Die Sonne scheint, einige Wolken ziehen am blauen Himmel dahin. Menschen laufen am Strand, genießen das Rauschen und den Duft der Ostsee. Sie tauchen in sie ein und kehren schwimmend an den hellen Strand zurück. Das ist ein Friedenstag an der Ostseeküste. Es ist der Sonntag, der 23. Juni 2019.
Zur gleichen Zeit erinnert die Sängerin Gina Pietsch, am Klavier begleitet von ihrer Tochter Frauke, in einem Hotel in Stralsund an einen großen Krieg: an den am Vortag vor 78 Jahren begonnenen Überfall der faschistischen deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auf die Sowjetunion, an den Vernichtungskrieg und seine Millionen Opfer. Erst nach rund fünf Jahren war der Frieden zurückgewonnen und die faschistischen Mörder von der Roten Armee und ihre Alliierten besiegt.
© SPUTNIK / TILO GRÄSER
Der Historiker Stefan Bollinger
Warnung vor Krieg
Es waren nicht viele Menschen, die der Sängerin mit der angerauhten Stimme zuhörten. Vielleicht lag es einfach an dem schönen Wetter und dass sie am Meer diesen Tag des Friedens genoßen. Sie dachten nicht daran, dass dieser Frieden wieder bedroht ist, auch in Europa.
Davor warnt an dem Sonntag nicht nur Gina Pietsch gemeinsam mit ihrer Tochter. Das taten bereits am Vortag die Politikberaterin Petra Erler, der Historiker Stefan Bollinger und der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu von der Partei Die Linke. Sie alle beschäftigte an beiden Tage die Frage „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“, die der sowjetische Dichter Jewgeni Jewtuschenko bereits 1960 gestellt hatte. Sie taten das während der Stralsunder Russlandtage, zu denen der Stadtverband der Partei Die Linke eingeladen hatte, allen voran Siegfried Dienel, ein ehemaliger Offizier.
Politikberaterin Erler, die unter anderem Mitarbeiterin des ehemaligen EU-Kommissars Günter Verheugen war, berichtete von einer Nato-Expertenberatung in Aachen im Oktober 2018. Dort sei es um die Frage gegangen „Wie gehen wir um mit dem Nebel des Tages 0?“ Das sei die militärische Umschreibung für die Frage: „Sind wir schon im echten, dem heißen Krieg oder sind wir noch im kalten, dem Informationskrieg?“ Zugleich hätten die Nato-Experten darüber diskutiert, wie die Bevölkerung dazu gebracht werden könne, dass sie diesen Vorkriegszustand auch akzeptiert.
Doch Erler machte klar, dass das nicht zu akzeptieren sei.
Deutsche Verantwortung
Sie stellte klar, dass tatsächlich ein Informationskrieg geführt wird – gegen Russland. Das geschehe, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung in der Europäischen Union dagegen und für ein besseres Verhältnis zu Russland sei. Gegen alle, die sich genau für Letzteres aussprechen und einsetzen, werde gleichzeitig auch in den meinungsführenden Medien gehetzt. Wer sich dafür ausspreche, den Frieden zu sichern, werde gar als unwillig zum Krieg diffamiert, so Erler mit Verweis auf die inzwischen von der Bildfläche verschwundene antirussische „Integrity Initiative“.
Die Politikberaterin kritisierte deutlich die westliche Politik gegenüber Russland. „Diejenigen, die sich zumindest einer Partnerschaft mit Russland – nicht einer Freundschaft – aussprechen, haben sofort ein immenses Problem.“ Immer wieder werde von Politikern und Medien erklärt, dass die Bundesregierung keine eigenständige Politik gegenüber Russland geben und dass das nur im Rahmen der EU geschehen sollte.
