Wednesday, October 4, 2017



Council on Foreign Relations  

Von Swiss Propaganda Research

Die folgende Analyse widmet sich der Frage, wie sich die auffallend negative Berichterstattung der traditionellen westlichen Medien über die Trump-Präsidentschaft schlüssig erklären lässt. Dabei zeigt sich, dass keine der üblichen Erklärungen – die angebliche Inkompetenz Trumps, eine angebliche »Linkslastigkeit« der Medien, Einschaltquoten oder Partikularinteressen einflussreicher Lobbys – stichhaltig ist. Vielmehr dürfte die negative Berichterstattung auf geostrategische Aspekte und die (bedrohte) Rolle des Council on Foreign Relations als oberstes geopolitisches Gremium der Vereinigten Staaten zurückzuführen sein. Die Berichterstattung westlicher Medien weist denn auch deutliche Parallelen zur koordinierten Medienaktivität im Rahmen früherer Regime-Change-Operationen in Drittstaaten auf.

Zur einführenden Lektüre empfohlen: Das American Empire und seine Medien

Ausgangslage und Erklärungsversuche

Die Ausgangslage ist eindeutig: Gemäß einer Harvard-Studie berichteten die traditionellen westlichen Medien bislang überwiegend negativ über die Trump-Präsidentschaft: So fielen insgesamt 80%, bei der New York Times 87%, bei CNN 93%, und bei der ARD sogar 98% der wertenden Beiträge negativ aus.

Zur Erklärung dieser einzigartig negativen Berichterstattung werden im Allgemeinen vier mögliche Varianten diskutiert, von denen jedoch keine stichhaltig ist, wie die folgende Analyse zeigt:
  1. Trump sei ein unsympathischer und unfähiger Politiker, über den die Medien kritisch berichten müssen: Diese These scheitert schon daran, dass rund 50% der US-Wahlbevölkerung dies offenbar nicht so gesehen haben. Doch selbst wenn die Einschätzung zutrifft: Die USA hatten auch in der Vergangenheit Präsidenten mit teils fraglichen Qualifikationen, über die ebenso wohlwollend berichtet wurde wie über US-Verbündete, die nicht eben Sympathieträger sind. Hinzu kommt, dass dieselben Medien über denselben Trump in der Vergangenheit zumeist positiv berichtet haben.

  1. Die Medien in den USA und in Europa seien eben »linkslastig« und würden den konservativen Trump deshalb ablehnen: Diese Erklärung steht im Widerspruch zur positiven Berichterstattung über frühere republikanische Präsidenten und über republikanische Mitbewerber Trumps. Zudem haben gemäß der Harvard-Studie selbst konservative Medien wie Fox News entgegen einer weitverbreiteten Annahme tendenziell kritisch (52%) über Trump berichtet.

  1. Verantwortlich seien Partikularinteressen einflussreicher Lobbys, etwa der Rüstungs-, Öl- oder Finanzindustrie oder der »Israel-Lobby«: Auch dieser Erklärungsversuch kann nicht überzeugen, denn keine dieser durchaus potenten Einflussgruppen hat Grund zur Klage über Trump: Trump setzte sich stets für eine Aufrüstung des US-Militärs und der NATO ein und schloss historische Waffengeschäfte mit Verbündeten wie Saudi-Arabien ab. Zudem machte er den CEO des Ölgiganten Exxon Mobil zu seinem Außenminister und engagierte sich für die Förderung fossiler Energieträger. Überdies holte er zahlreiche Wall-Street-Banker und Finanzmilliardäre in sein Kabinett, und versprach mehr Unterstützung für Israel sowie eine mögliche Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt.

  1. Ausschlaggebend seien die durch Skandale erzielbaren Zuschauerquoten und Leserzahlen: Tatsächlich sorgte der polarisierende Trump schon immer für hohe Einschaltquoten. Dies gilt indes für beinahe jede Art der Berichterstattung über ihn, keineswegs nur für eine negative. Zudem verfolgt die beobachtete Berichterstattung zweifellos politische und nicht nur medienökonomische Ziele.
Offensichtlich vermag keine dieser Varianten die überwiegend negative Berichterstattung schlüssig zu erklären. Der tatsächliche Grund dürfte denn auch tiefer liegen – und geopolitischer Natur sein: Trump kam mit seiner national orientierten, »isolationistischen« Politik den globalen Ambitionen des amerikanischen Council on Foreign Relations (CFR) in die Quere.

