf ihre Religion und sich, die dann für Ressentiments jedweder Couleur "verantwortlich" gemacht wird.
Allerdings glauben auch viele Politiker und Journalisten, die die Diskursentwicklung nicht genau verfolgt haben, dass es sich bei diesen Demonstrationen um Reaktionen auf eine Radikalisierung von Muslimen handele, was jedoch nicht der Fall ist - denn die Muslimfeindlichkeit hier ist deutlich älter als beispielsweise der so genannte "Islamische Staat".
Sehr wohl machen aber machen neue Phänomene wie dieses - gerade in Verbindung mit der Behauptung, hier handele es sich um einzig "religiöse" und nicht etwa soziale oder politische Kämpfe - die Menschen aktuell noch anfälliger für die einfachen Parolen zur vermeintlichen Lösung all ihrer Probleme ... Der hierbei praktizierte Chauvinismus trägt dabei faschistische Kernelemente in sich und könnte sich noch weiter auswachsen, wenn unsere Medien und die Politik derlei Stimmungen weiterhin Raum und damit Recht geben - anstatt beispielweise eben all die auf Muslime projizierten und wohl vor allem sozioökonomischen Ängste und Nöte der Menschen endlich einmal ernst zu nehmen und anzugehen sowie zugleich der Dämonisierung einer ganzen Menschengruppe entschieden entgegenzutreten. Da in aller Regel jedoch beides nicht geschieht, stärkt das Handeln unserer Eliten und Meinungsmacher aktuell ganz massiv den rechten Rand, wie dies beispielsweise der Extremismusforscher Cas Mudde immer wieder dargestellt hat.
Das bedeutet aber auch, dass der antimuslimische Rassismus immer schon Teil der so genannten "Mitte der Gesellschaft" war und nicht erst in diese eindringen musste. Hier ist es vor allem die Mittelschicht, die über einen elitären Diskurs der angeblich eigenen kulturellen Überlegenheit - Stichwort: Aufklärung - in einer chauvinistischen und eurozentristischen Haltung weiter erstarkt, wie unsere Medienanalysen dies auch deutlich machen: Spätestens seit den 1990er-Jahren haben die so genannten seriösen Medien - allen voran Peter Scholl-Latour - das antiislamische Ressentiment bedient und dieses überhaupt erst groß und salonfähig gemacht.

Das antiislamische Ressentiment ist also bereits seit Langem sowie vor allem in der Mittelschicht verankert?

Genau. Und paradoxerweise hat gerade die Sarrazindebatte das Thema Islamophobie dann noch weiter aufgewertet - zugleich allerdings auch erstmalig zu einer kritischen Auseinandersetzung mit derselben geführt. Dass seine inzwischen zwei Bücher mit massiver finanzieller und medialer Unterstützung überhaupt erst bekannt und "zum Thema" gemacht wurden, spricht dabei Bände.
Leider helfen uns die Heitmeyer Studien "Deutsche Zustände" nicht viel weiter, herauszubekommen, wann und wie antiislamische Vorurteile gestärkt wurden und Verbreitung fanden, weil sie erst 2002 mit der systematischen Erfassung von Ressentiments begannen. Eine Studie der Uni Jena zeigt allerdings exemplarisch auf, dass ein Zusammenhang zwischen öffentlichen Diskursen und dem Anstieg von Ängsten und Ressentiments festzustellen ist. Wolfgang Frindte und Nicole Haußecker weisen in der sehr aufwändigen Untersuchung "Inszenierter Terrorismus" genau nach, wie die Veröffentlichungen von Terrorwarnungen nicht etwa die Angst vor Terror, sondern jene vor Muslimen geschürt haben.

Und über derlei "Medieneinseitigkeit" gibt es innerhalb der Medien keine Debatte und kritische Reflexion?

