Saturday, January 9, 2016

Syrien – Ein Friedensplan, der den Verlierern erlaubt, das Gesicht zu wahren

von Thierry Meyssan
Der Wortlaut der Resolution 2254 [des Weltsicherheitsrates vom 18.12.2015] bestätigt im wesentlichen den von dem Genfer Kommuniqué, das vor drei Jahren verabschiedet wurde. Die beiden grössten militärischen Mächte der Welt erklären sich mit der Aufrechterhaltung der Arabischen Republik Syrien einverstanden, während die Imperialisten – an erster Stelle Frankreich – weiter ihren Traum verfolgen, das Regime gewaltsam zu ändern. Aber die Welt hat sich in diesen Jahren verändert, und es scheint schwierig, dieses neue Abkommen zum Scheitern zu bringen, wie man das im Jahr 2012 tat.

Die Beziehungen zwischen Washington und Moskau

Die Vereinigten Staaten und die Russische Föderation haben zum zweiten Mal miteinander eine Vereinbarung gefunden, um einen Friedensplan für Syrien zu schliessen.
  • Das erste Mal war dies während der Genfer Konferenz im Juni 2012 der Fall.1 Es ging darum, in Syrien und zugleich im gesamten Nahen Osten Frieden zu schaffen, indem die Region in Einflusszonen aufgeteilt würde.2 Diese Vereinbarung wurde jedoch sofort von US-Aussenministerin Hillary Clinton und ihrer Gruppe der «liberalen Falken» und «Neokonservativen» sabotiert. So organisierte Frankreich keine zwei Wochen später die Wiederaufnahme des Krieges,3zunächst anlässlich der Pariser Konferenz der «Freunde Syriens», dann mit der Operation «Vulkan in Damaskus und Erdbeben in Syrien».4 Zu diesem Streit kam Ende 2013 noch der Staatsstreich in der Ukraine. Die beiden Ereignisse markierten die nahezu vollständige Aussetzung der diplomatischen Beziehungen zwischen Washington und Moskau.
  • Die zweite Vereinbarung ist während des Besuchs von John Kerry bei Wladimir Putin im Kreml, am 15. Dezember 2015, getroffen worden.5 Diesem Treffen folgte unverzüglich die Sitzung der Hohen Kommission der syrischen Opposition und die Verabschiedung der Resolution 22536, welche die Finanzierung von al-Kaida und IS verbietet, und Resolution 22547, mit der die in Genf und Wien entwickelten Bemühungen für Syrien institutionalisiert werden. Zur allgemeinen Überraschung wählte die Hohe Kommission der Opposition den ehemaligen Baath-Premierminister Riad Hidschab – von einem saudiarabischen Stamm abstammend –, um ihre Delegation zu führen. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, erklärte Staatssekretär Kerry im Kreml, die Stellungnahme der Vereinigten Staaten zu Präsident al-Assad stelle sich nicht gegen eine Abstimmung der Syrer, und sagte dann im Sicherheitsrat, der «­politische Prozess biete keine Wahl zwischen al-Assad und IS, sondern zwischen Krieg und Frieden».
Der Abzug der iranischen Militärberater begann kurz vor dem Gipfel im Kreml.
Russland hat sich den Bedingungen des Genfer Kommuniqués angeglichen. Sie sehen tatsächlich vor, Teile der Opposition in eine Regierung der nationalen Einheit der Arabischen Republik Syrien zu integrieren. Um zu zeigen, dass es gegen die Terroristen kämpft, nicht aber gegen politische Gegner, auch wenn sie bewaffnet sind, hat Russland mit der freien syrischen Armee (FSA) und deren Förderer Frankreich ein Abkommen getroffen. Obwohl diese Armee vor Ort nie die Bedeutung hatte, welche die atlantischen Medien ihr gegeben haben, und sie seit Ende 2013 auch nicht mehr existiert, arbeiten nunmehr 5000 Kämpfer, die aus dem Nichts aufgetaucht sind, genauso gut mit der russischen Armee wie auch mit der Syriens zusammen gegen al-Kaida und IS; eine doch erstaunliche Inszenierung, wenn man weiss, dass der Süden für die Basis der FSA gehalten wird, sie nun aber im Norden des Landes kämpft.
Seit dem Fiasko der Konferenz in Genf vom Juni 2012 ist viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Gewisse Protagonisten sind ausgeschieden, und das Kräfteverhältnis hat sich umgekehrt.