Wie in einem früheren Beitrag aufgezeigt, prägen der parteiübergreifende Council on Foreign Relations und seine inzwischen knapp 5000 Mitglieder in Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien seit Jahrzehnten die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Dabei haben die Strategen des Councils nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass das Ziel darin besteht, ein globales, geoökonomisches Imperium unter amerikanischer Führung zu etablieren (die sogenannte Grand Area Strategy).


CFR-Mitglieder in den Schlüsselpositionen des American Empire von 1945 bis 2017 (Vergrößern durch Klicken auf das Bild)

Das «Trauma von 1920«


Tatsächlich wurde der CFR überhaupt erst aufgrund des sogenannten »Traumas von 1920« gegründet: Nach dem Ersten Weltkrieg hätten die USA erstmals die globale Führungsrolle übernehmen können – doch der Senat entschied sich gegen den Beitritt zum Völkerbund und die kriegsmüde Bevölkerung wählte mit Warren Harding einen Präsidenten, der eine »Rückkehr zur Normalität« versprach und sich zuerst um die Angelegenheiten und Probleme Amerikas und der Amerikaner kümmern wollte.

Mit seiner »America First«-Politik – die bislang unter anderem in der Aufkündigung der transatlantischen und transpazifischen Freihandelsverträge und des Pariser Klimaabkommens, der Blockade in Migrationsfragen, der Verständigungspolitik gegenüber Herausforderer Russland und einem Kurswechsel in Nahost resultierte – reaktivierte Trump dieses hundertjährige geostrategische Trauma und stellte gleichzeitig die geopolitische Führungsrolle des Councils und seiner Mitglieder in Frage.

Tatsächlich dürfte Trump der erste US-Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg sein, der nicht CFR-Mitglied oder wenigstens CFR-konform ist (Kennedy verließ den geopolitischen CFR-Konsens erst im Laufe seiner Präsidentschaft). Möglich wurde dies durch die unerwartete Niederlage von Favoritin Clinton, deren Ehemann und Tochter Council-Mitglieder sind und die als Außenministerin selbst diverse Ansprachen vor dem Council hielt (»Fortschrittsberichte« gemäß einer Wikileaks-Email).

Es ist verständlich, dass der Council auf dieses Fiasko reagieren musste. Dabei ist zu bedenken, dass Eigentümer, Führungskräfte und Top-Journalisten nahezu aller etablierten US-Medien gleichzeitig CFR-Mitglieder sind. Auch die Schlüsselpersonen der etablierten europäischen Medien sind – aus historischen und sicherheitspolitischen Gründen – via Bilderberg-Gruppe, Trilateraler Kommission, Atlantik-Brücke und weiterer CFR-Ableger in das internationale Netzwerk des Councils eingebunden und sorgen für eine entsprechend CFR-konforme Berichterstattung und Kommentierung (siehe Grafiken).


CFR Media Network (Vergrößern durch Klicken auf das Bild)


Schweizer Medien: Das Transatlantik-Netzwerk (Vergrößern durch Klicken auf das Bild)


Medien in Deutschland: Das Transatlantik-Netzwerk (Vergrößern durch Klicken auf das Bild)

Insofern kann es nicht überraschen, dass dieses historisch einzigartige, transatlantische Publizistik-Netzwerk – das bereits unzählige Regime Changes und Militärinterventionen in Drittstaaten erfolgreich angestimmt hat – einmal mehr aktiviert wurde, um den »Usurpator« (Thronräuber) Trump abzuwehren beziehungsweise – nach dessen Wahlsieg – doch noch zu bekehren – oder notfalls zu stürzen.