Nein, die Antwort-Reflexe der Medien, sich auf berechtigte Kritik dieser Art hin - etwa von Noam Chomsky oder Reinhard Schulz - schlicht von jeder eigenen Verantwortung freizusprechen und so zu tun, als wären sie nur Beobachter, halten leider ungebrochen an.
So hat man sich beispielsweise im Schock über das Breivik-Massaker auch auf die Auswüchse des Hasses gegenüber Muslimen und den Islam im Internet gestürzt, anstatt etwa die eigene Rolle im Fernseh- und Printmedienbereich einmal kritisch zu reflektieren. Und diese Nichtreflexion der eigenen Rolle als Medien lässt sich auch ganz aktuell wieder beobachten, wenn man überrascht auf die Pegida starrt und so tut, als hätte diese Entwicklung nichts mit eigenen Fehlleistungen zu tun.
Dass die entsprechend verblendeten Menschen nun auf die Straße gehen, ist für mich darum keine Überraschung. Und dass sie sich zurecht als anschlussfähig einschätzen, so dass ihre Demonstrationen eine breite Berichterstattung erhalten, dürfte sie eher ermutigen, weiter zu machen.
Vergleicht man den Umgang mit den aktuellen Demonstrationen für den Frieden, so sieht man sehr deutlich, wie es aussieht, wenn Medien die eine Bewegung eher mittels "Verständnis" ermutigen, die andere hingegen im Keim zu ersticken versuchen.

Das klingt jetzt alles nicht sehr ermutigend. Was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Wir brauchen vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit der Funktion von Rassismus in unserer Gesellschaft. Und wir brauchen mehr Berichterstattung über die ökonomischen und geopolitischen Zusammenhänge hinter Entwicklungen wie Terrorismus, so genannten Auslandseinsätzen etc. Und auch eine kritischere Begleitung von NATO, WTO oder IWF wäre vonnöten, um komplexere Zusammenhänge so zu erfassen, dass sie alsdann nicht mehr auf "die Juden" oder "die Muslime" abgelenkt werden könnten.
Eine ungerechte Weltwirtschaftsstruktur und Kriege bilden aktuell ein unglückliches Zwillingspärchen. Aber an dieser Stelle bin ich nicht sicher, ob eine zunehmend ohnmächtige Politik ihre eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten zuzugeben bereit ist, oder ob die Politik der regelrechten Einladung zur Projektion von Missständen auf Minderheiten nicht vielmehr erliegen wird. Hier ist die Zivilgesellschaft gefordert - auch und entgegen medialer Verstärker bzw. Niedermacher.
Und vielleicht wollen wir kein säkularer Staat mehr sein, der Religion umschließt, unterordnet und schützt. Vielleicht ist es stattdessen an der Zeit, über ein laizistisches Modell zu diskutieren, für alle Religionen gleich. Gleiche Rechte und Pflichten also für alle oder keinen.
Noch zentraler scheint mir aber der Bildungsbereich zu sein, der zunehmend ausgehöhlt statt gestärkt wird. Wir müssen uns in Bildungsfragen breiter aufstellen statt Bildung zu reduzieren. Zum Geschichtsunterricht gehört dabei eben auch das Wissen unserer arabo-islamischen Wurzeln neben den griechischen, römischen usw. usf. Das mag vielleicht unrealistisch klingen, ist es aber nicht. Ich denke vielmehr: Wenn wir es nur wollen, ist alles möglich. Die jetzigen Entwicklungen sind schließlich ja auch keine Naturgewalt, sondern wurden von Menschen gemacht.
Zuletzt aktualisiert: 08. Januar 2015, 10:06 Uhr

Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!