  • Präsident Obama scheint wieder einen Teil seiner Macht zurückgewonnen und das Projekt des «arabischen Frühlings» beendet zu haben. So ist es ihm gelungen, nacheinander General David Petraeus (den er im November 2012 in Handschellen abführen liess), Hillary Clinton (im Januar 2013) und General John Allen (erst vor zwei Monaten im Oktober 2015 zum Rücktritt gezwungen) loszuwerden. Ebenso räumte er in seiner Verwaltung – einschliesslich dem Nationalen Sicherheitsrat – mit der Muslimbruderschaft auf. Allerdings bleibt Jeffrey Feltman Nummer zwei der Vereinten Nationen. Er verfasste einen Plan für die totale und bedingungslose Kapitulation Syriens und zögerte die Friedensverhandlungen sehr hinaus, weil er auf die Niederlage der Syrischen Arabischen Armee hoffte.8
  • Im Juni 2013 hat das Weisse Haus den Emir Hamad al Thani von Katar zum Rücktritt und seinen Premierminister Hamad bin Dschassem zum Rückzug aus dem politischen Leben gezwungen.9 Letzterer wurde allerdings Ko-Vorsitzender der Brookings Institution Doha, während der neue Emir Tamim die Finanzierung der Muslimbruderschaft und ihrer terroristischen Organisationen bis zur diplomatischen Krise mit seinem Nachbarn Saudi-Arabien im März 2014 weitergeführt hat.10
  • Trotz der Warnungen der Defense Intelligence Agency DIA [US-Militärgeheimdienst] hat die Gruppe von David Petraeus es Mitte 2014 geschafft, die Entwicklung einer Organisation zu steuern, die er im Jahr 2004 mit Oberst James Steele, Oberst James Coffman und Botschafter John Negroponte unter dem Namen «Islamisches Emirat Irak» geschaffen hatte. Sie haben sie für die ethnische Säuberung eines Teils dieses Landes benutzt, um es dann spalten zu können. Diese Operation wurde von Staaten (Saudi-Arabien, Zypern, Vereinigte Arabische Emirate, Frankreich, Italien, Israel, Katar, Türkei und Ukraine) und multinationalen Konzernen (Exxon-Mobil, KKR [Kohlberg Kravis Roberts & Co. L.P.] und Academi) unterstützt.
  • Dem Weissen Haus ist es auch gelungen, sowohl den Clan des ehemaligen Königs Abdullah als auch denjenigen des Prinzen Bandar bin Sultan aus der saudiarabischen Führung zu entfernen und sie nur den Prinzen Mohammed bin Najef und Mohammed bin Salman anzuvertrauen, unter der Leitung des neuen Königs Salman. Diese neue Verteilung schwächt die Macht, ermöglicht aber eine politische Änderung.
  • Das 5+1-Abkommen mit Iran markiert den Verzicht Teherans auf seine revolutionären Ambitionen,11 so dass ein Modus vivendi mit den Saudis vorstellbar wird,12 auch wenn die jemenitische Episode die Aufgabe erschwert hat.
  • Sowohl Washington als auch Moskau können den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf einmal nicht mehr ausstehen.13 Die Zugehörigkeit der Türkei zur Nato zwingt das Weisse Haus jedoch zur Vorsicht, dies um so mehr, als Ankara sich mit Kiew verbündet hat,14 ein weiterer wichtiger Kriegsschauplatz für die Gesamtstrategie der Vereinigten Staaten.15
  • Das Kräfteverhältnis zwischen Washington und Moskau hat sich seit Juni 2012 bis September 2015 allmählich umgekehrt. Die Nato hat sowohl in Sachen Interkontinental-Raketen16 als auch in der konventionellen Kriegsführung ihre Überlegenheit verloren,17 so dass Russland jetzt die erste Militärmacht der Welt ist. (? bloggerin)
Infolgedessen sind die Rollen heute getauscht. Im Jahr 2012 beabsichtigte der Kreml, sich auf das gleiche Niveau mit dem Weissen Haus zu hieven. Heute muss letzteres den Verlust seiner militärischen Dominanz durch Verhandlungen auf politischer Ebene wettmachen.
Als Zeichen der Zeit hat die Rand Corporation, ein symbolträchtiger Think tank des militärisch-industriellen Komplexes, soeben ihren Friedensplan für Syrien veröffentlicht. Diese mächtige Denkfabrik hatte schon im Oktober 2014 das US-amerikanische Establishment schockiert, als sie beteuerte, dass der Sieg von Präsident al-Assad das beste Ergebnis für Washington wäre.18Sie schlägt jetzt einen Waffenstillstand vor, der die Beteiligung von Vertretern der Opposition und der Kurden in der künftigen Regierung der nationalen Einheit rechtfertigen würde.19

