Thursday, April 24, 2014

« Menschenrecht auf Selbstbestimmung Priorität einräumen» Interview mit Prof. Alfred de Zayas, Genf

«Dem Menschenrecht auf Selbstbestimmung die Priorität geben»

Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genf
thk. Die aktuelle Weltlage zeigt in aller Deutlichkeit, dass grösste Anstrengungen unternommen werden müssen, um zukünftige Geschlechter «vor der Geissel des Krieges zu bewahren», so wie es in der Präambel der Uno-Charta steht. Professor Dr. Alfred de Zayas ist an der Uno «Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung», die notwendigerweise auch friedlich sein muss. Im folgenden Interview nimmt er zu seinem Mandat, aber auch zu brennenden Fragen der internationalen Politik Stellung.
Zeit-Fragen: Am Ende der Frühjahrssession wurden im Uno-Menschenrechtsrat verschiedene Resolutionen verabschiedet. Eine dieser Resolutionen hat Ihr Uno-Mandat betroffen. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Professor Alfred de Zayas: Die Resolution über mein Mandat zur Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung wurde zwar nicht mit Konsens, aber wohl mit grosser Mehrheit angenommen, und damit wurden auch die früheren Resolutionen 18/6 und 21/9 bestätigt und bestärkt. Natürlich kann es nicht befriedigen, wenn es Staaten gibt, die bei diesem wichtigen Thema noch skeptisch sind. Das Mandat ist universell, es stellt eine Synthese der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte dar. In meinen Berichten an die Generalversammlung und an den Menschenrechtsrat habe ich bereits diese Konvergenz gezeigt und verschiedene Aufgaben, die aus diesen Resolutionen resultieren, wahrgenommen. Ich will nicht sagen, erfüllt, denn die Thematik ist viel zu komplex und anspruchsvoll, aber ich habe die Herausforderungen identifiziert und konkrete bzw. pragmatische Vorschläge für die Generalversammlung und den Menschenrechtsrat formuliert. Ich arbeite bereits an meinem diesjährigen Bericht für den Menschenrechtsrat und stelle die Notwendigkeit der Abrüstung als Bedingung für die Erfüllung einer friedlichen und gerechten internationalen Ordnung dar.
Wie muss man das verstehen, dass nicht ausnahmslos alle Länder die Friedensbemühungen, die mit Ihrem Mandat verbunden sind, unterstützen?
Es gibt keinen Konsens bezüglich meines Mandats, so wie es auch keinen Konsens bezüglich des Mandats über Internationale Solidarität oder für die Resolutionen über das Recht auf Frieden gibt. Ein Grund ist der Einfluss der Waffenlobbys in mehreren Ländern, die unbedingt Krieg und Unruhe wollen, um weiterhin Geschäfte zu machen und Profit zu ziehen. Sie wollen Drohnen, Flugzeuge, U-Boote usw. produzieren. Sie wollen ständige Konflikte, damit die Waffen gebraucht werden und neue Waffen produziert und verkauft werden können. Damit entsteht aber keine Weltordnung, die friedlicher, demokratischer und gerechter ist, sondern eine Weltordnung von Aggression, Angst  und Instabilität. Hoffen wir, dass es allmählich gelingt, die skeptischen Staaten einen nach dem anderen zu überzeugen, dass mein Mandat «added value» bringt, nämlich, dass es vorteilhaft für alle ist. Westliche Staaten wollen mehr Demokratie, mehr Pressefreiheit, mehr Freiheit zu demonstrieren und sich in Organisationen zusammenzuschliessen. Das wird durch mein Mandat und in meinen Berichten gefördert.
Auf der anderen Seite will man eine Weltordnung, die gerechter ist. Das bedeutet, dass ärmere Länder nicht ausgebeutet werden dürfen, dass man die Reichtümer der Welt gerechter verteilen muss, dass Marktspekulationen über Ernten und Ressourcen aufhören müssen. Armen Ländern muss auch geholfen werden, denn sie haben ein Recht auf Entwicklung. Dieses Recht muss man fördern, was nur dann möglich ist, wenn man sich reorientiert, wenn man abrüstet und die Mittel, die dadurch frei werden, für den Frieden, für die Menschenrechte einsetzt, und nicht für Spionage, Kriegshetze, Interventionen und Kriege. Mein Mandat ist das Versöhnungsmandat überhaupt. Es ist gut für den Norden und für den Süden, für den Westen und für den Osten. 
