Rolf Verleger bezieht Stellung gegen Massaker in Gaza "Man muss doch Kausalketten sehen"
Anti-israelische Proteste - "Wer hat uns das denn eingebrockt?" fragt Rolf Verleger im Gespräch mit Tobias Armbrüster /Deutschlandfunk
Anti-israelische Proteste - "Wer hat uns das denn eingebrockt?" fragt Rolf Verleger im Gespräch mit Tobias Armbrüster /Deutschlandfunk
Anmoderation:
Rolf Verleger, ehemaliges Direktoriums-Mitglied im Zentralrat der Juden in
Deutschland, wundert sich nicht über die neue Welle des Antisemitismus im Land. Im
Deutschlandfunk warf er Repräsentanten des Judentums vor, jede Kritik an Israel als
antisemitisch zu erklären. Es müsse erlaubt sein, die israelische Politik zu kritisieren.
Rolf Verleger, ehemaliges Direktoriums-Mitglied im Zentralrat der Juden, äußerte sich im
Deutschlandfunk kritisch zur israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Er selber
wolle am Mittwoch an einer Demonstration gegen "das Massaker der Israelis in Gaza"
teilnehmen, sagte Verleger.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte sich gestern über eine neue Welle des
Judenhasses in Deutschland beklagt. Rolf Verleger sieht diese Einlassung kritisch. Im
Deutschlandfunk sagte er: "Wer hat uns das denn eingebrockt?" Wenn Politiker und Medien
in Deutschland Israels Politik für richtig hielten und Repräsentanten des Judentums jede
Kritik an Israel zur Kritik an Juden erklärten, fordere man antisemitische Parolen geradezu
heraus. Man könne ja "nicht jeden Quatsch, den Israel da macht, mitmachen".
Verleger sieht sich mit seiner israel-kritischen Haltung selbst als Minderheit innerhalb des
deutschen und europäischen Judentums. Dass viele deutsche Politiker sich aus historischen
Gründen vorsichtig gegenüber dem "Unrecht im Nahen Osten" äußern, hält er für falsch.
"Was hat das mit meiner ermordeten Verwandtschaft zu tun, dass da jetzt ein solches Unrecht
im Nahen Osten geschieht? Man kann doch nicht mit Verweis auf schreckliche Dinge in der
Vergangenheit weiter heute Unrecht geschehen lassen." Das sei die völlig falsche Lehre, die
dort gezogen werde
Das Gespräch in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Es sind schockierende Parolen, die in diesen Tagen bei
Demonstrationen in Berlin und in vielen anderen deutschen Städten zu hören sind. Da treffen
sich Leute, um gegen den Krieg im Gazastreifen zu demonstrieren, und das Ganze endet sehr
häufig in wüsten Beschimpfungen gegen Juden und gegen Israelis. Vor allem in Berlin häufen
sich solche antisemitischen Kundgebungen. Der Zentralrat der Juden spricht bereits von einer
Explosion des Judenhasses.
Am Telefon hier im Deutschlandfunk ist jetzt Rolf Verleger. Er ist Psychologe, Buchautor
und er war bis vor fünf Jahren Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Schönen
guten Morgen, Herr Verleger.
Rolf Verleger: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Verleger, was geht Ihnen da durch den Kopf, wenn Sie von solchen
antisemitischen Parolen hören, die da in Berlin auf offener Straße gegrölt werden?
Verleger: Das finde ich sehr schmerzlich und ich denke aber, dass dieses ungelöste Palästina-
Israel-Problem uns hier völlig wieder auf die Füße fällt. Der Beitrag, den ich gerade gehört
habe, der lief ja live, dass hier jetzt die Zivilgesellschaft gefordert sei, ihrerseits ein Zeichen
zu setzen. Das werde ich auch tun, indem ich nämlich nächsten Mittwoch mich an einer
Demonstration beteiligen werde gegen das Massaker der Israelis in Gaza. Indem wir als Juden
hier gegen dieses Unrecht Stellung nehmen, das, denke ich, ist die richtige Art und Weise,
solche Ausbrüche von verständlicher Empörung über das, was dort abläuft, in vernünftige
Bahnen zu lenken. Es haben ja sämtliche Kontrollmechanismen versagt.
Armbrüster: Herr Verleger, rechtfertigt denn eine Kritik an Israel, eine mögliche Kritik,
rechtfertigt die, dass man durch Berlin läuft und antisemitische Parolen grölt?