„Das ist natürlich eine Mogelpackung“, kommentierte das Erler und verwies darauf, dass niemand dagegen die eigenständige deutsche Außenpolitik im Fall Israels bestreite. Diese werde mit der besonderen deutschen Verantwortung gegenüber Israel aufgrund der faschistischen Judenvernichtung im 2. Weltkrieg begründet. Das sei nicht zu bestreiten, so Erler, aber: „Natürlich haben wir eine historische Verantwortung gegenüber den Völkern der einstigen Sowjetunion aufgrund des Vernichtungskrieg im Osten mit seinen 27 Millionen Toten.“
Verdrängte Geschichte
Die Vernichtung der europäischen Juden habe zudem mit dem Überfall auf die Sowjetunion vor 78 Jahren begonnen, erinnerte sie. Und es seien zuerst Juden aus Deutschland umgebracht worden, nachdem sie in die besetzten osteuropäischen Gebiete deportiert wurden – „zuallererst jüdische Kommunisten“. Die Politikberaterin und ehemalige EU-Kommission-Mitarbeitern warnte vor dem Vergessen und Verdrängen der Geschichte. Das beobachte sie zunehmend und mit wachsender Sorge.
Diese Sorge treibt auch den Historiker Stefan Bollinger um, der in Stralsund an die Vorgeschichte des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion und den Weg in den 1939 begonnenen 2. Weltkrieg erinnerte. Gegenwärtig verändere sich die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse. So sei kürzlich an die Landung der westlichen Alliierten in der Normandie vor 75 Jahren erinnert worden. Bollinger dazu: „Es wird eine Geschichtsschreibung betrieben, in der offenbar dieser Krieg durch die drei alliierten Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich geführt und gewonnen worden ist. Geringfügig übersehen wird, dass die Hauptauseinandersetzung und der Haupteinsatz der deutschen Truppen im Osten gegen die Sowjetunion stattgefunden hat.“
Der Historiker beklagte ebenso, dass am 27. Januar zwar offiziell der Opfer des Faschismus und der Befreiung des KZ Auschwitz gedacht werde, während dabei übersehen werde, dass das durch sowjetische Truppen erfolgte. Zugleich werde so der Eindruck erweckt, „dass dieser 2. Weltkrieg nur ein Weltkrieg war, den Hitler ausgelöst hat, um die Juden zu vernichten“. Dabei würden „großzügig“ die anderen Ziele dieses faschistischen Krieges übersehen: Die Vernichtung des Weltkommunismus, die Vernichtung nicht nur der Juden, sondern auch der Sinti und Roma und auch der Slawen. „Auch das sollte man etwas stärker ins Gedächtnis rücken“, forderte der Historiker, „weil das zur Wahrheit der Geschichte gehört“.
Klares Kriegsziel
Zudem werde ausgeblendet werde, dass eine Anti-Hitler-Koalition den Krieg gewann, zu der neben den Alliierten aus dem Westen und der Sowjetunion auch der Widerstand in den besetzten Ländern gehörte. Dessen Aktive hätten oft verschiedene politische und weltanschauliche Ausrichtung gehabt. Zu ihnen hätten bürgerliche und christliche Antifaschisten ebenso wie Kommunisten gehört.
Die deutschen Faschisten wollten nicht nur erobern, sondern auch vernichten, hob Bollinger hervor und erinnerte daran, dass nicht Hitler allein den Krieg wollte. So erscheint es in manchen Darstellungen und Publikationen der letzten Jahre. Es sei nicht allein der Krieg Hitlers und der Faschisten oder der deutschen Generäle gewesen.
„Es war das gemeinsame Eliten-Projekt von Konzernherren, Militärs und von rechten Intellektuellen, die eigentlich 1918 vermeintlich entmachtet worden sind.“ Doch letzteres sei nicht geschehen, stattdessen hätten diese Eliten sich auf den nächsten Krieg als Revanche für den verlorenen 1. Weltkrieg vorbereitet.
„Dieser Krieg gegen die Sowjetunion war vom ersten Tag an ein Vernichtungskrieg gegen Kommunisten, gegen als ‚rassisch minderwertig‘ angesehene Juden und auch gegen Slawen, denen man bestenfalls einen Platz als Sklaven der neuen Ordnung zugestanden hatte.“
Linke Unklarheit
Es sei für linke Kräfte gegenwärtig nicht leicht, an die Geschichte und ihre Zusammenhänge zu erinnern. Das gelte ebenso für die Antworten auf die Fragen, wie heute Kriege gemacht werden, wem sie nutzen und wer hinter den Aggressoren steht. Mit Blick auf die heranwachsenden jüngeren Generationen bezeichnete Bollinger Aufklärung über die Geschichte als notwendiger denn je.
