Monday, July 6, 2015

Positive Reaktion auf 61 prozentiges NEIN der Griechen zu Oktroy - german foreign policy.com

Die erste Niederlage

06.07.2015

ATHEN/BERLIN/PARIS

(Eigener Bericht) - Mit dem "Nein" beim gestrigen Referendum in Griechenland muss Deutschland erstmals eine schwere Niederlage beim Oktroy seiner Spardiktate hinnehmen. Rund 61 Prozent der Wähler wiesen am Sonntag eine Übereinkunft Griechenlands mit seinen Gläubigern zurück, die eine Fortsetzung der deutschen Austeritätspolitik vorsah. Für Berlin wiegt die Niederlage umso schwerer, als deutsche Politiker sich massiv in die Referendums-Debatte eingemischt hatten. Nun muss entschieden werden, ob erneut Verhandlungen mit Athen aufgenommen werden - und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Während gestern Abend zahllose Griechen die deutliche Zurückweisung der Spardiktate feierten, erklärten deutsche Politiker, weitere Gespräche mit der Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras seien "kaum vorstellbar" (Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel); Griechenland stehe vielmehr vor dem Ausscheiden aus dem Euro und vor einer "humanitären Katastrophe" (EU-Parlamentspräsident Martin Schulz). Auf Konfliktkurs gegen Berlin geht Paris; der dort regierende Parti Socialiste (PS) sprach sich am gestrigen Abend klar "gegen die Austerität" aus, "die Griechenlands Bruttoinlandsprodukt verringert und zahlreiche Bürger in die Armut gestürzt hat". Erste Entscheidungen werden von der heutigen Zusammenkunft der deutschen Kanzlerin und des französischen Staatspräsidenten erwartet.