Was wäre ein Schritt zu mehr Frieden und Gerechtigkeit?
Die Staaten müssen ihre Ausgaben für das Militär radikal kürzen. Dazu müssen diese Ausgaben transparent und offen dargelegt und die Bevölkerung muss konsultiert werden. Seit dem 11. September 2001 werden in den USA (und nicht nur in den USA) enorme Mengen für Aufrüstung und sogenannte nationale Sicherheitsmassnahmen ausgegeben, aber niemand weiss genau, wieviel Geld oder was genau mit dem Geld gemacht wird. Vor Eduard Snowden wusste kein Mensch, dass die US-Regierung uns Amerikaner ausspioniert; wir wuss­ten nicht, dass unsere Steuergelder für eine weltweite Spionageaktion eingesetzt werden. Rund 35 000 Mitarbeiter hat die NSA damit beschäftigt. Hier gibt es keinen demokratischen Prozess. Die Bevölkerung hätte darüber informiert werden müssen, und zwar bevor die grossangelegte Spionageaktion begann. In jeder Demokratie besteht ja eine positive Informationspflicht der Regierung. Die Bevölkerung muss die Gelegenheit haben, entscheiden zu können, wofür ihr Geld ausgegeben werden soll. Das muss öffentlich diskutiert werden, wenn die private elektronische Post von nahezu jedem Staatsbürger durchsucht wird. Das war eine willkürliche Massnahme der Regierung, die verfassungswidrig, illegal und illegitim war und ist. Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ist keine Rechtfertigung, die Menschenrechte mit Füssen zu treten und die Privatsphäre der Menschen zunichte zu machen. Dabei wurde Artikel 17 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte schwerwiegend verletzt. Wir wollen auch wissen, welche Waffen gekauft werden und wozu wir diese brauchen. Das Volk muss mitreden können, so wie dies in der Schweiz der Fall ist. Wäre in Amerika ein Referendum über die NSA-Aktivitäten abgehalten worden, so hätten wahrscheinlich 80 % der Bevölkerung dies abgelehnt. Niemals hätte die Bevölkerung zugestimmt, enorme Summen von Steuergeldern für Spionage anstatt für Schulen oder Krankenhäuser auszugeben. 
Werden nicht auch Unmengen von Geldern für das nordatlantische Militärbündnis ausgeben? 
Viel zu viel und ohne Rechtfertigung. Schliess­lich sollte die Nato ausschliesslich zur Verteidigung und nicht zur Aggression dienen. Die Mitgliedsländer haben Verpflichtungen in der Nato, und die Nato erwartet, dass jeder Mitgliedstaat viel Geld in die Rüstung steckt. Ursprünglich war sie ein Verteidigungsbündnis. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge des Kalten Kriegs gegründet als Bollwerk gegen eine befürchtete Ausdehnung des Kommunismus Richtung Westen. Spätestens seit 1990/91 ist die alte Bedrohung durch die Sowjetunion obsolet. Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst, und Gleiches hätte man eigentlich von der Nato erwarten können. Aber man hat die Nato nicht abgeschafft, sondern erweitert. Die militärischen Ausgaben der Nato wachsen immer weiter, und Mitglieder werden unter politischen Druck gesetzt, damit sie einen bedeutenderen Teil ihres Haushaltes militärischen Ausgaben widmen. Wenn man nun die Nato nicht auflösen wollte und damit angeblich eine sogenannte «Friedens­truppe» im Sinne der Ziele der Vereinten Nationen bilden wollte, hätte man dann auch andere Uno-Mitglieder in die Nato einladen können, zum Beispiel Belarus, Russland, die ansonsten vielleicht doch Grund hätten, sich von der Uno bedroht zu fühlen. So wäre jedenfalls das Bündnis der Uno-Mitgliedschaft gemässer und nicht als Bündnis gegen andere Staaten empfunden und gefürchtet.