Wie schwierig das im Zusammenhang mit dem aktuellen Konflikt zwischen dem Westen und Russland selbst unter den linken Kräften ist, machte der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu deutlich. Seine eigene Partei und deren Fraktion im Bundestag seien gespalten in Kräfte, die für ein besseres und vernünftiges Verhältnis zu Russland eintreten, und jenen, die russlandfeindlich auftreten. Neu belegte das mit verschiedenen Aktionen auf Parteitage der Partei Die Linke, auf denen unter anderem russlandfreundliche Anträge abgebogen und verhindert wurden, so zuletzt im Februar dieses Jahres in Bonn.
Während selbst ostdeutsche Politiker der Linkspartei sich russophob verhalten, würden gerade ostdeutsche Politiker der „Alternative für Deutschland“ (AfD) für eine russlandfreundlichere Politik einsetzen, berichtete der Abgeordnete. Er widersprach aber dem Bild von einer AfD, die insgesamt Russland gegenüber positiv eingestellt sei. Deren westdeutsche Politiker seien nicht weniger transatlantisch und Pro-Nato eingestellt wie jen e aus der Union und der SPD, bei den Grünen und der FDP.
Deutliche Warnung
Die Außenpolitiker in der Linksfraktion, zu denen er selbst gehört, seien für ein besseres Verhältnis zu Russland, so Neu und würden sich dafür aktiv einsetzen. Er befürchtet, dass die Friedensfrage“ aber „unter die Räder“ kommt, wenn die Menschen sich zwar für Umwelt und gegen den Klimawandel engagieren, aber die zunehmende Kriegsgefahr ignorieren. Der Frieden spiele in der gegenwärtigen gesellschaftliche Debatten kaum eine Rolle.
Das macht auch Politikberaterin Erler zunehmend Sorgen. Sie warnte vor den Folgen der anhaltenden Konfrontationspolitik gegenüber Russland. Dabei betonte sie sogar, sie könne nachweisen, dass es sich bei der „Skripal-Affäre“, einem der jüngsten Elemente in dieser Konfrontation gegen Russland, um eine Lüge handele. Ebenso äußerte sie Zweifel an den offiziellen Darstellungen zu dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges MH 17 im Juli 2014 über der Ostukraine.
Erler hofft nach ihren Worten auf die Macht der öffentlichen Meinung, um die Politik wieder zur Vernunft zu bringen. Die Menschen müssten erkennen, „dass man gemeinsame Interessen hat, auch wenn es ihnen heute am allerschwierigsten fällt“. „Das ist möglicherweise bewusst gemacht“, fügte sie hinzu.
Notwendige Gemeinsamkeit
„Gegen alle, die uns auseinanderbringen wollen“, sollten all jene zusammen stehen, die den Frieden bewahren und auch wieder ein besseres Verhältnis zu Russland erreichen wollen. Das sagte Sängerin Gina Pietsch am Ende ihres beeindruckenden Konzertes mit Liedern und texten zum Thema von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky Alexander Solobjow, Sting, Franz Josef Degenhardt, Volker Braun, Wladimir Wyssozki und anderen.
Sie gab mit den Liedern eine klare Antwort auf die Frage von Jewtuschenko „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Mit einer beeindruckenden Stimme und ihrer sich in die Texte einfühlenden Art zeigte sie, dass Kunst auch heute politisch sein kann, dass sie Partei ergreifen kann – nicht für eine Partei, sondern für den Frieden und gegen jene, die Krieg wollen und führen.