»Ein großer Moment«

Damit erklärt sich zugleich, warum es während der ersten einhundert Tage von Trumps Präsidentschaft trotz aller negativen Schlagzeilen zwei Ereignisse gab, über die CFR-konforme Medien beidseits des Atlantiks beinahe einstimmig positiv berichteten: Die Ernennung von H.R. McMaster zum Nationalen Sicherheitsberater am 20. Februar 2017, sowie der (illegale) Cruise-Missile-Angriff auf Syrien am 7. April 2017. Einige der damaligen Schlagzeilen lauteten wie folgt:
  • Zur Ernennung von McMaster: „Trumps brillante Wahl von McMaster“ (CNN); „gemäßigt und moralisch integer“ (Süddeutsche); „ein General, der allen passt“ (Die Zeit); „ein führender Intellektueller innerhalb des Militärs“ (New York Times); „Die USA und die Welt sind sicherer durch diese Entscheidung“ (The Atlantic); „ein dekorierter und hoch angesehener Absolvent der Militärakademie West Point“ (ARD); „Trump erntet Lob“ (Der Spiegel); „Eine ausgezeichnete Wahl“ (John McCain)

  • Zum Angriff auf Syrien: „Die europäische Presse lobt Donald Trump, einige feiern ihn sogar“ (DPA); „Trump hat ausnahmsweise richtig gehandelt“ (Die Presse); „Eine notwendige Strafe für Asad“ (NZZ); „Die Profis übernehmen das Kommando“ (Handelsblatt); „Die überraschende Wandlung des US-Präsidenten“ (Die Welt); „Syrien-Luftschlag krönt erfolgreiche Woche für Trump“ (New York Post); „Ein Syrer bedankt sich bei Trump“ (CNN)
Weshalb diese beiden bemerkenswerten Ausnahmen? Mit der nachträglichen Ernennung McMasters holte Trump – nachdem er Vorgänger Michael Flynn auf Druck der Medien entlassen musste – erstmals ein CFR-Mitglied in eine Schlüsselposition seines Kabinetts. Der Council – der nahezu alle Außen-, Verteidigungs- und Finanzminister, Nationalen Sicherheitsberater und CIA-Direktoren seit dem Zweiten Weltkrieg stellte (siehe Grafik oben) – konnte damit einen ersten wichtigen Etappensieg erringen.

Und der eigenmächtige Raketenangriff auf Syrien – basierend auf einem dubiosen »Giftgasangriff« – war ein entschieden imperialer Zug, mit dem Trump erstmals der langjährigen CFR-Strategie gegenüber Syrien und Russland folgte. CNN-Topjournalist und Trump-Kritiker Fareed Zakaria meinte damals sogar, dass Trump (erst) »in dieser Nacht zum Präsidenten der Vereinigten Staaten« wurde:

„Ich denke, das war ein großer Moment. Trump realisierte, dass der US-Präsident handeln und internationale Normen durchsetzen muss. Zum ersten Mal sprach er von internationalen Normen und Regeln und über die Rolle Amerikas, Gerechtigkeit in der Welt durchzusetzen. Es ist diese Art Rhetorik, die wir von amerikanischen Präsidenten seit Truman [d.h. seit dem 2. WK] erwarten, die aber Trump bewusst nie benutzt hat, weder in seiner Wahlkampagne noch in seiner Inaugurationsrede. Das war also eine interessante Wandlung und eine Art Erziehung von Donald Trump.“

Zakaria musste es wissen, denn er ist nicht nur CNN-Journalist – sondern auch Vorstandsmitglied des Council on Foreign Relations (sowie Mitglied der Trilateralen Kommission und mehrfacher Teilnehmer der Bilderberg-Konferenz). Allerdings hielt diese »Wandlung und Erziehung« von Trump vorerst nur kurz an, weshalb auch die CFR-affinen Medien alsbald zu ihrer Kritik an Trump zurückkehrten.

»Mord im Weißen Haus zum Beispiel«

Die Rolle des CFR erklärt schließlich auch die ungewöhnlich offensive Berichterstattung der europäischen Medien, die ja sonst eher US-konform ausfällt. Denn die europäischen Regierungen und Medien richten sich durchaus nicht nach dem jeweiligen US-Präsidenten – der ja ohnehin nur für ein paar Jahre im Amt ist – sondern nach dem seit Jahrzehnten das weltumspannende American Empire dirigierenden Council. Dieser entscheidende Unterschied wurde jedoch erst mit Trump bedeutsam und für die Öffentlichkeit sichtbar, da Präsident und Council nun erstmals nicht mehr auf derselben Linie lagen.