Widerstand gegen die neue Weltordnung

Der Widerstand gegen die Politik von Barack Obama ist dennoch nicht zu Ende. So wirft ihm die «Washington Post» vor, in der Frage des Regime change in Syrien gegenüber Russ­land kapituliert zu haben.20
Im Jahr 2012 konnte man den Widerstand des Petraeus-Clinton-Clans gegen den Frieden noch als Wunsch interpretieren, das Maximum aus der militärischen Überlegenheit der USA herauszuholen. Aber mit der Entwicklung der neuen russischen Waffen ergibt dies keinen Sinn mehr. Daher ist die einzig mögliche Interpretation das Wagnis, unverzüglich eine globale Konfrontation zu provozieren, in der Hoffnung, dass der Westen sie vielleicht noch gewinnen könnte. Darauf könnten sie keineswegs mehr setzen, wenn auch China fähig wird, seine Armee antreten zu lassen.
Wie während der Genfer Konferenz intervenierte Frankreich, sobald die Resolution 2254 verabschiedet war. Sein Aussenminister, Laurent Fabius, erklärte wieder einmal, wenn alle Oppositionsgruppen in Syrien an der Übergangsregierung teilnehmen könnten, müsste allein Präsident al-Assad ausgeschlossen werden; eine Idee, die gegen die Prinzipien des Genfer Kommuniqués und der Resolution 2254 verstösst.
Wenn man im Jahr 2012 die französische Position als den Willen, die Regierung der Baath-Partei durch die Muslimbrüder zu ersetzen, interpretieren konnte, als kontinuierlichen Weg des Sturzes der weltlichen arabischen Regimes («arabischer Frühling»); oder als Versuch, «die syrische Armee auszubluten», um die regionale Dominanz Israels zu erleichtern; oder ganz einfach als Absicht zur Rekolonialisierung; heute ist dies nicht mehr möglich, weil jedes dieser drei Ziele Krieg gegen Russland bedeuten würde.
Frankreich instrumentalisiert die syrische Frage im Auftrag der US-amerikanischen liberalen Falken und der Neokonservativen. Dabei wird es durch messianische Zionisten unterstützt, die es für ihre religiöse Pflicht halten, die Ankunft des Messias zu beschleunigen, indem sie die eschatologische Konfrontation provozieren.

Frieden in Syrien oder Atomkrieg?

Es wäre schon sehr erstaunlich, wenn es diesen Gruppierungen gelingen würde, ihre ­Politik den beiden Grossmächten aufzudrängen. Allerdings wird es schwierig sein, vor Januar 2017 und dem Eintreffen eines neuen Präsidenten im Weissen Haus ein definitives Resultat zu erreichen. Deshalb versteht man besser, dass Wladimir Putin seine Unterstützung für Donald Trump bekanntgegeben hat, weil er der Beste zu sein scheint, um seiner Freundin Hillary Clinton den Weg zur Spitze zu versperren.21
In Wirklichkeit ist alles bereit, um einen Frieden zu schliessen, der den Verlierern erlaubt, das Gesicht zu wahren.

Merkpunkte: 