Verleger: Nein, in keiner Weise. Aber wer hat uns das denn eingebrockt? Wenn unsere
Politiker alle sagen, ja, das ist völlig richtig, was Israel macht, wenn unsere Medien sagen, ja,
das ist völlig richtig, was Israel macht, wenn die Repräsentanten des Judentums nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Frankreich zum Beispiel sagen, ja, das ist doch ganz klar, wer
gegen Israels Maßnahmen ist, der ist gegen Juden, dann fordert man ja solche antisemitischen
Parolen geradezu heraus. Es ist doch eine Absurdität, diese Gewaltbereitschaft, diesen
nationalreligiösen Hass, der sich in der israelischen Gesellschaft aufgestaut hat, das mit der
jüdischen Tradition von Nächstenliebe und dass das mal eine Religion war der tätigen Moral,
wie es der Rabbiner Leo Baeck, der Führer des Judentums in Nazi-Deutschland, gesagt hat,
das ist doch was völlig anderes geworden. Das muss man doch sehen und muss darauf
reagieren. Man kann doch nicht jeden Quatsch, den Israel da macht, mitmachen.
"Man muss Kausalketten sehen"
Armbrüster: Würden Sie dann der israelischen Regierung das Recht absprechen, sich gegen
den Terror der Hamas zu wehren?
Verleger: Würden Sie der Gazabevölkerung das Recht absprechen, sich gegen den Terror
Israels zu wehren? Ich meine, so kommt man doch nicht weiter. Man muss doch Kausalketten
sehen. Was doch gelaufen ist, dass die Friedensverhandlungen unter Kerry
zusammengebrochen sind aufgrund Israels – das hat Kerry ziemlich klar gesagt -, aufgrund
der weitergehenden Siedlungspolitik, aufgrund der Nichtfreilassung von Gefangenen, wie
vereinbart. Daraufhin hat sich die palästinensische Hamas mit Fatah zusammengetan, das
wurde allgemein begrüßt in USA und Europa. Nur Netanjahu wollte das zerschlagen und hat
eine Kampagne gegen die Hamas gestartet, und dann wurden diese drei israelischen Schüler
entführt und diese Kampagne hat er dann benutzt, um die Hamas in der Westbank zu
zerschlagen, im Gazastreifen auch noch ein paar Leute umzubringen. Das steht hier nicht in
der Zeitung. Dass die dann ihre komischen Raketen abschießen, das ist nicht schön, aber das
ist doch eine verständliche Folge all dieser Dinge. Da kann man doch nicht irgendwo
aufhören und sagen, das war jetzt aber Gewalt, da müssen wir dagegen sein.
Armbrüster: Aber ist das jetzt nicht alles sehr verharmlosend, wie Sie das darstellen? Ich
meine, Israel steht seit Jahren unter dem Beschuss dieser Raketen. Die israelische Armee hat
sich aus dem Gazastreifen komplett zurückgezogen und Israel wird trotzdem nach wie vor
befeuert aus diesem Streifen. Ist es dann nicht verständlich, dass die israelische Armee sagt,
wir wollen dem Einhalt gebieten?
"Gazastreifen ist ein großes Gefängnis"
Verleger: Nur ein Punkt: Sie hat sich zwar aus dem Gazastreifen zurückgezogen, aber der
Gazastreifen ist ein großes Gefängnis, wie man jetzt gerade sehen kann, und der
Schlüsselwärter heißt Ägypten und Israel. Als ich 15 war, war der Sechs-Tage-Krieg. Damals
sagte mein Religionslehrer, bisher waren Zionismus und religiöses Judentum ein Gegensatz
und haben sich erbittert bekämpft. Jetzt, wo der Zionismus die heiligen Stätten erobert hat,
sehe ich die Gefahr – das sagte damals mein Religionslehrer -, dass hieraus ein
klerikalfaschistisches Amalgam entsteht, und so ist es gekommen. Sie unterschätzen und
verharmlosen, was in Israel für eine Ideologie herrscht, oder zumindest da ist in dieser
Siedlerbewegung und die Regierung Netanjahu vor sich hertreibt, und das kann man nicht gut
finden. Da muss man gegenhalten.