Wäre Trump von Anbeginn ein CFR-konformer Kandidat gewesen, so hätten ihn die exakt selben Journalisten, die ihn nun kritisieren, vermutlich als »visionären Unternehmer«, »pragmatischen Verhandlungspartner« und »standhaften Führer der freien Welt« gelobt – charakterliche Schwächen hin oder her. Allerdings wäre Trump in diesem Fall wohl gar nicht erst zum US-Präsidenten gewählt worden.

Nun aber muss der Council mit seiner geballten Medienmacht versuchen, Präsident Trump auf CFR-Kurs zu bringen. Gelingt dies nicht, bliebe nur noch die Amtsenthebung mittels eines echten oder inszenierten Skandals. Oder aber es tritt jenes Szenario ein, das Josef Joffe, der Herausgeber der ZEIT und ehemaliges Mitglied von Atlantik-Brücke, Bilderberg-Gruppe und Trilateraler Kommission, im Presseclub der ARD bereits antizipiert hat: »Mord im Weißen Haus zum Beispiel«.

Trump versucht seinerseits, über neue und soziale Medien das Medienimperium des Councils zu umgehen und zu untergraben – wobei sich beide Seiten gegenseitig vorwerfen, »Fake-News« zu verbreiten. Der Council reagierte hierauf mit diversen Kampagnen zur Abwehr von (angeblich russischer, also geopolitischer) »Desinformation« sowie mit Restriktionen für soziale Medien und sogar Suchmaschinen – wovon längst nicht nur Trump-Anhänger betroffen sind. All dies ist freilich nicht erstaunlich, sind doch die Führungskräfte von Google, Youtube, Facebook & Co. selbst CFR-Mitglieder.

In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob durch diesen geostrategischen Machtkampf letztlich das Ende der medialen Einheitsmeinung, oder eher das Ende der Meinungsfreiheit eingeläutet wird.

***

Postskriptum:
 Am 18. August 2017 verließ Trumps nationalkonservativer Strategiechef, Stephen Bannon, die US-Regierung. Die New York Times schrieb einen Tag zuvor in einem Artikel über Bannon:

„Von Afghanistan und Nordkorea bis Syrien und Venezuela argumentierte Herr Bannon gegen militärische Drohungen oder die Entsendung amerikanischer Truppen in ausländische Konflikte. () Bannons Erzfeind im Weißen Haus war [der Nationale Sicherheitsberater und CFR-Vertreter] General McMaster, der Anführer dessen, was Bannon das »globalistische Imperialprojekt« (globalist empire project) nannte – ein parteiübergreifender außenpolitischer Konsens, der das aktive amerikanische Engagement auf der ganzen Welt betont. Herr Bannon lehnt diese Philosophie rundweg ab.“

Der Rücktritt Bannons wurde von CFR-konformen Medien beidseits des Atlantiks und jedweder politischen Ausrichtung entsprechend einhellig begrüßt.


Referenzen:

CFR-Mitgliederverzeichnis 1922 bis 2013

CFR-Mitgliederverzeichnis 2016

CFR-Mitglieder in der US-Regierung, 1900 bis 2014

News Coverage of Donald Trump’s First 100 Days; Harvard Kennedy School, Shorenstein Center on Media, Politics and Public Policy; Mai 2017

Laurence H. Shoup (2015): Wall Street’s Think Tank: The Council on Foreign Relations and the Empire of Neoliberal Geopolitics, 1976-2014, Monthly Review Press


Mit freundlicher Genehmigung übernommen von Swiss Propaganda Research (dort mit zahlreichen weiteren Links zu den Quellen) in der Fassung vom 21.8.2017 (Erstveröffentlichung am 9.8.2017) – Swiss Propaganda Research ist eine unabhängige, akademische Forschungsgruppe mit Fokus auf geopolitischer Propaganda in Schweizer und internationalen Medien.

http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24068Online-Flyer Nr. 625  vom 23.08.2017

Arbeitskreis für Friedenspolitik Atomwaffenfreies Europa e.V.

