Die
Instrumentalisierung des Sicherheitsrats zur Durchsetzung der Interessen individueller Staaten
ist ein Grundübel der VN und lähmt die Weltgemeinschaft oft in ihrer empfindlichsten
Funktion, der Bewahrung des Friedens. Ob Irak oder Libyen – die Umgehung des
Sicherheitsrates oder die absichtliche Fehlinterpretation seines Mandates haben nicht nur der
Glaubwürdigkeit der VN massiv geschadet, haben doch die großen Mächte das Signal
ausgesendet, dass es Regeln gibt, die man nicht beachten muss. Horst Köhler
Große Rede von Altbundespräsident Köhler beim DGVN-Festakt zu 70 Jahren Vereinte Nationen
Winfried
Nachtwei, MdB a.D., Vorstandsmitglied der DGVN (24.10.2015)
(Fotos auf
www.facebook.com/winfried.nachtwei
)
Die
Vereinten Nationen wurden vor 70 Jahren „nicht
gegründet, um der Menschheit den Himmel zu bringen, sondern um sie
vor der Hölle zu bewahren“
– so der britische Premierminister Winston Churchill und der zweite
UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Heute sind die VN dringlicher
denn je: Wirksamere Vereinte Nationen gegen die Kriegsbrände,
humanitären Großkatastrophen und globalen Herausforderungen.
Der
ehemalige
Bundespräsident Horst Köhler
hielt auf dem Festakt der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten
Nationen (DGVN) zum 70-jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen am
21. Oktober 2015 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
die Festrede vor ca. 500 Gästen, darunter Botschaftern bzw.
Gesandten aus 36 Ländern.
Es
war eine herausragende, wirklich große Rede, eine nachdenkliche,
selbstkritisch-ehrliche, ermutigende Ruck-Rede an die Regierungen und
Zivilgesellschaften, die Chancen der Vereinten Nationen endlich
besser zu nutzen.
Im
vergangenen Jahrzehnt hätten wir „eine
Interventionspolitik gesehen, die einem angesichts ihrer
Kurzsichtigkeit und, ja, Inkompetenz den Atemverschlägt. Die
Leidtragenden sind jetzt Millionen Frauen, Männer und Kinder
besonders im Nahen Osten – und natürlich muss die Suppe wieder vor
allem die VN auslöffeln.“
Die Liste der globalen Herausforderungen, die sich um Staatsgrenzen
nicht scheren, sei lang: Terrorismus, Ebola, Klimawandel, Migration …
„All
diese Themen rufen nach einer global governance, deren Ziel sich
nicht mehr darauf beschränkt sicherzustellen, dass die
nationalstaatlichen Boote nicht miteinander kollidieren, sondern
welche die Weltpolitik in dem einen Boot koordiniert, in dem alle
Völker längst sitzen. Diese Tatsache erfordert, den Begriff des
nationalen Interesses neu zu denken, denn unsere Interessen sind
längst so sehr miteinander verwoben, dass es tatsächlich so etwas
wie ein globales Interesse, ein globales Gemeinwohl gibt.“
Die VN seien das „dickste
aller Bretter, das es zu bohren gilt. Langsam und geduldig, an vielen
Stellen gleichzeitig. (…) Es wäre (..) ein Fehler, die VN nur
unter der Bedingung ernst zu nehmen, dass sie sich reformiert. Erst
umgekehrt wird ein Schuh daraus: wenn die Mitgliedsstaaten den
Multilateralismus und damit die Vereinten Nationen wieder ernst
nehmen und echtes politisches Kapital investieren, dann wird es auch
zu Reformen kommen können.“
Eine
so orientierungsstarke und wichtige Rede habe ich zur internationalen
Politik seit Jahren nicht gehört. (Na, dann haben Sie wohl die gewichtigen Reden von Putin, Xi Jinpeng und Rouhani vor der UN-Generalsversammlung in New York nicht gehört Blogger-Comment) Sie verdient breiteste Beachtung -
nicht zuletzt auch beim gegenwärtigen Weißbuchprozess des
Verteidigungsministeriums. (Der Redetext
unter
http://www.dgvn.de/fileadmin/user_upload/DOKUMENTE/Vortraege/Festakt_K%C3%B6hler/Festakt_70_Jahre-RedeK%C3%B6hler.pdf
)
Für
politisch skandalös
halte ich allerdings die Null-Berichterstattung über die Rede in den
deutschen Tagesmedien. Warum erhalten Hetzreden bei Pegida breiten
medialen Resonanzraum, während eine solche bedeutende Hoffnungsrede
trotz breiter Vorabinformation der Presse ausnahmslos (!) ignoriert
wird? (Dass dies kein bloßes Tagesversäumnis war, zeigt die
„verlässliche“ Nichtberichterstattung über die
friedenspolitischen Großereignisse der inzwischen drei „Tage des
Peacekeepers“ in Deutschland wie auch den „Leader`s Summit on
Peacekeeping“ mit seinen spektakulären Blauhelm-Zusagen am 28.