Aufruf

zf. Mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Kultur warnen in einem Aufruf vor einem Krieg mit Russ­land. Initiiert wurde der Aufruf vom früheren Berater des Kanzlers Helmut Kohl, Horst Teltschik (CDU), vom ehemaligen Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Walter Stützle (SPD), und von der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen). Der Aufruf kann als Petition mittlerweile auch im Internet mittels verschiedener Online-Petitionen unterzeichnet werden.
Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten. Alle Europäer, Russland eingeschlossen, tragen gemeinsam die Verantwortung für Frieden und Sicherheit. Nur wer dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, vermeidet Irrwege.
Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen. Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermassen. Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verlorengegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.
In diesem Moment grosser Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michail Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden. Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen war eine grosse, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte. Eine Entscheidung von historischer Dimension. Aus der überwundenen Teilung sollte eine tragfähige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok erwachsen, wie sie von allen 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedstaaten im November 1990 in der «Pariser Charta für ein neues Eu­ropa» vereinbart worden war. Auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Prinzipien und erster konkreter Massnahmen sollte ein «Gemeinsames Europäisches Haus» errichtet werden, in dem alle beteiligten Staaten gleiche Sicherheit erfahren sollten. Dieses Ziel der Nachkriegspolitik ist bis heute nicht eingelöst. Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.
Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern. Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer.
Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russ­land zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das grössenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.
Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschliessen muss das Leitmotiv deutscher ­Politiker sein.
Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder aussenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit Nato-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.
Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker: «Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. … Nun können sie ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann. Für die Völker Europas beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine gesamteuropäische Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen. Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa zu einigen oder gemäss leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische Gegensätze zurückzufallen.»
Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg. Richard von Weizsäckers Mahnung ist heute, ein Vierteljahrhundert später, aktueller denn je.
Die Unterzeichner
Mario Adorf (Schauspieler)
Robert Antretter (Bundestagsabgeordneter a.D.)
Prof. Dr. Wilfried Bergmann (Vize-Präsident der Alma Mater Europaea)
Luitpold Prinz von Bayern (Königliche Holding und Lizenz KG)
Achim von Borries (Regisseur und Drehbuchautor)
Klaus Maria Brandauer (Schauspieler, Regisseur)
Dr. Eckhard Cordes (Vorsitzender Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft)
Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin (Bundesministerin der Justiz a.D.)
Eberhard Diepgen (ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin)
Alexander van Dülmen (Vorstand A-Company Filmed Entertainment AG)
Stefan Dürr (Geschäftsführender Gesellschafter und CEO Ekosem-Agrar GmbH)
Dr. Erhard Eppler (Bundesminister für Entwicklung und Zusammenarbeit a.D.)
Prof. Dr. Dr. Heino Falcke (Propst i.R.)
Prof. Hans-Joachim Frey (Vorstandsvorsitzender Semper Opernball Dresden)
Pater Anselm Grün (Pater)
Sibylle Havemann (Berlin)
Dr. Roman Herzog (Bundespräsident a.D.)
Christoph Hein (Schriftsteller)
Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch (Bundestagsvizepräsident a.D.)
Volker Hörner (Akademiedirektor i.R.)
Josef Jacobi (Biobauer)
Dr. Sigmund Jähn (ehemaliger Raumfahrer)
Uli Jörges (Journalist)
Prof. Dr. Dr. h.c. Margot Kässmann (ehemalige EKD Ratsvorsitzende und Bischöfin)
Dr. Andrea von Knoop (Moskau)
Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz (ehemalige Korrespondentin der ARD in Moskau)
Friedrich Küppersbusch (Journalist)
Vera Gräfin von Lehndorff (Künstlerin)
Irina Liebmann (Schriftstellerin)
Dr. h.c. Lothar de Maizière (Ministerpräsident a.D.)
Stephan Märki (Intendant des Theaters Bern)
Prof. Dr. Klaus Mangold (Chairman Mangold Consulting GmbH)
Reinhard und Hella Mey (Liedermacher)
Ruth Misselwitz (evangelische Pfarrerin Pankow)
Klaus Prömpers (Journalist)
Prof. Dr. Konrad Raiser (eh. Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen)
Jim Rakete (Fotograf)
Gerhard Rein (Journalist)
Michael Röskau (Ministerialdirigent a.D.)
Eugen Ruge (Schriftsteller)
Dr. h.c. Otto Schily (Bundesminister des Inneren a.D)
Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer (ev. Theologe, Bürgerrechtler)
Georg Schramm (Kabarettist)
Gerhard Schröder (Bundeskanzler a.D.)
Philipp von Schulthess (Schauspieler)
Ingo Schulze (Schriftsteller)
Hanna Schygulla (Schauspielerin, Sängerin)
Dr. Dieter Spöri (Wirtschaftsminister a.D.)
Prof. Dr. Fulbert Steffensky (kath. Theologe)
Dr. Wolf-D. Stelzner (geschäftsführender Gesellschafter: WDS-Institut für Analysen in Kulturen mbH)
Dr. Manfred Stolpe (Ministerpräsident a.D.)
Dr. Ernst-Jörg von Studnitz (Botschafter a.D.)
Prof. Dr. Walther Stützle (Staatssekretär der Verteidigung a.D.)
Prof. Dr. Christian R. Supthut (Vorstandsmitglied a.D. )
Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik (ehemaliger Berater im Bundeskanzleramt für Sicherheit und Aussenpolitik)
Andres Veiel (Regisseur)
Dr. Hans-Jochen Vogel (Bundesminister der Justiz a.D.)
Dr. Antje Vollmer (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D.)
Bärbel Wartenberg-Potter (Bischöfin Lübeck a.D.)
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (Wissenschaftler)
Wim Wenders (Regisseur)
Hans-Eckardt Wenzel (Liedermacher)
Gerhard Wolf (Schriftsteller, Verleger)
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1977