  • Die Resolution 2253 verbietet den Sponsoren von Daesh und al-Kaida, ihre Aktion weiterzuführen. Die Resolution 2254 bestätigt das Genfer Kommuniqué vom Juni 2012. Die zwei Grossmächte haben sich geeinigt, um die Arabische Republik Syrien zu erhalten und eine Regierung der nationalen Einheit zu unterstützen. 
  • Die bewaffnete, von Saudi-Arabien unterstützte Opposition hat, wie im Genfer Kommuniqué vorgesehen, den ehemaligen Baath-Premierminister Riad Hidschab zum Leiter ihrer Delegation gewählt. Gleichzeitig hat Russland eine Vereinbarung mit der freien syrischen Armee und deren Sponsor Frankreich geschlossen. 
  • Alles ist bereit, um einen Frieden zu schliessen, der den Verlierern erlaubt, das Gesicht zu wahren. Aber wie 2012 hat Frankreich sofort nach der Annahme der Resolution 2254 wieder seine Forderungen kundgegeben.    •
1    «Communiqué final du Groupe d’action pour la Syrie», Réseau Voltaire, 30. Juni 2012
2    «Werden sich Obama und Putin den Nahen Osten teilen?», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Odnako (Russland), Réseau Voltaire, 22. Februar 2013
3    «Discours de François Hollande à la 3ème réunion du Groupe des amis du peuple syrien», von François Hollande, Réseau Voltaire, 6. Juli 2012
4    «Der Westen und die Verherrlichung des Terrorismus», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Neue Rheinische Zeitung (Deutschland), Réseau Voltaire, 5. August 2012
5    «Press meeting by Sergey Lavrov and John Kerry», von John F. Kerry, Sergey Lavrov, Réseau Voltaire, 15. Dezember 2015
6    «Resolution 2253 (Finanzierung von Terrorgruppen)», Réseau Voltaire, 17. Dezember 2015
7    «Resolution 2254 (Friedensplan für Syrien)», Réseau Voltaire, 18. Dezember 2015
8    «Zwei Stachel in Obamas Fuss», von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Réseau Voltaire,
31. August 2015
9    «L’émir de Qatar contraint par Washington de céder son trône», «L’ex-Premier ministre du Qatar écarté du Fonds souverain», Réseau Voltaire, 13. Juni und 3. Juli 2013
10    «Emir von Katar durch Washington gezwungen, seinen Thron abzutreten», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 13. Juni 2013; «Geheimer Krieg zwischen Katar und Saudi-Arabien», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 18. März 2014
11    «Was Sie nicht von den US-Iranischen Abkommen wissen», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 6. April 2015
12    «Was wird aus dem Nahen Osten nach dem Abkommen zwischen Washington und Teheran?», von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Réseau Voltaire, 18. Mai 2015
13    «Syrien: Obama missbilligt General Allen und Präsident Erdogan», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 29. Juli 2015; «Washington verbietet Ankara, die Kurden in Syrien anzugreifen», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 15. August 2015; «Reibung zwischen dem Pentagon und seinem türkischen Verbündeten», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 16. August 2015; «Die Nato weigert sich, in den geheimen Russisch-Türkischen Krieg einzugreifen», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 13. Oktober 2015
14    «Ukraine und Türkei schaffen eine islamische internationale Brigade gegen Russland», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 5. Oktober 2015
15    «The Geopolitics of American Global Decline», von Alfred McCoy, Tom Dispatch (USA), Réseau Voltaire, 22. Juni 2015
16    «Juni 2012: Russland manifestiert seine interkontinentale nukleare ballistische Überlegenheit», Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 14. Juni 2012; «Russische Warnschüsse», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 20. Juni 2012
17    «Die russische Armee zeigt ihre Überlegenheit in konventioneller Kriegsführung», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Réseau Voltaire, 19. Oktober 2015
18    «Umwälzung der US-Interessen in der Levante», von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 9. Februar 2015
19    «A Peace Plan for Syria», James Dobbins, Philip Gordon & Jeffrey Martini, Rand Corporation, 17. Dezember 2015
20    «On regime change in Syria, the White House capitulates to Russia», Editorial board, The Washington Post, 17. Dezember 2015
21    «Wladimir Putin’s annual news conference» von Wladimir Putin, Réseau Voltaire, 17. Dezember 2015
(Übersetzung Horst Frohlich/Zeit-Fragenhttp://www.zeit-fragen.ch

RUSSLAND: globale ai-Vorweihnachts-Medienkampagne wegen Syrien


hörstelRUSSLAND: globale ai-Vorweihnachts-Medienkampagne wegen Syrien
http://tinyurl.com/gtjpjcd ai ist CIA-unterwandert und vom US-Außenministerium gelenkt: http://tinyurl.com/ot7jg7v & http://tinyurl.com/nf63o7b, offizieller Bestandteil der aktuellen US-Militärdoktrin „Joint Vision 2020“. Mit Journalismus hat die ganze Kampagne schon deshalb nichts zu tun, weil die meisten Medien es nicht für nötig hielten, russische Stellen zu den Vorwürfen zu befragen. Die Informationsquellen sind dubios, es dreht sich um das übliche Hinterhof-Büro in London, das ein Zwischenhändler für Geheimdienst-Infos ist. Warum Monate alte Informationen ausgerechnet am Tag vor Weihnachten über den Globus verteilt werden müssen, bleibt unklar.
Petition für Abzug aller US-/UK-Truppen aus Deutschland:
BITTE UNTERSCHREIBEN – TEILEN – POSTEN: http://tinyurl.com/oe875qd

«Im Jemen findet ein ganz schmutziger Krieg statt – aber die Welt nimmt das hin»