Selbstdarstellung

In einer Zeit, in der militärische Mittel zunehmend als Lösung politischer Konflikte herhalten müssen,
ist ein Arbeitskreis für Friedenspolitik unerlässlich.
Die Welt von der Geisel des Krieges zu befreien, das ist nach zwei opferreichen Weltkriegen uneingelöstes Ziel der Charta der Vereinten Nationen.
Damit ist der Krieg als Mittel der Politik geächtet und die Völkergemeinschaft nach Art. 2 Abs. 4 der Charta aufgefordert,
sich der Androhung und der Anwendung von Gewalt zu enthalten.
Der Arbeitskreis für Friedenspolitik hat sich daher die Aufgabe gestellt,
die Erreichung dieses Zieles zu fördern.
Widersprüche und Unwahrheiten aufzudecken, der Völkerrechtswidrigkeit militaristischer Politik entgegenzuwirken
und Alternativen zur Lösung politischer Probleme vorzustellen –
daran arbeitet der AKF seit seinem Bestehen. In seinem halbjährlichen Mitglieder-Rundbrief greift er Stimmen wichtiger Autoren auf,
die in den Massenmedien überhaupt nicht oder nur selten zu hören sind.
Der Rundbrief ist gegen eine Spendenabgabe zu bestellen bei Rudolf Palmer, 12203 Berlin, Gardeschützenweg 27/29
Gegründet wurde der Arbeitskreis für Friedenspolitik – atomwaffenfreies Europa e.V. (AKF)
1982 anlässlich der millionenfachen Proteste gegen die geplante Aufstellung weiterer Atomraketen in der Bundesrepublik.
Wir schätzen die Klassiker, aus deren Erbe wir Kraft schöpfen und halten fest an dem Goethe-Motto: Wir heißen euch hoffen.
Trotz alledem und alledem sind wir der Freiligrathschen Überzeugung,
dass es auch heute genügend Anhaltspunkte für eine solche Mut machende Haltung in der Wirklichkeit gibt.
Geschichte: Über viele Jahre hinweg waren wir beteiligt an der Veranstaltungsreihe der Freien Universität Berlin.
Wir schöpfen Kraft aus diesen Quellen und möchten zur Nachahmung motivieren.



Erklärung von Sevilla "Gewalt ist kein Naturgesetz"