Das Nein
Mit dem "Nein" beim gestrigen griechischen Referendum muss Berlin zum ersten Mal eine schwere Niederlage beim Oktroy seiner Spardiktate hinnehmen. Über fünf Jahre lang war es der Bundesregierung gelungen, Griechenland mit Hilfe von EU, EZB und IWF eine Austeritätspolitik aufzuzwingen, die das Land ökonomisch ruiniert und soziale Verwüstungen fürchterlichen Ausmaßes hervorgerufen hat.[1] Die griechische Bevölkerung hat den Spardiktaten nun mit klarer Mehrheit eine Abfuhr erteilt: Rund 61 Prozent der Wähler sprachen sich am gestrigen Sonntag gegen eine Übereinkunft mit Griechenlands Gläubigern aus, die den Austeritätskurs ungeachtet seiner katastrophalen Folgen fortschreiben sollte. Die deutliche Ablehnung ist umso bemerkenswerter, als nicht nur das griechische Establishment mit all seiner Macht für ein "Ja" gekämpft hatte; auch Deutschland und in dessen Gefolge erhebliche Teile der EU hatten sich in beispielloser Weise in die Referendumsdebatte eingemischt und ihren Druck auf die griechische Bevölkerung massiv erhöht - noch bis gestern.
Unter Druck aus Berlin
So hatte in den vergangenen Tagen nicht nur der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble für den Fall eines "Nein" das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro in Aussicht gestellt - offenbar darauf setzend, dass eine klare Mehrheit der griechischen Bevölkerung den Euro behalten will und mit der Drohung seines Entzugs zu einem "Ja" veranlasst werden könne. Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparlaments, warf Ministerpräsident Alexis Tsipras vor, er sei "unberechenbar und manipuliert die Menschen in Griechenland". Schulz hatte schon am Freitag dekretiert, im Falle eines "Ja" müsse Tsipras "folgerichtig" zurücktreten; bis zu Neuwahlen müsse ein - nicht gewähltes - Technokratenkabinett "eine vernünftige Vereinbarung mit den Geldgebern" finden.[2] Ein solches Technokratenkabinett hatten Berlin und Brüssel bereits vor Jahren nicht nur in Griechenland, sondern auch in Italien genutzt, um jeweils die die deutsche Austeritätspolitik zu oktroyieren.[3] Den Attacken auf die demokratisch gewählte griechische Regierung schloss sich schließlich der deutsche Außenminister persönlich an. Athen habe mit einer "Mischung von Unerfahrenheit, Ideologie und radikaler Rhetorik" die "Verhandlungen in die Sackgasse getrieben"; dabei sei "auf der Strecke geblieben, was dieser Kurs für die Menschen in Griechenland bedeutet", behauptete Frank-Walter Steinmeier (SPD).[4] Steinmeier empfahl Athen, einen Weg zu suchen, "der Europa und die Mitgliedsländer der Euro-Zone nicht überfordert". Schon zuvor war der Druck auf die griechische Bevölkerung durch das - von Berlin durchgesetzte [5] - Einfrieren der EZB-Notkredite und die damit erzwungenen Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland drastisch verschärft worden.
Tricks kaum möglich
Die deutsche Niederlage im griechischen Referendum wiegt umso schwerer, als sie - anders als in früheren Fällen - nicht durch einfache Tricks ausgehebelt werden kann. Nach der Ablehnung der EU-Verfassung durch die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande im Jahr 2005 etwa nahm die EU einen weitgehend identischen Gesetzestext unter der Bezeichnung "Vertrag von Lissabon" im Jahr 2007 an, diesmal allerdings, ohne ihn den betroffenen Bevölkerungen zur Abstimmung vorzulegen. Lediglich in Irland ließ sich aufgrund nationaler Bestimmungen ein Referendum nicht vermeiden. Nachdem es im Jahr 2008 zur Ablehnung des "Vertrags von Lissabon" durch die irische Bevölkerung führte, wurde es 2009 wiederholt; dank einer massiven PR-Kampagne gelang es, diesmal das gewünschte Resultat zu erzielen. Das Verfahren konnte damals bereits als erprobt gelten: Schon nach der Ablehnung des "Vertrags von Nizza" in einem irischen Referendum im Jahr 2001 hatte die Regierung des Landes die Bevölkerung 2002 zur Wiederholung an die Urnen rufen müssen und mit massiver Propaganda, die als "Informationskampagne" bezeichnet wurde, die von Berlin und Brüssel verlangte Zustimmung eingeholt. Ein ähnliches Vorgehen ist allerdings im Falle des griechischen "Nein" ohne weiteres kaum denkbar.
Zuspitzung
Entsprechend müssen Berlin und Brüssel die Frage beantworten, wie sie auf neue Vorschläge der griechischen Regierung reagieren, die - dem Ergebnis des Referendums entsprechend - jetzt einen Bruch mit der deutschen Austeritätspolitik fordern wird. Maßgebliche deutsche Politiker haben sich am gestrigen Sonntag klar gegen jegliche Abkehr von den Spardiktaten ausgesprochen. Nach dem "Nein" seien "Verhandlungen über milliardenschwere Programme kaum vorstellbar", sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD): Ministerpräsident Tsipras habe "letzte Brücken eingerissen, über die Europa und Griechenland sich auf einen Kompromiss zubewegen konnten".[6] EU-Parlamentspräsident Schulz wollte bereits eine humanitäre Katastrophe in Griechenland erkennen: "Ich glaube, dass wir morgen und übermorgen schon über humanitäre Hilfsmaßnahmen reden müssen." Schulz sprach von Armenspeisungen in Schulen und davon, dass "wir" - die EU - "sicher dafür sorgen müssen, dass Rentner ein Essen bekommen".[7] Die Zielrichtung solcher Prognosen legte der Europa-Analyst der Deutschen Bank, Nicolas Heinen, offen. "Denkbar ist, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Griechenland weiter zuspitzen werden, sodass die Stimmung kippt und die Regierung Alexis Tsipras unter Druck gerät", erklärte Heinen. Unter einer neuen Regierung könne dann über ein weiteres "Rettungspaket" verhandelt werden.[8]
Inakzeptable Starrheit
In deutlichem Gegensatz dazu brachten sich Gegner der Berliner Austeritätspolitik in mehreren EU-Staaten in Stellung. In Frankreich erklärte der Vorsitzende des regierenden Parti Socialiste (PS), Jean-Christophe Cambadélis, das gestrige "Nein" richte sich nicht "gegen Europa", sondern "gegen die Austerität, die Griechenlands Bruttoinlandsprodukt verringert und zahlreiche Bürger in die Armut gestürzt hat".[9] Griechenland müsse "in der Eurozone bleiben". Dazu müssten sofort Gespräche aufgenommen werden; Athen solle "die Zeit und die Mittel" für den ökonomischen Wiederaufbau erhalten. Gianni Pittella, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament aus Italien, forderte, die Verhandlungen mit Athen umgehend "in einer neuen Atmosphäre der Solidarität und Kooperation" wiederaufzunehmen: Es werde "Zeit, dass einige Mitgliedsstaaten und Minister endlich aufhören, sich von inakzeptabler Starrheit, Selbstsucht und innenpolitischen Angelegenheiten leiten zu lassen".[10]
Die dominierende Macht der EU
Damit zeichnet sich ein erneuter Kampf um die deutschen Spardiktate ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel reist am heutigen Montag nach Paris, um dort mit Staatspräsident François Hollande über die Konsequenzen aus dem griechischen Referendum zu konferieren. Den erwarteten Absprachen zwischen Merkel und Hollande werden sich die übrigen EU-Mitgliedstaaten auf dem für den morgigen Dienstag angekündigten EU-Sondergipfel kaum entziehen können. Dabei kann die Kanzlerin trotz der schweren deutschen Niederlage im gestrigen griechischen Referendum mit dem Bewusstsein in die Verhandlungen gehen, dass Deutschland die EU zur Zeit so klar dominiert wie noch nie zuvor.
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