Sunday, July 13, 2014

Israels Krieg gegen GAZA


Uri Avnery: Die Gräueltat

Von Uri Avnery
ES REGNET Bomben auf Gaza und Raketen auf Israel, Menschen sterben und Häuser werden zerstört.
Wieder einmal.
Wieder ohne jeden Sinn und Zweck. Wieder mit der Gewissheit, dass, wenn es vorüber ist, alles im Wesentlichen so sein wird, wie es zuvor war.
Aber ich höre die Sirenen kaum, die vor den Raketen warnen, die in Richtung Tel Aviv fliegen. Ich kann meine Gedanken nicht von dem Schrecklichen abwenden, das in Jerusalem geschehen ist.
WENN EINE Bande Neonazis in einem jüdischen Viertel in London in der Dunkelheit der Nacht einen 16-jährigen Jungen entführt hätte, ihn in den Hyde-Park gebracht, ihn geschlagen, ihm Benzin in den Mund gegossen, ihn mit Benzin übergossen und angezündet hätte - was wäre dann geschehen?
Wäre Britannien nicht in einem Sturm von Wut und Abscheu explodiert?
Hätte die Königin nicht ihre Empörung ausgedrückt?
Wäre der Premier nicht ins Haus der leidtragenden Familie geeilt und hätte sich im Namen der ganzen Nation entschuldigt?
Würden die Führung der Neonazis, ihre aktiven Unterstützer und Einpeitscher nicht verklagt und verurteilt?
Vielleicht in Britannien. Vielleicht in Deutschland.
Hier jedenfalls nicht.
DIE ENTSETZLICHE Gräueltat fand in Jerusalem statt. Ein palästinensischer Junge wurde entführt und lebendig verbrannt. Kein einziges rassistisches Verbrechen in Israel kommt dem auch nur nahe.
Einen Menschen lebendig verbrennen ist überall eine Abscheulichkeit. In einem Staat, der den Anspruch erhebt, "jüdisch" zu sein, ist es noch schlimmer.
In der jüdischen Geschichte kommt nur ein Kapitel dem Holocaust nahe: die spanische Inquisition. Die katholische Institution folterte Juden und verbrannte sie auf dem Scheiterhaufen. Später geschah das manchmal in russischen Pogromen. Nicht einmal der fanatischste Feind Israels hätte sich vorstellen können, dass etwas so Schreckliches in Israel geschehen könnte. Bis jetzt.
Nach israelischem Gesetz ist Ostjerusalem kein besetztes Gebiet. Es ist ein Teil des souveränen Israels.
DIE KETTE der Ereignisse sah folgendermaßen aus:
Zwei Palästinenser, die anscheinend Einzeltäter waren, entführten drei israelische Jugendliche, die am Abend aus einer Siedlung in der Nähe Hebrons per Anhalter nach Hause fahren wollten. Das Ziel der Entführung war wahrscheinlich, sie als Geiseln zu benutzen, um die Freilassung palästinensischer Gefangener zu erzwingen.
Die Aktion misslang, als es einem der drei Jungen gelang, auf seinem Handy den Notruf der Polizei zu wählen. Die Entführer vermuteten, dass die Polizei ihnen bald auf die Spur kommen würde, gerieten in Panik und erschossen alle drei auf der Stelle. Sie warfen die Leichen auf ein Feld und flohen. (Tatsächlich verbummelte die Polizei den Anruf und begann erst am folgenden Morgen mit ihrer Jagd.)
Ganz Israel war in Aufruhr. Viele Tausende Soldaten wurden drei Wochen lang bei der Suche nach den drei Jugendlichen eingesetzt. Sie durchkämmten Tausende von Gebäuden, Höhlen und Feldern.
Der öffentliche Aufruhr war sicherlich gerechtfertigt. Aber schon bald artete er in eine Orgie rassistischer Aufhetzung aus, die sich von Tag zu Tag steigerte. Zeitungen, Radiosender und Fernsehnetze konkurrierten miteinander in unverschämten rassistischen Hetzreden, wiederholten die offizielle Linie bis zum Erbrechen und fügten ihre eigenen Übelkeit erregenden Kommentare hinzu - Tag für Tag rund um die Uhr.