Pietsch sang auch das Lied „Der heilige Krieg“ von Wassili Lebedjew-Kumatsch und Alexander Alexandrow, das ab September 1941 täglich über „Radio Moskau“ die sowjetischen Soldaten begleitete, die in den Krieg gegen die Faschisten zogen. Sie trug auch Jewtuschenkos Text als Lied vor, darunter die Zeile: „Nicht nur fürs eigene Land, fiel der Soldat im Weltenbrand, nein, damit auf Erden jeder Mensch in Ruhe schlafen gehen kann ...“
Alter Irrtum
Und so genoßen die Menschen am Sonntag im sommerlichen Stralsund den friedlichen Tag, während die Sängerin an den Krieg erinnerte, der vor 78 Jahren begann und den die Menschen der Sowjetunion mit unfassbaren Opfer bezahlen mussten, darunter 27 Millionen Tote. Nur wenige kamen am Samstag an das sowjetische Ehrenmal in Stralsund und gedachten des Überfalls. Veranstaltungsorganisator Dienel legte dort Blumen nieder, ohne Begleitung von Funktionären seiner Partei. Die berieten in Schwerin über die Folgen der jüngste EU-Wahl.
Unterdessen wird Russland durch immer neue Nato-Manöver und -Truppenaufmärsche sowie einem angeblichen „Raketenabwehrsystem“ mit einem möglichen Krieg bedroht, wider alle Vernunft. Das geschieht einschließlich bundesdeutscher Soldaten und Waffen, so nahe an Sankt Petersburg, wie seit dem faschistischen Überfall vor 78 Jahren nicht mehr. Es scheint, als solle Russland wieder zu Kreuze kriechen, auch zum Balkenkreuz, und kuschen. Diesen Irrtum müssen aber alle bezahlen, hier wie dort, wie auf den Stralsunder Russlandtagen deutlich gemacht wurde.
Siegfried Dienel, Initiator der Russlandtage, legte am 22. Juni 2019 Blumen am Sowjetischen Ehrenmal in Stralsund niederErinnerung an Überfall auf Sowjetunion: Wer damals Krieg wollte und auch heute will © Sputnik / Tilo Gräser KOMMENTARE 20:11 23.06.2019(aktualisiert 20:18 23.06.2019) Zum Kurzlink Tilo Gräser 101015 „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Diese Frage hat der Dichter Jewgeni Jewtuschenko vor fast 60 Jahren gestellt. Eine Antwort darauf haben die Stralsunder Russlandtag am Samstag und Sonntag gegeben. Neben einem Historiker, einem Politiker und einer Politikberaterin hat eine Sängerin klar gemacht: Die Menschen wollen Frieden – auch mit Russland. Die Sonne scheint, einige Wolken ziehen am blauen Himmel dahin. Menschen laufen am Strand, genießen das Rauschen und den Duft der Ostsee. Sie tauchen in sie ein und kehren schwimmend an den hellen Strand zurück. Das ist ein Friedenstag an der Ostseeküste. Es ist der Sonntag, der 23. Juni 2019. Zur gleichen Zeit erinnert die Sängerin Gina Pietsch, am Klavier begleitet von ihrer Tochter Frauke, in einem Hotel in Stralsund an einen großen Krieg: an den am Vortag vor 78 Jahren begonnenen Überfall der faschistischen deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auf die Sowjetunion, an den Vernichtungskrieg und seine Millionen Opfer. Erst nach rund fünf Jahren war der Frieden zurückgewonnen und die faschistischen Mörder von der Roten Armee und ihre Alliierten besiegt. Der Historiker Stefan BollingerDer Bundestagsabgeordnete Dr. Alexander Neu (Die Linke)Die Politikberaterin Petra Erler (SPD), neben ihr Siegfried DienelKinder der Tanzgruppe „Viva“ gestalteten das Kulturprogramm mitDie Sängerin und Brecht-Interpretin Gina Pietsch, begleitet am Klavier von ihrer Tochter Frauke, bekam Standing OvationsEin Chor von Frauen aus verschiedenen Ex-Sowjetrepubliken sang russische und ukrainische Volkslieder 1 / 6 © SPUTNIK / TILO GRÄSER Der Historiker Stefan Bollinger Warnung vor Krieg Es waren nicht viele Menschen, die der Sängerin mit der angerauhten Stimme zuhörten. Vielleicht lag es einfach an dem schönen Wetter und dass sie am Meer diesen Tag des Friedens genoßen. Sie dachten nicht daran, dass dieser Frieden