Ist die Nato denn immer noch ein Verteidigungsbündnis?
In der Realität sieht es anders aus. Spätestens seit dem Krieg gegen Serbien 1999 führt die Nato auch Angriffskriege entweder als Bündnis oder in einer «Koalition der Willigen» wie 2003 gegen den Irak, ein Krieg, der von Uno-Generalsekretär Kofi Annan und von etlichen Völkerrechtlern als völkerrechtswidrig bezeichnet wurde. Auch der Krieg gegen Libyen 2011 wurde massgeblich von der Nato geführt.
Alle diese Milliarden, die man für die Nato und diese Kriege ausgegeben hatte, hätte man der Erfüllung des Rechts auf Entwicklung widmen können. Man hätte auf vielerlei Weise den armen Ländern mit technischem Transfer, Ausbildung und Infrastruktur helfen können. Man hätte die Entwicklungsziele des Millen­niums (Millennium Development Goals) lange vor 2015 erreichen können. Das Recht auf Entwicklung könnte uns viel Positives in der Zukunft bescheren. Damit wir im Sinne von Frieden, Gerechtigkeit und internationaler Solidarität in der Zukunft Früchte ernten können, müssen wir die Prioritäten ändern und unsere Kräfte und Ressourcen jetzt für den Weltfrieden einsetzen. 
Warum wird das nicht getan?
Weil der militärisch-industrielle Komplex kein Interesse daran hat. Im Gegenteil. Die Waffenindustrie will ständig grossen Profit machen. So werden Steuergelder verschwendet für das Entwickeln und Herstellen von Waffen, aber auch für die Verschrottung derselben. Wenn ich an die alten Atomwaffen denke, dann sind riesige Kosten und grosse Risiken damit verbunden. In meinem Bericht an die Generalversammlung habe ich auf die Problematik, auf die bereits Michail Gorbatschow hingewiesen hat, nochmals aufmerksam gemacht: Die Problematik eines Nuklear-Krieges, der sich nicht aus einer konkreten Bedrohung entwickelt, sondern ganz einfach, weil ein menschlicher oder technischer Fehler, ein elektronischer oder Computerfehler geschehen kann, der den Politikern nicht genügend Zeit lässt, zu erkennen, ob es sich nicht um einen «Fehl­alarm» oder einen wirklichen Angriff handelt und eine Gegenreaktion bereits ausgelöst wurde. Diese Gefahren müssen zum Schutz der gesamten Menschheit gebannt werden. 
Inwieweit ist die Abrüstung auch eine völkerrechtliche Verpflichtung?
Artikel 26 der Uno-Charta sieht die Abrüstung vor. Ausserdem verlangt Artikel 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und Artikel 2 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dass alle Vertragsstaaten sämtliche in diesen Pakten genannten Menschenrechte in die Tat umsetzen, was notwendigerweise auch die Verpflichtungen zur Abrüstung und zur Kriegsverhinderung einschliesst, denn anders kann man das Recht auf Leben nicht gewährleisten. In diesem Sinne wurden die Uno-Abrüstungskonferenz und UNIDIR (United Nations Institute for Disarmament Research) ins Leben gerufen, eben um die Modalitäten zu bestimmen, wie diese Abrüstungsverpflichtungen am besten erfüllt werden können.
Kollidiert das nicht mit dem Recht auf Selbstverteidigung?
Nein, keinesfalls. Die Aggression ist ohnehin verboten. Es ist Sache der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates, Aggressionen zu unterbinden und Aggressoren zu bestrafen. Selbstverständlich hat jeder Staat das Recht auf Selbstverteidigung, so wie im Artikel 51 der Uno-Charta festgelegt. Jeder Staat hat die Verpflichtung, seine Bürger vor Angriffen und Bedrohungen aus dem Ausland zu schützen. Das ist legitim und gehört zum Wesen eines jeden Staates. Aber es gibt kein Recht zum «Präventivkrieg», lediglich ein Recht zur Verteidigung, wenn ein Angriff erfolgt ist – und dann nur, bis der Sicherheitsrat sich der Situation annimmt. Natürlich kosten Verteidigung und die Verteidigungsbereitschaft etwas, aber das heisst nicht, dass man weitere Milliarden für Nuklearwaffen ausgibt, die ständig neu produziert werden. Wir haben schon die Fähigkeit, den gesamten Planet mehrfach zu vernichten, das ist ein Overkill, das ist eine völlige Verschwendung der Mittel. Derartige riesige Ausgaben müss­ten transparent diskutiert werden. Alle Fakten müssen auf den Tisch.