Interview mit Fritz Edlinger*, Generalsekretär der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen
Der Jemen kommt nicht zur Ruhe. Nach dem Scheitern der ersten Runde der Friedensgespräche in der Schweiz am 20. Dezember und vor deren Fortsetzung Mitte Januar hat die von Saudi-Arabien angeführte Kriegskoalition Anfang Januar den Waffenstillstand aufgekündigt. Zu den Hintergründen dieses blutigen Konfliktes und der Rolle der beteiligten Staaten äussert sich im folgenden Interview der Generalsekretär der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen GÖAB, Fritz Edlinger.
Zeit-Fragen: Herr Edlinger, im Jemen tobt seit langem ein verheerender Krieg, bei dem das Völkerrecht nicht mehr geachtet wird. Humanitäre Hilfe ist kaum noch möglich, und die Genfer Konventionen werden mit Füssen getreten. Wie sehen Sie die heutige Situation im Jemen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung des Landes? 
Fritz Edlinger: Der Jemen ist kein unkultiviertes geschichtsloses Dritte-Welt-Land, sondern eine der Wiegen der Menschheit und eine der Wiegen der arabischen Nation, zumindest der Vorläufer der arabischen Nation. Im Jemen gab es einige Jahrtausende vor Christus eine Hochkultur, und diese Hochkultur hat sich in den verschiedenen Formen tradiert und ist unmittelbar die Grundlage, auch im Bewusstsein der Menschen im Jemen, für die heutige Situation.
Die Saiditen zum Beispiel, die religiöse Strömung, die die Huthis hervorgebracht hat, sind im wesentlichen Herrscher, staatlich religiöse Imame, staatlich religiöse Herrscher im Nordjemen, die dort kontinuierlich etwa 1000 Jahre lang geherrscht haben. Das Saiditen-Imamat etwa ist im 10. Jahrhundert entstanden und ist 1962 zu Ende gegangen. Insofern stehen die Saiditen und die Huthis – als ihre quasi jetzige Kampforganisation – in einer Tradition von einem Jahrtausend Kontinuität einer bestimmten Art von staatlicher Ordnung und sind nicht irgendeine islamistische Terrorgruppe, die sich gerade irgendwo zusammengefunden hat.
Hat Saudi-Arabien, der derzeitige Aggressor im Jemen, auch eine solche Geschichte? 
Saudi-Arabien ist als Staat gerade mal 100 Jahre alt und ist als solcher ein geschichtsloses, weitgehend auch identitätsloses Wesen. Ohne den Ölreichtum unter der saudischen Wüste wäre Saudi-Arabien, in der Weise, wie es jetzt ist, nie entstanden. Ich bin Historiker, und ich glaube, dass solche Dinge auch bei handelnden Menschen und bei ihren wirklichen Gedanken eine Rolle spielen, dass man sich schon überlegt, wer bin ich, woher komme ich und wer ist mein Feind und woher kommt er.
Das ist im Jemen eine ganz unglaubliche Geschichte. Hier wird in Wirklichkeit von einem neureichen Emporkömmling in der Region der Machtanspruch laut, dass sie die Herren über alle anderen in der Gegend sein wollen, völlig ignorierend, dass sie im historischen Sinn totale Newcomer sind.
Das war auch im Irak so. Der Irak war ebenfalls eine alte Kultur-Nation und ist heute ein «failed state», nicht zuletzt auf Grund einer Mitwirkung der Saudis. Seit es das moderne Saudi-Arabien gibt, folgte die Jemen-Politik Saudi-Arabiens immer dem Prinzip «Teile und herrsche!». Ich bin kein Psychologe und schon gar nicht ein Psychologe der Denkweise von saudischen Prinzen und Königen, ich kann mir aber vorstellen, dass diese Potentaten gegenüber Ländern wie dem Jemen intuitiv einen absoluten Minderwertigkeits-Komplex haben.
Der Jemen ist das weitaus geschichtsträchtigere Land, auch das grössere Land, das jemenitische Volk ist auch grösser von der Einwohnerzahl her. Wenn man in den Jemen fährt, merkt man sofort, dass man sich in einem alten Kulturland aufhält, und wenn man nach Saudi-Arabien fährt, merkt man, dass man in ein künstliches Gebilde kommt, das von irgendwoher kopiert ist.
Wie würden Sie das bisherige Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen charakterisieren? 