September in New York.)
Hier
ein Kurzbericht von der DGVN-Seite:
Im
Jahr 1945, in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, versprach die
Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen am 24. Oktober
Großes: Die Vereinten Nationen sollten „künftige Geschlechter vor
der Geißel des Krieges“ bewahren, die Grundrechte der Menschen
stärken und sogleich Bedingungen schaffen, unter denen Gerechtigkeit
und weltweiter sozialer Fortschritt gedeihen kann.
Genau
70 Jahre später und anlässlich dieses Gründungsjubiläums lud die
Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) zum
Festakt in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin ein.
Zahlreiche namhafte Gäste aus Politik, Gesellschaft und Kultur
folgten dieser Einladung und stellten damit die Rolle der Vereinten
Nationen als wichtiges diplomatisches Forum, auch für Deutschland,
auf eindrucksvolle Weise unter Beweis.
Musikalisch
eröffnet wurde der Abend mit der Hymne der Vereinten Nationen von
Pau Casals. Zur Begrüßung verwies Pfarrer Martin Germer darauf,
dass die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eine ganz besonders enge
und lange Verbindung zur Idee der Vereinten Nationen aufweist:
bereits am Sedantag zur Feier des Sieges über Frankreich hatte
Pfarrer Nithak-Stahn 1911 die Regierungen der Welt zu
„friedestiftenden Verträgen“ aufgerufen. Der Vorsitzende der
Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Detlef
Dzembritzki, unterstrich: „Die Vereinten Nationen sind als
globalpolitische Konsequenz zweier verheerender Weltkriege gegründet
worden. Wir wollen heute am 70. Gründungsjubiläum nicht nur daran
erinnern, sondern aus der Geschichte Impulse für die aktuellen
Herausforderungen ableiten.“
Horst
Köhler, Bundespräsident a.D. hielt die Festrede unter dem Titel:
„Abschied
vom Menschheitstraum? Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert".
Köhler erinnerte daran, dass die Gründung der VN 1945 kein
Selbstläufer war, sondern das Ergebnis von politischem Willen, einer
mutigen Vision und knallhartem Pragmatismus. Die VN-Gründung sei
damit gerade heute „eine Mahnung an jene, die ihr Heil wieder in
nationalstaatlichen Schneckenhäusern suchen, und auch an jene, die
ihren Mangel an politischen Visionen für Realpolitik halten“. Der
Altbundespräsident hielt ein leidenschaftliches Plädoyer dafür,
die „Vereinten Nationen zu einer echten universellen Organisation
werden zu lassen, die eine langfristig angelegte weltweite
Transformation hin zu Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle
organisiert, anstatt zu einer Agentur zur Bekämpfung humanitärer
Krisen zu verkümmern“.
Die
zahlreichen Gäste aus Politik, Kultur und Gesellschaft (…)
würdigten diesen Rundumblick mit anhaltendem Applaus.