wieder bedroht ist, auch in Europa. Davor warnt an dem Sonntag nicht nur Gina Pietsch gemeinsam mit ihrer Tochter. Das taten bereits am Vortag die Politikberaterin Petra Erler, der Historiker Stefan Bollinger und der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu von der Partei Die Linke. Sie alle beschäftigte an beiden Tage die Frage „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“, die der sowjetische Dichter Jewgeni Jewtuschenko bereits 1960 gestellt hatte. Sie taten das während der Stralsunder Russlandtage, zu denen der Stadtverband der Partei Die Linke eingeladen hatte, allen voran Siegfried Dienel, ein ehemaliger Offizier. Politikberaterin Erler, die unter anderem Mitarbeiterin des ehemaligen EU-Kommissars Günter Verheugen war, berichtete von einer Nato-Expertenberatung in Aachen im Oktober 2018. Dort sei es um die Frage gegangen „Wie gehen wir um mit dem Nebel des Tages 0?“ Das sei die militärische Umschreibung für die Frage: „Sind wir schon im echten, dem heißen Krieg oder sind wir noch im kalten, dem Informationskrieg?“ Zugleich hätten die Nato-Experten darüber diskutiert, wie die Bevölkerung dazu gebracht werden könne, dass sie diesen Vorkriegszustand auch akzeptiert. Doch Erler machte klar, dass das nicht zu akzeptieren sei. Deutsche Verantwortung Sie stellte klar, dass tatsächlich ein Informationskrieg geführt wird – gegen Russland. Das geschehe, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung in der Europäischen Union dagegen und für ein besseres Verhältnis zu Russland sei. Gegen alle, die sich genau für Letzteres aussprechen und einsetzen, werde gleichzeitig auch in den meinungsführenden Medien gehetzt. Wer sich dafür ausspreche, den Frieden zu sichern, werde gar als unwillig zum Krieg diffamiert, so Erler mit Verweis auf die inzwischen von der Bildfläche verschwundene antirussische „Integrity Initiative“. Die Politikberaterin kritisierte deutlich die westliche Politik gegenüber Russland. „Diejenigen, die sich zumindest einer Partnerschaft mit Russland – nicht einer Freundschaft – aussprechen, haben sofort ein immenses Problem.“ Immer wieder werde von Politikern und Medien erklärt, dass die Bundesregierung keine eigenständige Politik gegenüber Russland geben und dass das nur im Rahmen der EU geschehen sollte. „Das ist natürlich eine Mogelpackung“, kommentierte das Erler und verwies darauf, dass niemand dagegen die eigenständige deutsche Außenpolitik im Fall Israels bestreite. Diese werde mit der besonderen deutschen Verantwortung gegenüber Israel aufgrund der faschistischen Judenvernichtung im 2. Weltkrieg begründet. Das sei nicht zu bestreiten, so Erler, aber: „Natürlich haben wir eine historische Verantwortung gegenüber den Völkern der einstigen Sowjetunion aufgrund des Vernichtungskrieg im Osten mit seinen 27 Millionen Toten.“ Verdrängte Geschichte Die Vernichtung der europäischen Juden habe zudem mit dem Überfall auf die Sowjetunion vor 78 Jahren begonnen, erinnerte sie. Und es seien zuerst Juden aus Deutschland umgebracht worden, nachdem sie in die besetzten osteuropäischen Gebiete deportiert wurden – „zuallererst jüdische Kommunisten“. Die Politikberaterin und ehemalige EU-Kommission-Mitarbeitern warnte vor dem Vergessen und Verdrängen der Geschichte. Das beobachte sie zunehmend und mit wachsender Sorge. Diese Sorge treibt auch den Historiker Stefan Bollinger um, der in Stralsund an die Vorgeschichte des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion und den Weg in den 1939 begonnenen 2. Weltkrieg erinnerte. Gegenwärtig verändere sich die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse. So sei kürzlich an die Landung der westlichen Alliierten in der Normandie vor 75 Jahren erinnert worden. Bollinger dazu: „Es wird eine Geschichtsschreibung betrieben, in der offenbar dieser Krieg durch die drei alliierten Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich geführt und gewonnen worden ist. Geringfügig übersehen wird, dass die Hauptauseinandersetzung und der Haupteinsatz der deutschen Truppen im Osten gegen die Sowjetunion stattgefunden hat.