Die Sicherheitsdienste der Palästinensischen Behörde, die durchweg mit den israelischen Sicherheitsdiensten zusammengearbeitet haben, spielten eine wichtige Rolle bei der frühzeitigen Entdeckung der Identität der beiden (identifizierten, aber noch nicht gefassten) Entführer. Mahmoud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Behörde, stand in einer Versammlung der arabischen Länder auf und verurteilte die Entführung unmissverständlich. Er wurde deshalb von vielen Angehörigen seines eigenen Volkes als arabischer Quisling gebrandmarkt. Israelische Führer ihrerseits nannten ihn einen Heuchler.
Israels führende Politiker ließen eine Salve von Äußerungen los, die überall woanders als ausgesprochen faschistisch eingeschätzt worden wären. Hier eine kleine Auswahl:
Der stellvertretende Verteidigungsminister Danny Danon: "Wenn ein russischer Junge entführt worden wäre, hätte Putin Dorf für Dorf plattgemacht!"
Die Führerin der Partei "Jüdische Heimat" Ajala Schaked: "Mit einem Volk, dessen Helden Kindermörder sind, müssen wir entsprechend verfahren." ("Jüdische Heimat" gehört zur Regierungskoalition.)
Der Welt-Vorsitzende von Bnei Akiva, der Jugendorganisation der Siedler, Noam Perl: "Eine ganze Nation und Tausende Jahre Geschichte fordern Rache!"
Der ehemalige Sekretär des Wohnungsbauministers und Siedlungserbauers Uri Ariels Uri Bank: "Das ist der richtige Augenblick. Wenn unsere Kinder verletzt werden, werden wir zu Berserkern, keine Einschränkungen, die Palästinensische Behörde auflösen, Judäa und Samaria (das Westjordanland) annektieren, Hinrichtung aller Gefangener, die als Mörder verurteilt worden sind, Verbannung aller Familienmitglieder der Terroristen!"
Und Benjamin Netanjahu selbst meint das gesamte palästinensische Volk, wenn er sagt: "Sie sind nicht wie wir. Wir halten das Leben heilig, sie halten den Tod heilig!"
Als die Leichen der drei von Fremdenführern gefunden wurden, erreichte die Explosion von Hass einen neuen Höhepunkt. Soldaten stellten Zehntausende Kommentare ins Internet und forderten "Rache", Politiker stachelten sie an, die Medien gossen Öl ins Feuer, Lynch-Mobs sammelten sich an vielen Orten in Jerusalem, um arabische Arbeiter zu jagen und zu verprügeln.
Außer ein paar einsamen Stimmen schien ganz Israel sich in einen Fußball-Mob zu verwandeln, der schrie: "Tod den Arabern!"
(Kann sich heutzutage irgendjemand auch nur vorstellen, dass eine europäische oder amerikanische Menge schreit: "Tod den Juden!"?)
DIE SECHS bisher wegen des bestialischen Mordes an dem arabischen Jungen Verhafteten kamen geradewegs von einer dieser "Tod-den-Arabern"-Demonstrationen.
Zuerst hatten sie versucht, einen neunjährigen Jungen aus demselben arabischen Viertel Schuafat zu entführen. Einer von ihnen fing den Jungen auf der Straße ein und zog ihn in Richtung ihres Autos, gleichzeitig würgte er ihn. Zum Glück gelang es dem Kind, "Mama!" zu schreien und seine Mutter schlug mit ihrem Handy auf die Entführer ein. Sie gerieten in Panik und rannten weg. Die Würgemale am Hals des Jungen waren noch einige Tage lang zu sehen.
Am nächsten Tag kam die Gruppe zurück, fing Muhammad Abu-Khdeir ein, einen fröhlichen 16-jährigen Jungen mit einem gewinnendem Lächeln, gossen Benzin in seinen Mund und verbrannten ihn zu Tode.