Für
die DGVN wurde der Abend zu einem Erfolg: „Es ist deutlich
geworden“, so der Vorsitzende Dzembritzki, „dass die Vereinten
Nationen in dem Maße handlungs- und zukunftsfähig sind, wie die
Staaten bereit sind, die angebotenen Foren für Verhandlungen und
gemeinsame Maßnahmen tatsächlich zu nutzen.“
Tagesschau
am 24. Oktober zum Inkrafttreten der UN-Charta vor 70 Jahren,
Markus Schmidt/ARD New York,
http://www.tagesschau.de/ausland/70jahre-uno-103.html
Hörfunk
ARD
am 24. Oktober zum Inkrafttreten der UN-Charta,
Georg Schwarte/ARD New York,
http://www.tagesschau.de/multimedia/audio/audio-22185.html
Weitere
Informationen zur UN-Friedenssicherung,
zu UN-Friedensmissionen, zur Bundestagsdebatte am 14. Oktober
und zum „Leader`s Summit on Peacekeeping“ am
28. September in New York. Auf
Initiative von US-Präsident Obama sagten hier Vertreter von 50
Staaten überraschend insgesamt 40.000 Peacekeeper zu, China allein
spektakuläre 8.000 (auch hierüber keinerlei Informationen in der
deutschen Presse):
Bericht
von der DGVN-Fachtagung
„70 Jahre Vereinte Nationen – Legitimität, Krise und Potenzial“
am 8./9. Oktober in Berlin:
http://www.dgvn.de/meldung/bericht-zur-dgvn-fachtagung-70-jahre-vereinte-nationen-legitimitaet-krise-und-potenzial/
UN-Friedenssicherung
und Regierungserklärung:
http://frieden-sichern.dgvn.de/meldung/70-jahre-vereinte-nationen-herausforderung-friedenssicherung/
;
Leader`s
Summit on Peacekeeping:
http://frieden-sichern.dgvn.de/meldung/barack-obama-und-die-blauhelme-supporter-in-chief/
Rede
von Tom Koenigs zur Regierungserklärung „70 Jahre Vereinte
Nationen“
am 14.10.2015:
http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2015/oktober/regierungserklaerung-70-jahre-vereinte-nationen_ID_4396884.html
Auswärtiges
Amt: „70 Jahre Vereinte Nationen: Unentbehrlich für den Frieden“
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/VereinteNationen/0_Aktuell/150119_VN70_node.html
70
Jahre Vereinte Nationen
Die
Welt ein bisschen besser machen
(Stand:
26.06.2015 02:53 Uhr, von
Georg Schwarte, NDR, ARD-Hörfunkstudio New York)
Heute
vor 70 Jahren wurden die Vereinten Nationen gegründet. Die UNO sei
eine Quatschbude, befand einst der französische Präsident de
Gaulle. Trotz aller Kritik ist die Liste ihrer Erfolge lang - auch
wenn vieles wenig Beachtung findet.
Tue
Gutes und rede kaum drüber. Das könnte auch ein Motto der Vereinten
Nationen sein. Denn trotz harscher Kritik beispielsweise an der
politischen Lähmung des UN-Sicherheitsrates - Charles de Gaulle
nannte die UNO einst eine Quatschbude - zieht der frühere
UN-Generalsekretär Kofi Annan ein anderes, ein erfreulicheres
Fazit. "Wir sind die einzige Organisation dieser Erde, die
die Macht hat, jedes Land der Welt hier an einen Tisch zu bringen und
zu sagen: Lass uns das diskutieren." Es sei keine perfekte
Organisation, aber die Beste, die wir haben.
Viel
erreicht - nicht nur Nobelpreise
In
ihren 70 Jahren haben die Vereinten Nationen viel erreicht, diese
Welt ein bisschen besser gemacht. Bei fast jeder Katastrophe weltweit
springt das World Food Programme ein - 104 Millionen Menschen in 81
Ländern hungern jedes Jahr nicht, dank dieser UN-Einrichtung. Das
UN-Flüchtlingshilfswerk, ein weiterer Erfolg der Vereinten Nationen.
Zwei Nobelpreise belegen, was bisher 17 Millionen Flüchtlinge
erlebten: Hilfe durch die UN.
Die
Friedensmissionen samt Blauhelmen: nicht perfekt, aber bisweilen
erfolgreich. 16 Missionen laufen derzeit, Beispiele wie Namibia,
Nicaragua, Kambodscha und Mosambique sind die großen Erfolge,
überschattet aber regelmäßig vom öffentlichen Scheitern wie
derzeit im Fall Syrien oder Gaza. Dass in 50 Jahren Blauhelmmissionen
fast 2000 UN-Mitarbeiter ihr Leben ließen. ist auch eine Kehrseite
stiller Erfolge.
UNO
ist überall aktiv
Wie
auch UNICEF, das Kinderhilfswerk, ein weiterer Mosaikstein im
Erfolgsgemälde der Vereinten Nationen ist. Die Kindersterblichkeit
der unter Fünfjährigen wurde seit 1990 mehr als halbiert: auch ein
sehr stiller Erfolg der Vereinten Nationen, deren Haltung der
Ex-Generalsekretär Annan mal so beschrieb: "Wir arbeiten hart,
aber wir versuchen dabei Spaß zu haben."
Beobachtung
von freien Wahlen, ein Hochkommissariat für Menschenrechte, die
UN-Kinderrechtscharta, der Kampf gegen Aids und das große Thema der
Kindersoldaten. Überall ist die UNO aktiv. So bleibt trotz vieler
Unvollkommenheiten am Ende der eine Satz, den in New York viele -
auch die frustrierten - UN-Diplomaten zitieren: Gäbe es die
Vereinten Nationen nicht, die Welt müsste sie schleunigst erfinden.