Peter Scholl-Latour: «Der Fluch der bösen Tat»

«Das Scheitern des Westens im Orient»

von Rainer Schopf
Peter Scholl-Latour hat kurz vor seinem Tod ein neues Buch geschrieben, das im Herbst 2014 veröffentlicht wurde. Es ist das dreiunddreissigste Buch in einer langen Reihe hervorragender publizistischer Werke, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der letzten 70 Jahre zieht. Sein 1980 erschienenes Buch «Der Tod im Reisfeld» über Indochina ist das meistverkaufte Sachbuch Deutschlands seit 1945. In «Der Weg in den neuen Kalten Krieg» (2008) analysierte er die Jahre von 2001 bis 2008, insbesondere die Folgen von 9/11 auf die Weltpolitik. Nun also folgt zuletzt «Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient» mit aktuellen Analysen der Schlachtfelder im Orient und in der Ukraine. Es ist das Vermächtnis eines Deutsch-Franzosen, eines grossen Europäers, eines Liebhabers der Vielfalt der Menschen und Landschaften von der Levante bis zum Golf und darüber hinaus. Peter Scholl-Latour war ein wahrer Weltbürger.

Biographisches

Peter Scholl-Latour wurde am 8. März 1924 in Bochum als Sohn Elsass-Lothringer Eltern geboren. Er galt wegen seiner jüdischen Mutter Mathilde Nussbaum nach den Nürnberger Rassegesetzen als Mischling 1. Grades. Der Bruder der Mutter, Robert Nussbaum, wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. Peter Scholl-Latour wurde katholisch getauft und besuchte von 1936 bis 1940 das Jesuitenkolleg Sankt Michael im schweizerischen Freiburg. Danach musste er nach Deutschland zurückkehren und legte 1943 in Kassel die Abiturprüfung ab. 1944 wollte er freiwillig der französischen Armee im Kampf gegen Deutschland dienen. Als dieser Versuch scheiterte, versuchte er, sich den Partisanen Titos anzuschliessen. Er wurde aber schon in der Steiermark verhaftet und war bis 1945 in Gestapo-Haft in Graz, Wien und Prag. Nach seiner Befreiung hat Peter Scholl-Latour dann in der französischen Fallschirmjägereinheit Commando Ponchardier gedient.
Ab 1948 studierte Peter Scholl-Latour an der Universität Mainz und an der Pariser Sorbonne Philologie, Politikwissenschaften und Literatur. 1954 promovierte er über den deutschen Schriftsteller Rudolf G. Binding. Ausserdem erwarb er 1958 ein Diplom in Arabistik und Islamkunde an der Universität Beirut.
Seine berufliche Laufbahn führte über zahlreiche Stationen deutscher und französischer Zeitungen, den deutschen Hörfunk und die Fernsehsender von ARD, WDR, ZDF und RTL zum UFA-Film und zum Wochenmagazin Stern. Seit 1988 war Peter Scholl-Latour vor allem als freier Autor tätig. Er hatte die deutsche und französische Staatsbürgerschaft und schätzte Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Er starb am 16. August 2014 in Rhöndorf und wurde auf dem dortigen Waldfriedhof beigesetzt.
Zwei besondere Merkmale prägen seine journalistische Tätigkeit: die Frage cui bono und sein stetes Bemühen um authentische und wahrhafte Informationen aus ­erster Hand. Er war immer vor Ort, riskierte oft sein Leben, weil er die Grundlagen für seine Bücher selbst recherchierte. Pressesprecher, Spin-doctors und Think tanks waren ihm ein Greuel. Im Dialog mit seinen Gesprächspartnern machte er sich sein eigenes Bild und manche Gegner. Viel Feind’ – viel Ehr’. Über Jahrzehnte hinweg ist er gegen den west­lichen Mainstream angeschwommen. In seiner Wortwahl hat er die transatlantischen Propagandathesen nicht reflexartig wiedergekäut. Er war mit vielen ranghohen Politikern ­befreundet und hat ihr Tun dennoch kritisch begleitet und kommentiert. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour in seiner Rede gesagt: «Das, was Scholl-Latour schreibt, ist kritisch geprüft, es ist seine wohl erwogene Wahrheit. Dies ist doch ein entscheidendes Kriterium von Freundschaft: sich darauf verlassen zu können, dass der Freund mir seine Wahrheit sagt und nichts anders!» (S. 344)
Sein letztes Buch ist für westliche Leser nicht viel einfacher zu lesen als die Analysen zu Asien von Kishore Mabubani oder Pankaj Mishra. Die meisten zitierten Personen entstammen dem westlichen und orientalischen Kulturkreis. Einige werden dem interessierten Zeitgenossen geläufig sein. Etwa 300 Personen sind im Register gelistet, und es ist spannend zu lesen, was sie zum Fluch der bösen Tat zu sagen haben.