(Als ob das nicht genug gewesen wäre, fingen Grenzpolizisten seinen Cousin bei einer Protestdemonstration ein, legten ihm Handschellen an, warfen ihn zu Boden und traten ihm gegen den Kopf und ins Gesicht. Seine Wunden sehen entsetzlich aus. Der entstellte Junge wurde verhaftet, die Polizisten nicht.)
DIE GRAUENHAFTE Art, auf die Muhammad ermordet wurde, wurde zuerst nicht erwähnt. Die Tatsache wurde von einem arabischen Pathologen enthüllt, der bei der offiziellen Autopsie anwesend war. Die meisten israelischen Zeitungen erwähnten die Tatsache in wenigen Worten auf einer ihrer inneren Seiten. Die meisten Fernsehnachrichtensendungen erwähnten die Tatsache überhaupt nicht.
Im eigentlichen Israel erhoben sich arabische Bürger, wie sie es seit vielen Jahren nicht getan hatten. Gewalttätige Demonstrationen im ganzen Land dauerten einige Tage an. Gleichzeitig explodierte die Frontlinie zum Gazastreifen in einer neuen Raketen-Orgie und Bombardierungen aus der Luft in einem neuen Mini-Krieg, der schon einen Namen hat: "Feste Klippe". (Für die ausländische Propaganda wurde ein anderer Name erfunden.) Die neue ägyptische Diktatur arbeitet beim Erdrosseln des Gazastreifens mit der israelischen Armee zusammen.
DIE NAMEN der drei des Mordes-durch-Verbrennen Verdächtigen - einige von ihnen haben sich schon zu der entsetzlichen Tat bekannt - werden noch zurückgehalten. Inoffizielle Berichte sagen jedoch, dass sie zur orthodoxen Gemeinde gehörten. Anscheinend hat diese Gemeinde, die traditionell antizionistisch und gemäßigt war, jetzt neonazistische Nachkommen hervorgebracht, die sogar noch ihre religiös-zionistischen Konkurrenten überbieten.
So schrecklich jedoch die Tat an sich auch ist, so ist doch die Reaktion der Öffentlichkeit meiner Ansicht nach noch schlimmer. Denn es gibt keine.
Es stimmt, ein paar vereinzelte und mutige Stimmen waren zu hören. Und viele einfache Leute haben ihren Abscheu in privaten Gesprächen geäußert. Aber die ohrenbetäubende moralische Entrüstung, die man hätte erwarten können, ist ausgeblieben.
Alles Mögliche wurde unternommen, um den "Zwischenfall" zu bagatellisieren und die Veröffentlichung im Ausland und sogar in Israel zu verhindern. Das Leben ging seinen üblichen Gang. Ein paar Regierungsführer und andere Politiker verurteilten die Tat in routinemäßigen Phrasen - für die Verwendung im Ausland. Die Fußballweltmeisterschaft erregte viel mehr Interesse. Sogar auf der Linken wurde die Gräueltat als lediglich ein weiterer Punkt in der Liste der vielen Untaten der Besetzung behandelt.
Wo bleibt der Aufschrei, der moralische Aufstand der Nation, die einhellige Entscheidung, den Rassismus auszurotten, der solche Gräueltaten möglich macht?
DAS NEUE Aufflammen im und um den Gazastreifen hat alle Gedanken an die Gräueltat ganz und gar ausgelöscht.
Sirenen heulen in Jerusalem und in den Städten nördlich von Tel-Aviv. Die auf israelische Ballungszentren gerichteten Raketen sind (bisher) von Raketenabwehr-Raketen abgefangen worden. Aber Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder rennen zu den Schutzräumen. Auf der anderen Seite machen Hunderte täglicher Einsätze der israelischen Luftwaffe den Einwohnern des Gazastreifens das Leben zur Hölle.
WENN DIE Kanonen brüllen, schweigen die Musen.
Und auch das Mitleid mit einem Jungen, der zu Tode verbrannt worden ist.
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler
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Veröffentlicht am

11. Juli 2014

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