Armbrüster: Herr Verleger, ich habe es gesagt: Sie waren bis vor wenigen Jahren Mitglied
im Zentralrat der Juden in Deutschland. Gibt es dort andere Mitglieder, die mit dieser, doch
sehr deutlichen Meinung von Ihnen übereinstimmen, oder stehen Sie da allein?
Verleger: Ich bin ganz klar in der Minderheit. Das ist völlig klar. Das europäische und
deutsche Judentum ist ja tot und die kümmerlichen Reste, die wir haben, wir sind ja froh,
wenn wir uns irgendwie berappeln können. Natürlich gibt es Leute, die so denken wie ich.
Ich meine, ich möchte noch mal was grundsätzlich sagen. Sie fragen mich dazu, ob das gut
und richtig ist, was diese arabischen Jugendlichen da in Berlin schreien. Ich bin der falsche
Mann dafür. Sie müssen natürlich einen Imam fragen. Ich finde, jeder muss vor seiner eigenen
Tür kehren und schauen, was er für den Konflikt getan hat. Dass das nicht richtig ist, was die
in Berlin gemacht haben, ist ja unstrittig.
"Judentum ist nicht Isarels nationalreligiöse Politik"
Armbrüster: Aber fühlen Sie sich als Jude in Deutschland, als deutscher Jude davon nicht
angesprochen?
Verleger: Selbstverständlich, und ich versuche das zu bekämpfen, indem ich sage, das
Judentum ist nicht Israels nationalreligiöse Politik. Das Judentum hat eine völlig andere
Tradition und das Judentum ist ein Teil unseres Landes und Europas. Die Wurzel des ganzen Konflikts ist ja, weil Europa vor 100 Jahren mit seiner jüdischen Minderheit nicht fertig
wurde und dieses Problem dorthin nach Palästina exportiert hat, und das fällt jetzt alles wieder
auf uns zurück. Das war nämlich keine Lösung.
Armbrüster: Können Sie es denn verstehen, wenn viele deutsche Politiker vorsichtig sind
mit Kritik an Israel, allein wegen der deutschen Geschichte?
Verleger: Nein, das kann ich nicht mehr verstehen. Ich meine, was hat das mit meiner
ermordeten Verwandtschaft zu tun, dass da jetzt ein solches Unrecht im Nahen Osten
geschieht? Man kann doch nicht mit Verweis auf schreckliche Dinge in der Vergangenheit
weiter heute Unrecht geschehen lassen. Das ist die völlig falsche Lehre, die da gezogen wird.
Ich kann das nicht mehr verstehen. Ich finde, das sind Angsthasen, und ich finde, sie sollten
mal das sagen, was sie nach abgeschalteten Mikrofonen sagen. Das sollten sie mal bei
laufenden Mikrofonen sagen.
Armbrüster: Was würden Sie denn von deutschen Politikern erwarten?
Verleger: Ich finde es eine Absurdität, sich hinzustellen und zu sagen, das sei das
selbstverständliche Verteidigungsrecht Israels, dieses Massaker in Gaza anzurichten. Jeder
vernünftige Mensch sagt sich, da stimmt doch was nicht. Und wenn da dagegen Protest laut
wird, der dann überbordet, dann muss man sich doch nicht wundern, wenn man so einen
Blödsinn sagt.
Armbrüster: Wie schätzen Sie ein, oder wie beurteilen Sie das, wie sich die israelische
Regierung in diesem Konflikt positioniert?
Verleger: Die hat ihn angefacht. Es geht ja darum, dass verhindert werden sollte, dass Fatah
und Hamas sich einigen. Das wollte Netanjahu nicht haben und da hat er eine Kampagne
gestartet in der Westbank, die Hunderte von Mitgliedern der Hamas verhaftet hat. Dabei sind
auch ein paar Leute totgegangen. Darauf passierte ja diese Entführung der drei Jugendlichen,
die ja sofort tot waren, aber das wurde ja ignoriert, um diese Kampagne weiterzuführen. Die
sind auf dem völlig falschen Weg. Dieser Konflikt – man kann auf geraubten Land nicht in
Frieden leben. Das Land ist den Palästinensern weggenommen worden und es muss eine
vernünftige friedliche Regelung her. Die bedeutet, dass Israel schmerzhafte Kompromisse
machen muss.
Armbrüster: ..., sagt Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied beim Zentralrat der Juden in
Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der
Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und
Diskussionen nicht zu eigen.
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