Der Fluch der bösen Tat

Peter Scholl-Latour hat seinem Buch ein Zitat von Friedrich Schiller aus Wallenstein vorangestellt:
«Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie,
fortzeugend, immer Böses muss gebären.»
Auf den vorderen und hinteren Buchdeckeln ist die Karte mit der eingezeichneten Sykes-Picot-Linie abgedruckt. In diesem geheimen Abkommen haben Frankreich und Grossbritannien unter sich den Nordirak, Syrien und die Südost-Türkei aufgeteilt. 1917 veröffentlichte das revolutionäre Russland dieses Geheimabkommen und demaskierte damit die böse Tat der Entente-Mächte, worüber diese nicht amüsiert waren. In sieben Kapiteln schildert Peter Scholl-Latour die jahrhundertlangen politischen und militärischen Interventionen des Westens zwischen der Levante und dem Golf.

Ukraine

Im ersten Kapitel beleuchtet der Autor die fragwürdige Politik des Westens gegenüber Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989: «Der absurdestes Territorialkonflikt spielt sich in der Ukraine ab, und das Blutvergiessen erreicht seinen Höhepunkt präzis in einer Region, die im Zweiten Weltkrieg zu den blutigsten Schlachtfeldern gehörte.» (S. 9) Nach Napoleon, Kaiser Wilhelm II und Hitler soll die Ukraine wieder als Aufmarschgebiet gegen Russland missbraucht werden. «Der dümmste Ausdruck, der den deutschen Kommentatoren in den vergangenen Monaten eingefallen ist, um jene Stimmen zu diffamieren, die ein Minimum an Objektivität bei der Beurteilung der russischen Diplomatie anforderten, lautet Putin-Versteher.» (S. 18) Dazu zählen die Altbundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder, deutsche Spitzenmanager und Intellektuelle. Und die aktuelle Kanzlerin, Angela Merkel? Peter Scholl-Latour bezeichnet sie als die Zarin aus der Uckermark, die sich anmasst, den unterentwickelten Russen Mängel an Demokratie und Meinungsfreiheit vorzuwerfen. (S. 31) Es sei angemerkt, dass sich im Zweiten Weltkrieg 150 000 ukrainische Nationalisten in die Waffen-SS gemeldet hatten, die 600 000 Russen, Polen und Juden umbrachten und mit extremer Heftigkeit bis 1950 Russ­land bekämpften. (S. 26f.) Ihr Anführer, Stepan Bandera, gilt heute als ukrainischer Nationalheld. Er und seine SS-Truppe wurden nicht vor dem Nürnberger Kriegstribunal angeklagt und verurteilt, sondern in die USA und Kanada verbracht. Seine vom amerikanischen Geheimdienst geschulten Nachfolger haben den Maidan angezettelt, den gewählten Präsidenten gestürzt und in die neue Regierung vier ihrer Faschisten als Minister plaziert. Wenn deutsche Politiker heute als Sittenwächter und Künder einer freiheitlichen Ordnung auftreten, sagt Peter Scholl-Latour dazu: «Etwas mehr Zurückhaltung wäre geboten.» (S. 31)
Peter Scholl-Latour ist sich bewusst, dass er sich «mit dieser Einführung dem Vorwurf des Antiamerikanismus aussetze. Aber wir erliegen spätestens seit dem zweiten Irak-Feldzug einer umfassenden Desinformation, die in den USA, Grossbritannien und Israel durch perfekt organisierte Institutionen betrieben wird und im Grunde ebenso ernst zu nehmen ist wie die allgegenwärtige Überwachung durch die NSA. Wieder einmal erweist sich Helmut Schmidt, der angesehenste Staatsmann Deutschlands, als einsamer Rufer in der Wüste, wenn er sich in der ‹Bild›-Zeitung darüber wundert, dass manche der westlichen Politiker und viele Medien zurzeit ganz anders schreiben, als die Deutschen denken. Die Deutschen, so stellt der Altbundeskanzler fest, sind bei weitem friedfertiger als die Leitartikler in der ‹Welt›, der ‹FAZ›, der ‹Bild› und auch […] der ‹Zeit›.» (S. 18) Und Peter Scholl-Latour weiter: «Die weltumspannende Desinformationskampagne amerikanischer Propagandainstitute, der es gelungen ist, die europäische Medienlandschaft gründlich zu manipulieren, mag durchaus berechtigt erscheinen, wenn es darum geht, den Feind zu täuschen. Sie mag sogar bei der Koordinierung von Bündnispartnern nützlich sein. Doch sie wird zum Verhängnis, wenn ihre Autoren sich im Netz der eigenen Lügen und Zwangsvorstellungen verstricken, wenn sie ihren eigenen Phantasmen erliegen.» (S. 37) Das eben ist der Fluch der bösen Tat.