Veröffentlicht in UNESCO heute, 1-3/1991; Im November 1986 hat die 25. Generalkonferenz der UNESCO mit ihrer Resolution 25C/Res.7.1 beschlossen, die am 16. Mai 1986 von 20 Wissenschaftlern als Beitrag zum Internationalen Friedensjahr 1986 formulierte Erklärung zur Gewaltfrage weltweit zu verbreiten und als Grundlage eigener Expertentagungen zu verwenden. Die "Erklärung von Sevilla", an der auch der Ende 1987 zum UNESCO-Generaldirektor gewählte spanische Biochemiker Federico Mayor beteiligt war, ist eine intellektuelle Ermunterung der Bemühungen der UNESCO um internationale Verständigung, friedliche Zusammenarbeit und die Achtung der Menschenrechte. Die UNESCO hat mittlerweile den Text dieser Erklärung in ihren sechs Amtssprachen verbreitet, die UNESCO-Nationalkommissionen Finnlands, Schwedens, Griechenlands und Italiens in vier weiteren Sprachen. In einer Situation, die vielen die Sprache verschlägt, will die UNESCO heute als Informationsdienst der Deutschen UNESCO-Kommission die "Erklärung von Sevilla" erstmals auch in deutscher Sprache zur Diskussion stellen. Sie wendet sich energisch gegen das fatalistische Festhalten an der Meinung, Gewalt und Aggression seien eine Art "Naturgesetz", und auch noch so gut gemeinte Aktionen könnten nichts daran ändern. Die Erklärung von Sevilla wurde mittlerweile von mehr als 100 nationalen und internationalen wissenschaftlichen Verbänden und Vereinigungen gebilligt, unter ihnen der Internationale Rat für Psychologie (International Council of Psychologists) und in den USA die nationalen Fachverbände für Psychologie, Sozialpsychologie und Anthropologie (American Psychological Association; Society for the Psychological Study of Social Issues; American Anthropological Association).
Wir halten es für unsere Pflicht, uns aus der Sicht unserer verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen mit der gefährlichsten und zerstörerischsten Aktivität des Menschen zu befassen: mit Krieg und Gewalt.
Wir wissen, daß Wissenschaft ein Produkt des Menschen ist und deshalb weder letztgültige noch umfassende Wahrheiten formulieren kann.
(...) Unsere Meinung haben wir in der nachstehenden "Erklärung zur Gewaltfrage" formuliert. Wir wenden uns gegen den Mißbrauch von Ergebnissen biologischer Forschung zur Legitimation von Krieg und Gewalt. Einige dieser Forschungsergebnisse, die wir als solche nicht bestreiten, haben beigetragen zur Schaffung einer pessimistischen Stimmung in der öffentlichen Meinung. Wir glauben, daß die öffentliche und gut begründete Zurückweisung falscher Interpretationen von Forschungsergebnissen einen wirksamen Beitrag zum internationalen Friedensjahr 1986 und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.
Der Mißbrauch wissenschaftlicher Theorien und Forschungsergebnisse zur Rechtfertigung von Gewalt ist nicht neu; er begleitet die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften. So wurde beispielsweise die Evolutionstheorie herangezogen zur Legitimation von Krieg, Völkermord, Kolonialismus und Unterdrückung der Schwächeren. 
Unsere Position ist in fünf Thesen formuliert. Wir sind uns dessen bewußt, daß vom Standpunkt unserer wissenschaftlichen Fachrichtungen noch weit mehr zur Frage von Krieg und Gewalt zu sagen wäre. Wir beschränken uns jedoch auf fünf Kernaussagen, die wir für einen wichtigen ersten Schritt (zur Erarbeitung einer umfassenden wissenschaftlichen Position) halten. 
(1) Verhaltensforschung (Ethologie):
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, der Mensch habe das Kriegführen von seinen tierischen Vorfahren ererbt. Zwar gibt es Kampf im ganzen Tierreich: doch gibt es nur einige wenige Berichte von Kämpfen zwischen organisierten Gruppen von Tieren, und in keinem von ihnen ist die Rede vom Gebrauch von Waffen. Die normalen Verhaltensweisen von Raubtieren haben nichts zu tun mit Gewalt innerhalb derselben Spezies (Gattung). Kriegführung ist ein spezifisch menschliches Phänomen, das sich bei anderen Lebewesen nicht findet. 
Die Tatsache, daß sich die Kriegführung im Lauf der Geschichte so radikal verändert hat, zeigt, daß Kriege Produkte kultureller Entwicklung sind. Biologisch hat Krieg mit Sprache zu tun, die es möglich macht, Gruppen zu koordinieren, Technologien zu vermitteln und Werkzeuge zu gebrauchen. Aus der Sicht der Verhaltensforschung und Biologie sind Kriege möglich, aber nicht unausweichlich, wie ihre unterschiedlichen Formen in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt sowohl Kulturen, in denen über Jahrhunderte Kriege geführt wurde, als auch solche, die zu bestimmten Zeiten regelmäßig geführt haben, zu anderen wieder nicht. 