Von Haus aus ist die Politik Saudi-Arabiens gegenüber dem Jemen destruktiv. So hat Saudi-Arabien zum Beispiel in den 1930er Jahren die Grenzprovinz Asir, die zuvor Teil des Osmanischen Reiches und danach unabhängig war, mit militärischer Gewalt erobert. Dieser Grenzkonflikt wurde letztendlich dann erst in den 1990er Jahren beigelegt, die Spannungen hielten aber schon alleine der Bevölkerungsstruktur wegen weiter an. Dies spielt auch beim momentanen militärischen Konflikt eine gewisse Rolle. Saudi-Arabien hat den Jemen aber nie als Ganzes unterstützt, sondern in den verschiedenen historischen Epochen haben die Saudis auch ihre Koalierten im Jemen gewechselt.
Jetzt zum Beispiel bekämpfen sie die Huthis als die Hauptfeinde. In den Bürgerkriegen in den 1960er Jahren haben die Saudis im wesentlichen die konservativen Royalisten unterstützt, im Gegensatz zu den sozialistischen Südjemeniten, die damals von Ägypten unterstützt wurden. Heute ist es genau umgekehrt. Über Jahre hinweg war der abgesetzte Präsident Ali Abdullah Saleh ihr Mann im Jemen, der von ihnen gehätschelt, getätschelt und bestochen worden ist. Saleh hat im Interesse Saudi-Arabiens einen jahrelangen Vernichtungskrieg gegen die Huthis im Jemen geführt. Saudi-Arabien hatte immer irgendeinen Feind im Jemen. 
Wie wird Ihrer Meinung nach das Ergebnis der jetzigen saudischen Aggression aussehen? 
Eines der Ergebnisse wird sicher sein, dass sich der Südjemen wieder abspalten wird – und da sind die Saudis durchaus daran interessiert, dass der Südjemen seinen eigenen Weg geht, weil damit der Jemen als Ganzes geschwächt wird. Was auch immer bei diesem Krieg herauskommt, es ist zu befürchten, dass am Ende wieder ein zerschlagener Staat stehen wird. Es ist nicht anzunehmen, dass die Huthis so siegen werden, dass sie den ganzen Jemen regieren können, es ist nicht anzunehmen, dass der von den Huthis abgesetzte Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi, der sich jetzt im Exil befindet und von Saudi-Arabien ausgehalten wird, zurückkommt und wieder die Macht an sich reisst. Es ist als realistische Variante anzunehmen, dass wir einen mehr oder weniger unabhängigen Südjemen haben werden, dass die Huthis im Norden ein eigenes Territorium beherrschen werden – und in der Mitte wird ein dauerhaftes Kriegsgebiet verbleiben, wo auch Terroristen à la al-Kaida und zuletzt auch IS/Daesh mit lokalen Milizen um die Vorherrschaft kämpfen. Es ist also leider zu erwarten, dass sich der Jemen der wachsenden Liste der «failed states» im Orient anschliessen wird. 
Gibt es denn derzeit keine Ansätze für eine Lösung in Richtung Frieden im Jemen? 
Wenn es Ruhe gibt, dann ist es in Wirklichkeit nur eine oberflächliche Ruhe, weil die Kriegsparteien müde, ausgeblutet und erschöpft sind. Es ist meines Erachtens kurzfristig kaum anzunehmen, dass die wirklich zugrundeliegenden Probleme so gelöst werden können, dass das von den wesentlichen Stakeholders und Machtzentren im Jemen akzeptiert wird. Es sind nach wie vor die gleichen Machtblöcke im Jemen, die auch noch intakt sind und die es seit Jahrzehnten gegeben hat. 
Ist das der Grund dafür, warum es von westlichen Ländern in diesem Konflikt eine ziemliche Zurückhaltung gibt? Auch von seiten der Uno? Man schleppt sich mit Resolutionen, Waffenstillstand wird nur für eine Seite ausgesprochen, man schiebt so hin und her, obwohl der Generalsekretär der Vereinten Nationen vom humanitären Notstand spricht. Auch wenn jetzt Friedensgespräche stattfinden, hat man den Eindruck, dass sich die westlichen Länder und auch die internationale Gemeinschaft insgesamt ziemlich schleppen.