Türkei und Syrien

Im Frühjahr 2013 brach Peter Scholl-Latour nach Anatolien auf, um einer dort stationierten Einheit der Bundeswehr einen Besuch abzustatten. Deren Patriot-Raketen waren auf Syrien gerichtet und auf Antrag der Regierung in Ankara vom deutschen Einsatzkommando der Nato in Geltow bei Potsdam in Stellung gebracht worden, um Solidarität mit den türkischen Bündnispartnern zu bekunden. Aber jedermann war sich bewusst, dass es sich dabei um eine ziemlich überflüssige Beistandsgeste handelte. «Das Übergewicht, über das der Generalstab von Ankara verfügte, war so enorm, dass die türkische Armee […] in kürzester Frist mit ihren Divisionen bis zur Hauptstadt Damaskus vorrücken könnte. Im Zuge einer systematischen Desinformationskampagne hatten sich die Politiker und die Medien des Westens darauf geeinigt, dass es sich bei jedweden völkerrechtswidrigen Übergriffen nur um terroristische Absichten des syrischen Assad-Regimes handeln könne. Die durchaus glaubhaftere Hypothese, dass die vom Westen unterstützten Rebellen grösseres Interesse daran hätten, solche Zwischenfälle zu inszenieren, um die internationale Meinung und vor allem die Regierung Erdogan zusätzlich gegen das verfemte Regime von Damaskus aufzubringen, wurde offenbar in Nato-Kreisen nicht ernsthaft erwogen. Die elementare Frage cui bono – wer profitiert davon? – wurde nicht gestellt.» (S. 47f.)
Peter Scholl-Latour ist dann statt dessen noch im Mai 2014, als der Krieg dort bereits voll entflammt war, nach Syrien gereist. Seine Beobachtungen und Analysen sind eingebettet in Hinweise auf Erfahrungen aus früheren Aufenthalten, die teilweise bereits 60 Jahre zurückliegen. Seine neuen Erkenntnisse sind eingebunden in diesen erlebten Kontext und seine profunden Geschichtskenntnisse vom Altertum bis in die Neuzeit. Die Schilderungen der Menschen und Landschaften, denen er auf seinen Reisen begegnete und die ihn begleiteten, sind literarische Leckerbissen und zeugen von seiner tiefen Verbundenheit mit dem Wohl der Völker in aller Welt.
Peter Scholl-Latour ist die Geschichte der Sunniten, Schiiten, Alewiten, Christen, Juden, Kurden usw. zwischen der Levante und dem Golf vertraut. Er schlägt immer wieder Bögen vom aktuellen Geschehen bis zu den historischen Anfängen. Ihm in seinen komplexen Gedankengängen zu folgen erfordert Konzentration, notfalls Spickzettel und vor allem Geduld und Mut, sich in die Tiefen der vielfältigen und verworrenen Zusammenhänge einzuarbeiten. Als Lohn winkt nichts weniger als Aufklärung und Erkenntnis über Fakten, die von unseren Medien verschleiert werden. Es freut den Leser, wenn selbst Peter Scholl-Latour sich fragt, wer sich da noch zurechtfinden kann. Zur Situation in Syrien schreibt er: «Es gab keine klar umrissenen Territorien, in denen Freund und Feind sich säuberlich getrennt gegenüberstanden. Es hatte sich eine Art Leopardenfell herausgebildet, wie in der späten Phase des amerikanischen Vietnam-Engagements, dessen Musterung sich ständig veränderte.» (S. 89) So ähnlich hatte mir mein Vater die Situation in Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben, als Millionen von Menschen auf der Flucht waren und Gefahr liefen, zu sinnlosen Opfern einer breit angelegten Vertreibung zu werden.
Heute gibt es in Syrien keine geordneten Befehlsstränge mehr, und die Menschen sind nun dort millionenfach auf der Flucht. Peter Scholl-Latour versucht erst gar nicht, sich einen realistischen Überblick über die militärischen Kräfteverhältnisse in Syrien zu verschaffen oder gar eine strategische Analyse zu erlangen. Wichtiger als die tagespolitischen Scharmützel sind für ihn die kriegstreibenden Kräfte in diesem Stellvertreterkrieg: «war by proxies». (S. 91f.)