“ Der Historiker beklagte ebenso, dass am 27. Januar zwar offiziell der Opfer des Faschismus und der Befreiung des KZ Auschwitz gedacht werde, während dabei übersehen werde, dass das durch sowjetische Truppen erfolgte. Zugleich werde so der Eindruck erweckt, „dass dieser 2. Weltkrieg nur ein Weltkrieg war, den Hitler ausgelöst hat, um die Juden zu vernichten“. Dabei würden „großzügig“ die anderen Ziele dieses faschistischen Krieges übersehen: Die Vernichtung des Weltkommunismus, die Vernichtung nicht nur der Juden, sondern auch der Sinti und Roma und auch der Slawen. „Auch das sollte man etwas stärker ins Gedächtnis rücken“, forderte der Historiker, „weil das zur Wahrheit der Geschichte gehört“. Klares Kriegsziel Zudem werde ausgeblendet werde, dass eine Anti-Hitler-Koalition den Krieg gewann, zu der neben den Alliierten aus dem Westen und der Sowjetunion auch der Widerstand in den besetzten Ländern gehörte. Dessen Aktive hätten oft verschiedene politische und weltanschauliche Ausrichtung gehabt. Zu ihnen hätten bürgerliche und christliche Antifaschisten ebenso wie Kommunisten gehört. Die deutschen Faschisten wollten nicht nur erobern, sondern auch vernichten, hob Bollinger hervor und erinnerte daran, dass nicht Hitler allein den Krieg wollte. So erscheint es in manchen Darstellungen und Publikationen der letzten Jahre. Es sei nicht allein der Krieg Hitlers und der Faschisten oder der deutschen Generäle gewesen. „Es war das gemeinsame Eliten-Projekt von Konzernherren, Militärs und von rechten Intellektuellen, die eigentlich 1918 vermeintlich entmachtet worden sind.“ Doch letzteres sei nicht geschehen, stattdessen hätten diese Eliten sich auf den nächsten Krieg als Revanche für den verlorenen 1. Weltkrieg vorbereitet. „Dieser Krieg gegen die Sowjetunion war vom ersten Tag an ein Vernichtungskrieg gegen Kommunisten, gegen als ‚rassisch minderwertig‘ angesehene Juden und auch gegen Slawen, denen man bestenfalls einen Platz als Sklaven der neuen Ordnung zugestanden hatte.“ Linke Unklarheit Es sei für linke Kräfte gegenwärtig nicht leicht, an die Geschichte und ihre Zusammenhänge zu erinnern. Das gelte ebenso für die Antworten auf die Fragen, wie heute Kriege gemacht werden, wem sie nutzen und wer hinter den Aggressoren steht. Mit Blick auf die heranwachsenden jüngeren Generationen bezeichnete Bollinger Aufklärung über die Geschichte als notwendiger denn je. Wie schwierig das im Zusammenhang mit dem aktuellen Konflikt zwischen dem Westen und Russland selbst unter den linken Kräften ist, machte der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu deutlich. Seine eigene Partei und deren Fraktion im Bundestag seien gespalten in Kräfte, die für ein besseres und vernünftiges Verhältnis zu Russland eintreten, und jenen, die russlandfeindlich auftreten. Neu belegte das mit verschiedenen Aktionen auf Parteitage der Partei Die Linke, auf denen unter anderem russlandfreundliche Anträge abgebogen und verhindert wurden, so zuletzt im Februar dieses Jahres in Bonn. Während selbst ostdeutsche Politiker der Linkspartei sich russophob verhalten, würden gerade ostdeutsche Politiker der „Alternative für Deutschland“ (AfD) für eine russlandfreundlichere Politik einsetzen, berichtete der Abgeordnete. Er widersprach aber dem Bild von einer AfD, die insgesamt Russland gegenüber positiv eingestellt sei. Deren westdeutsche Politiker seien nicht weniger transatlantisch und