Es gibt schon genug Konflikte in der Welt. Die Welt hat nicht darauf gewartet, dort im tiefsten Vorderasien einen neuen Konflikt zu haben, zumal es ein Konflikt ist, der niemand ausser die unmittelbar Betroffenen wirklich tangiert, wie auch immer sie sich im Jemen bekriegen und wie unmenschlich der Krieg dort geführt wird. Das ist so ähnlich wie beim Faust: Was kümmern mich die Kriege hinten in der Türkei.
Kein westlicher Staat hat bedeutende wirtschaftliche und inzwischen auch nicht mehr geostrategische Interessen. Die Situation mit der Meerenge und Aden als Stützpunkt, als Hafen, das ist heute nicht mehr ganz so bedeutend wie noch in der Zeit des Kolonialismus, wo die Briten Aden als wichtigen Flottenstützpunkt einfach genommen haben. Heute ist die Technologie anders, heute ist die Durchsetzung von Interessen anders.
Gilt das auch für die USA? 
Amerikaner engagieren sich im Jemen schon seit längerer Zeit. Der Jemen ist nämlich nicht nur das Land, aus dem die Führungsschicht der al-Kaida gekommen ist. Bin Laden war Jemenit aus dem Hadramaut, viele seiner Gefolgsleute in der ersten Generation kamen auch aus dem Jemen, und in den letzten Jahren waren Wüstengebiete im Jemen ein Rückzugsgebiet von al-Kaida. Es hat im Süden den Anschlag auf die USS Cole gegeben. Das hat schon eine Grössenordnung angenommen, die bedrohlich war. Daher haben die USA einen permanenten Anti-Terrorkampf gegen al-Kaida im Jemen geführt, und zwar in einer Weise, dass es jetzt ein Schuss ist, der nach hinten losgeht.
Die Amerikaner haben noch unter Saleh mit riesigem Finanzaufwand eine eigene Anti-Terrorgruppe aufgebaut. Tausende Soldaten wurden rekrutiert, ausgebildet und bewaffnet. Das Kommando lag in der Hand des Sohnes von Saleh. Aber jetzt sind Saleh und sein Sohn die Feinde der Saudis, die wiederum die amerikanischen Hauptalliierten in der Region sind. Das heisst, diese ganze Anti-Terrorpolitik der USA im Jemen war und ist, wie vieles, was sie in der Weltpolitik tun, auf jeden Fall im Nahen-Osten, absolut widersprüchlich und wurde regelmässig unterlaufen, teilweise von ihren eigenen lokalen Koalitionspartnern, indem es immer wieder Hinweise gegeben hat, dass die Anti-Terrorgruppe in Wirklichkeit teilweise gar nicht gegen al-Kaida kämpft, sondern sich mit ihr koordiniert und mit ihr kollaboriert. Das ist wieder ein Beispiel für die falsche US-Politik in der Region.
Aber die anderen westlichen Staaten haben keine starken Interessen im Jemen. Darum kann der Konflikt, so wie er jetzt ausgetragen wird, noch längere Zeit weitergehen, und auch in der Uno wird er keine Rolle spielen, denn wenn es in der Uno irgendwelche Beschlüsse gibt, dann sind die in der gegebenen Situation auf jeden Fall noch im Interesse der Saudis. Die Uno-Resolution vom Sommer des Jahres war 1:1 die Position der Saudis: absoluter Rückzug der Huthis, bedingungslose Anerkennung und Wiedereinsetzung Hadis mit seiner Regierung. Das sind in Wirklichkeit die Kriegsziele der Saudis und Hadis, und das kann nie die Position eines Vermittlers sein. Die UN-Vermittlung hat sich zunächst darauf konzentriert, die verschiedenen Kriegsparteien zu direkten Gesprächen zu bringen, wobei man die in den einschlägigen Uno-Resolutionen zwar unverändert bestehen liess, aber de facto davon ausging, dass diese dann ohnedies abgeändert werden würden. Sollten also diese Verhandlungen tatsächlich zustandekommen, wird man sehen, wohin diese führen. Einen Durchbruch halte ich persönlich aber für kaum möglich, da die Interessen der einzelnen Akteure kaum vereinbar sind. Hier sind nicht nur die nach wie vor bestehenden innerjementischen Differenzen zu beachten, sondern sehr wohl auch die regionalen und internationalen. Daher ist anzunehmen, dass der Konflikt im Jemen, auch auf Grund der als weitaus bedrohlicher eingestuften Situation in Syrien und in Libyen, der Welt nahezu gleichgültig ist, obwohl dort im Jemen Schreckliches geschieht.
Was zum Beispiel? 