Was sind die grossen Linien der Politik in Syrien, das sich nach Peter Scholl-Latour «in einem Zustand der Anarchie befindet»? (S. 94)
  • Die syrische Rebellion ist nicht in den Metropolen wie Kairo oder Tunis ausgebrochen, sondern am Rand des syrischen Staates.
  • Der Krieg ist von aussen in ein bis dahin stabiles Staatsgebilde hineingetragen worden, das einzig stabile Staatsgebilde im Orient.
  • Die revolutionäre Freie Syrische Armee (FSA) wurde durch massive Finanzierung von Saudi-Arabien und dem Emirat Katar aufgebaut.
  • Die Befehlsstrukturen der FSA wurden unter Anleitung der CIA von Jordanien bereitgestellt.
  • Unter Regie der CIA wurden die syrischen Rebellen mit modernem Kriegsgerät ausgerüstet.
  • In Washington, Riad und Jerusalem war man überzeugt, dass sich die Rebellion gegen Assad zu einer unwiderstehlichen Volkserhebung ausweiten würde, der der Assad- und Alawiten-Clan binnen kurzer Zeit erliegen würde. «Wieder einmal – wie einst im Irak, in Libyen, in Tunesien, in Ägypten, morgen vielleicht in Iran – sind die westlichen Geheimdienste Opfer der eigenen Wunschvorstellungen und utopischer Fehlplanungen geworden.» (S. 96)
  • Die tausend Kilometer lange Grenze zur Türkei wurde von der Regierung Erdogan auf der ganzen Linie für das Waffenarsenal aus Saudi-Arabien und Katar geöffnet.
  • Den Kriegern des Islamischen Staats gelingt es immer wieder, die Waffenlieferungen, die mit Hilfe der CIA und zwielichtigen Contract workers der FSA zugedacht waren, für sich zu erbeuten.
  • Das totale Fiasko der westlichen Subversionsstrategie im nahöstlichen Raum ist die Unterstützung jener Organisationen, die einen islamischen Staat in Syrien gründen wollen.
  • Peter Scholl-Latour lässt einen von den regulären Truppen Assads zur FSA desertierten Major direkt zu Wort kommen: «Sie werden sich wundern, dass ich so unverblümt über unsere hoffnungslose Situation berichte … Aber heute wissen wir, dass wir nur Schachbrettfiguren in einem great game sind.» (S. 99)
  • Der syrische Präsident Assad wird durch Russland und Iran mit neuem Kriegsmaterial versorgt und kann dadurch den Sieg der Rebellen verhindern.
  • Franzosen und Briten standen zu Beginn, wie in Libyen, an der Spitze der westlichen Militäreinsätze gegen syrische Flughäfen und Militärbasen, beliefert mit Munition und Logistik von den Amerikanern.
    Erst als die Krieger des Islamischen Staats dazu übergingen, systematisch Massaker unter den Andersgläubigen zu veranstalten, genehmigte auch Barack Obama das militärische Eingreifen seiner Luftwaffe mit dem Argument, es müsse ein Genozid der Christen und Yeziden verhindert werden.
  • «Der Regimewechsel in Damaskus oder die Aufsplitterung Syriens hätte in der Absicht der USA, Israels und Saudi-Arabiens vornehmlich dazu gedient, den Einfluss des schiitischen Islams […] zu konterkarieren und die Mullakratie von Teheran in die Schranken zu weisen.» (S. 99)
Eindringlich schildert Peter Scholl-Latour auch im weiteren Verlauf des Buches das Durcheinander ethnischer, religiöser und ideologischer Konflikte der Völker zwischen Levante und Golf. Gleichzeitig hebt er die Jahrhunderte langen politischen und militärischen Interventionen des Westens hervor, die für ihn dafür verantwortlich sind, dass diese Völker nicht selbstbestimmt in Frieden und Eintracht miteinander leben können. Peter Scholl-Latour war der Orient seit Jahrzehnten vertraut. Er hat ihn erst jüngst wieder bereist. Sein letztes Buch ist wie ein gesammelter Nachlass. Es schärft den Blick auf die Realität und vertreibt die Nebelschwaden der Desinformation und Manipulation westlicher Machtpolitik.    •

Zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour

von Helmut Schmidt
Journalisten können auf sehr unterschiedliche Arten den Lauf der Welt kommentieren. Zum Beispiel aus der bequemen Perspektive heimischer Schreibstuben. Oder aber: Sie begeben sich selbst in die Fremde und machen sich ein eigenes Bild. Zweifellos gehört Peter Scholl-Latour eindeutig zur letzten Gattung.
Seit Jahrzehnten beeindruckt Peter Scholl-Latour durch seine Expertise fremder Kontinente und Kulturen. Sie ist begründet durch unzählige persönliche Begegnungen und Erfahrungen. Seine Reportagen sind nicht nur kenntnisreiche Beobachtungen, sondern überzeugen durch ihre geopolitische Scharfsicht.
Quelle: Grusswort von Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2003

Jazenuk bei Merkel: Einspruch wider mehr Aufrüstung!

Newsletter vom 08.01.2015 - Außer Kontrolle

KIEW/BERLIN (Eigener Bericht) - Begleitet von Protesten verhandelt der
Kiewer Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk am heutigen Donnerstag mit
Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Ausweitung der deutschen
Unterstützung für die Ukraine. Jazenjuk treibt die Aufrüstung der
ukrainischen Streitkräfte mit aller Macht voran; Beobachter vermuten,
Kiew bereite eine erneute Offensive im ukrainischen Bürgerkrieg vor.
Berichten zufolge sind mehrere NATO-Staaten in die Aufrüstung der
Streitkräfte des Landes involviert. Die Bundesregierung hat bereits im
September bestätigt, sie habe Anträge auf die Ausfuhr unter anderem
von "Schutzausrüstung" in die Ukraine positiv beschieden. Sogar
transatlantische Unterstützer des Kiewer Umsturzes vom Februar 2014
warnen inzwischen, der Einflussgewinn faschistischer Milizen und
gewisser Oligarchen drohe ein Warlord-System zu schaffen, das sich
jeglicher Kontrolle entziehe. Mit der Unterstützung extrem rechter
Bataillone hat sich vor allem die Partei von Ministerpräsident
Jazenjuk hervorgetan, der bereits gestern von Bundespräsident Joachim
Gauck feierlich empfangen worden ist.

mehr
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59027