Pro-Nato eingestellt wie jen e aus der Union und der SPD, bei den Grünen und der FDP. Deutliche Warnung Die Außenpolitiker in der Linksfraktion, zu denen er selbst gehört, seien für ein besseres Verhältnis zu Russland, so Neu und würden sich dafür aktiv einsetzen. Er befürchtet, dass die Friedensfrage“ aber „unter die Räder“ kommt, wenn die Menschen sich zwar für Umwelt und gegen den Klimawandel engagieren, aber die zunehmende Kriegsgefahr ignorieren. Der Frieden spiele in der gegenwärtigen gesellschaftliche Debatten kaum eine Rolle. Das macht auch Politikberaterin Erler zunehmend Sorgen. Sie warnte vor den Folgen der anhaltenden Konfrontationspolitik gegenüber Russland. Dabei betonte sie sogar, sie könne nachweisen, dass es sich bei der „Skripal-Affäre“, einem der jüngsten Elemente in dieser Konfrontation gegen Russland, um eine Lüge handele. Ebenso äußerte sie Zweifel an den offiziellen Darstellungen zu dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges MH 17 im Juli 2014 über der Ostukraine. Erler hofft nach ihren Worten auf die Macht der öffentlichen Meinung, um die Politik wieder zur Vernunft zu bringen. Die Menschen müssten erkennen, „dass man gemeinsame Interessen hat, auch wenn es ihnen heute am allerschwierigsten fällt“. „Das ist möglicherweise bewusst gemacht“, fügte sie hinzu. Notwendige Gemeinsamkeit „Gegen alle, die uns auseinanderbringen wollen“, sollten all jene zusammen stehen, die den Frieden bewahren und auch wieder ein besseres Verhältnis zu Russland erreichen wollen. Das sagte Sängerin Gina Pietsch am Ende ihres beeindruckenden Konzertes mit Liedern und texten zum Thema von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky Alexander Solobjow, Sting, Franz Josef Degenhardt, Volker Braun, Wladimir Wyssozki und anderen. Sie gab mit den Liedern eine klare Antwort auf die Frage von Jewtuschenko „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Mit einer beeindruckenden Stimme und ihrer sich in die Texte einfühlenden Art zeigte sie, dass Kunst auch heute politisch sein kann, dass sie Partei ergreifen kann – nicht für eine Partei, sondern für den Frieden und gegen jene, die Krieg wollen und führen. Pietsch sang auch das Lied „Der heilige Krieg“ von Wassili Lebedjew-Kumatsch und Alexander Alexandrow, das ab September 1941 täglich über „Radio Moskau“ die sowjetischen Soldaten begleitete, die in den Krieg gegen die Faschisten zogen. Sie trug auch Jewtuschenkos Text als Lied vor, darunter die Zeile: „Nicht nur fürs eigene Land, fiel der Soldat im Weltenbrand, nein, damit auf Erden jeder Mensch in Ruhe schlafen gehen kann ...“ Alter Irrtum Und so genoßen die Menschen am Sonntag im sommerlichen Stralsund den friedlichen Tag, während die Sängerin an den Krieg erinnerte, der vor 78 Jahren begann und den die Menschen der Sowjetunion mit unfassbaren Opfer bezahlen mussten, darunter 27 Millionen Tote. Nur wenige kamen am Samstag an das sowjetische Ehrenmal in Stralsund und gedachten des Überfalls. Veranstaltungsorganisator Dienel legte dort Blumen nieder, ohne Begleitung von Funktionären seiner Partei. Die berieten in Schwerin über die Folgen der jüngste EU-Wahl. Unterdessen wird Russland durch immer neue Nato-Manöver und -Truppenaufmärsche sowie einem angeblichen „Raketenabwehrsystem“ mit einem möglichen Krieg bedroht, wider alle Vernunft. Das geschieht einschließlich bundesdeutscher Soldaten und Waffen, so nahe an Sankt Petersburg, wie seit dem faschistischen Überfall vor 78 Jahren nicht mehr. Es scheint, als solle Russland wieder zu Kreuze kriechen, auch zum Balkenkreuz, und kuschen. Diesen Irrtum müssen aber alle bezahlen, hier wie dort, wie auf den Stralsunder Russlandtagen deutlich gemacht wurde.
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