Es ist schon genügend dokumentiert, welche schrecklichen Verbrechen passieren. Die saudische Luftwaffe führt sich auf wie frühere Kolonialarmeen, die einfach – damals noch mit Napalm und ähnlichem – ganze Dörfer ausradiert haben. Sa’da zum Beispiel, die Hauptstadt der Huthi-Provinz im Norden, ist dem Erdboden gleichgemacht worden, immerhin eine Stadt mit rund 150 000 Einwohnern. Dort gibt es kein Haus mehr, das noch steht. Das weiss man, man nimmt das zur Kenntnis, weil man kein Interesse daran hat, dort zu intervenieren. 
Auch, weil es sehr grosse Risiken gibt? 
Die Saudis versuchen seit Monaten Koalitionspartner zu finden, die ihnen mit Bodentruppen zur Verfügung stehen, weil die Saudis und die Planer ihres Krieges sehr wohl wissen, dass dieser Krieg nur mit der Luftwaffe nicht zu gewinnen ist. Jeder, der im Jemen war oder sich die Geologie des Jemen näher ansieht, weiss das – das ist ein riesiges Bergland mit Bergen und Schluchten, in dem man noch dazu gegen einen Gegner aus dem Land kämpft, der jeden Winkel kennt. Wenn ich dort mit einer Besatzungsarmee hineingehe, ist anzunehmen, dass dies das Vietnam der Angreifer wird. Daher hat Pakistan den Wunsch der Saudis, Truppen zu schicken, strikt abgelehnt, und auch Ägypten hat das abgelehnt, weil man weiss, was droht. Sollen nun die Briten oder die Amerikaner dort Truppen hinschicken? Niemand will das, und darum lässt man jetzt die Sache laufen. Die Saudis und die Emiratis setzen inzwischen daher zigtausend Söldner aus der ganzen Welt ein. Dass dort inzwischen schreckliche Kriegsverbrechen begangen worden sind, das ist überhaupt keine Frage. Das ist jetzt schon dokumentiert. Dort findet ein ganz, ganz schmutziger Krieg statt. Aber die Welt nimmt das hin. 
Es gab im Jemen eine kurze Phase der Hoffnung auf ein Mehr an Demokratie, man hatte begonnen mit einem nationalen Dialog … 
… das hat begonnen mit den Demonstrationen gegen Saleh. Das wurde abgefedert, indem Saleh abgesetzt wurde und sein bisheriger Stellvertreter Hadi sein Nachfolger wurde, was natürlich eine Pseudo-Lösung war, weil dieser formell weiterhin in der Partei von Saleh geblieben ist. Aber parallel dazu hat es wirklich auf der Strasse Demonstrationen gegeben, vor allem der Jugend. Das war vergleichbar mit dem Tahir-Platz. Da sind die Jungen, darunter auch viele Frauen, gegen den Wunsch ihrer Väter, ihrer Familien, auf die Strasse gegangen und haben gesagt: Wir wollen, dass sich in diesem Land endlich was ändert, weil das unsere Zukunft ist.
Für demokratischere Verhältnisse? 
Für mehr Demokratie, auch für mehr wirtschaftliche Entwicklung, auch für eine weniger rückwärts gewandte Interpretation der Religion. Das Land war ja in seinen grossen Bergen teilweise sehr abgeschlossen. Bis 1962, dem Ende des Imamats [das Königreich (Imamat) Jemen bestand bis 1962; ab da nannte es sich Jemenitisch-Arabische Republik], war das vergleichbar mit der Situation im Nachbarland Oman, wo die Herrschenden ihr Ziel darin gesehen haben, keine westlichen Kontakte zuzulassen. Denn das würde Modernisierung bedeuten, und Modernisierung würde die Leute vom richtigen Weg als brave Untertanen abbringen. Es gibt im Jemen erst wenige Jahrzehnte so etwas wie eine pseudodemokratische Möglichkeit, aber die wurde von bestimmten Machtzentren sofort unterlaufen, von mächtigen und reichen Familien und von Saleh. Es gab drei bis vier Machtzentren, die sich die Macht untereinander aufgeteilt haben. In den Jahren 2011 und 2012 hat es hier sehr wohl einen Moment gegeben, aber dieser Moment wurde zuerst durch die innerjemenitischen Konflikte, dann durch die Intervention der Saudis völlig zerstört, und das Land ist jetzt möglicherweise noch weiter zurückgeworfen, als es schon vorher war.
Vielen Dank für das Gespräch.    •
(Interview Eva-Maria Föllmer-Müller) Das Interview wurde im Juli 2015 geführt und Anfang Dezember 2015 ergänzt.

Vineyard Saker russischer Dokufilm über Welt-Perspektiven (OMU