(2) Biogenetik (biologische Verhaltensforschung):
Wisssenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, Krieg oder anderes gewalttätiges Verhalten sei beim Menschen genetisch vorprogrammiert. Gene sind beteiligt an allen Funktionen unseres Nervensystems; sie stellen ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit seinem ökologischen und sozialen Umfeld realisiert werden kann. Individuen haben sehr unterschiedliche genetische Vorgaben, mit denen sie ihre Erfahrungen machen; es ist die Wechselwirkung zwischen der genetischen Ausstattung des Menschen und seiner Umwelt, in der sich die Persönlichkeit ausbildet. Abgesehen von seltenen krankhaften Fällen gibt es keine zwanghafte genetische Prädisposition für Gewalt; für das Gegenteil (die Gewaltlosigkeit) gilt dasselbe. Alle Gene gemeinsam sind bei der Entwicklung unserer Verhaltensmuster und -möglichkeiten beteiligt; doch determinieren sie allein noch nicht das Ergebnis. 
(3) Evolutionsforschung:
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, im Lauf der menschlichen Evolution habe sich aggressives Verhalten gegenüber anderen Verhaltensweisen durchgesetzt. In allen Gattungen von Lebewesen, die man erforscht hat, wird die Position innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Bewältigung der für die Gruppe wichtigen sozialen Aufgaben erworben. "Herrschaft" setzt soziale Bindungen und Vereinbarungen voraus; auch wo sie sich auf aggressives Verhalten stützt, ist sie nicht einfach gebunden an den Besitz und Gebrauch überlegener physischer Kraft. Überall dort, wo bei Tieren künstlich die Selektion aggressiven Verhaltens gefördert wurde, führte das sehr schnell zu hyper-aggressiven Verhaltensweisen der Individuen. 
Das ist ein Beleg dafür, daß Aggression unter natürlichen Bedingungen nicht das einzige evolutionäre Selektionsmerkmal ist. Wenn man solche im Experiment geschaffenen hyper-aggressiven Tiere in eine soziale Gruppe einführt, zerstören sie entweder deren soziale Struktur oder sie werden verjagt. Gewalt ist weder ein Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt. 
(4) Neurophysiologie (z.B. Erforschung der Hirnfunktionen):
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, das menschliche Gehirn sei "gewalttätig". Zwar enthält es alle Funktionen, die zur Anwendung von Gewalt benötigt werden, doch werden diese nicht automatisch durch innere oder äußere Reize aktiviert. Anders als andere Lebewesen, aber durchaus ähnlich den höheren Primaten, werden solche Reize beim Menschen zuerst durch die höheren Hirnfunktionen gefiltert, bevor sie Handlungen auslösen. Unser Verhalten ist geformt durch die Erfahrung in unserer Umwelt und im Verlauf unserer Sozialisation. Nichts in der Neurophysiologie des Menschen zwingt zu gewalttätigen Reaktionen. 
(5) Psychologie:
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, Krieg sei verursacht durch einen "Trieb" oder "Instinkt" oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegführung kennt sowohl den Vorrang emotionaler Faktoren, die manche "Triebe" oder "Instinkte" nennen, als auch rationaler Überlegungen. 
Kriege basieren heute auf einer Vielzahl von Faktoren: der systematischen Nutzung individueller Eigenschaften wie Gehorsam, Suggestion und Idealismus, sozialer Fähigkeiten wie der Sprache und rationaler Überlegungen von Kosten-Nutzen-Rechnung, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegführung hat besonderes Gewicht gelegt auf die Förderung "gewalttätiger" Persönlichkeitsmerkmale sowohl bei der Ausbildung von Kampftruppen wie auch beim Werben um die Unterstützung der Bevölkerung. So kommt es, daß solche Verhaltensmerkmale oft fälschlicherweise als Ursachen und nicht als Folgen des gesamten Prozesses angesehen werden. 
Schlußfolgerungen:
Wir ziehen aus allen diesen Feststellungen einen Schluß: Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann von falsch verstandenem biologischen Pessimismus befreit und in die Lage versetzt werden, mit Selbstvertrauen im internationalen Friedensjahr 1986 und in den kommenden Jahren an die notwendige Umgestaltung der Verhältnisse zu gehen. Zwar hat es diese Aufgabe vorwiegend mit der Umgestaltung von Institutionen und des Verhaltens der Gemeinschaft zu tun; doch stützt sie sich auch auf das Bewußtsein der einzelnen Akteure, das entweder von Pessimismus oder von Optimierung gesteuert sein kann. Ebenso wie "Kriege im Geiste des Menschen entstehen", so entsteht auch der Frieden in unserem Denken. Dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür mit verantwortlich."