Aber indem die Fakten auf dem Tisch liegen, ist der Einsatz der Waffen noch nicht gebannt.
Das stimmt, die Bevölkerung muss, wie es hier in der Schweiz der Fall ist, darüber bestimmen und ihre Politiker zur Rechenschaft ziehen, wenn sie selbstherrlich Steuergelder verschwenden. Nur so kann man mehr Frieden und Gerechtigkeit erreichen. 
Das wäre natürlich ein ganz wichtiger Schritt.
Das Problem der sogenannten Lobby-Demokratien ist, dass dieses nicht gewählte Machtbündel, nämlich der militärisch-industrielle Komplex, direkten Einfluss auf die Senatoren und Kongressabgeordneten ausübt. Es werden dann Entscheidungen im Kongress getroffen, die in keiner Weise mit der Bevölkerung diskutiert worden sind und somit über die Köpfe der Menschen hinweg gefällt werden. Das muss dringend geändert werden, wenn wir eine Weltordnung anstreben, die demokratisch und gerecht ist. 
Gehört dazu nicht auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker?
Die Weltordnung baut zugleich auf der Souveränität der Staaten und auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf. Die Selbstbestimmung ist ein Recht, das von den meisten Völkerrechtlern als jus cogens bzw. als zwingendes Völkerrecht anerkannt wird. Artikel 1 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie Artikel 1 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sieht das Selbstbestimmungsrecht der Völker als eines der zentralen Rechte der Weltordnung an. 
Sind sich da nicht alle einig?
Wie im normalen Leben gibt es auch im Völkerrecht konkurrierende Rechte und Interessen. Für die Stabilität der Weltordnung wollen wir auch stabile Staatsgrenzen haben. Wir wollen eine durch Diplomatie und Verhandlungen stabile Weltordnung gewähren, die die Grenzen der Staaten respektiert. Besteht in einem Land Chaos oder Anarchie, ist die Stabilität bereits gebrochen. Dann gibt es oft vielschichtige Bestrebungen, Grenzen zu verändern. Klassisches Beispiel ist ein Land mit Bevölkerungsteilen, die sich benachteiligt, diskriminiert oder nicht vertreten fühlen. Diese hoffen meistens auf mehr Autonomie oder auf Sezession.
Was wäre ein konkretes Beispiel aus der Geschichte?
Betrachten wir die Situation in Jugoslawien in den Jahren 1990/91. Das war ein Staatsgebilde, das implodiert ist, weil die Bevölkerung von Slowenien, Bosnien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und schliesslich auch aus dem Kosovo nach Unabhängigkeit strebten, aus welchen Gründen auch immer. Bis zu diesem Zeitpunkt sprach man meistens von Selbstbestimmung im Rahmen der Entkolonialisierung in Afrika und Asien, nicht aber von Sezessionbestrebungen in europäischen Staaten. 
Dann war das damals aber eine neue Entwicklung?
Ja, im gewissen Sinne schon. Das Völkerrecht ist dynamisch, es ist ein lebendes Rechtssystem. Wenn es Entwicklungen gibt wie nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union 1990/91, als sich die einzelnen Republiken unabhängig machten, geht das sicherlich im Einklang mit dem Prinzip der Selbstbestimmung. Wenn sich in Jugoslawien Slowenen, Kroaten oder Bosnier abspalten, sprengt das natürlich die territoriale Integrität von Jugoslawien, entspricht aber dem Selbstbestimmungsrecht. Bei den konkurrierenden Interessen territoriale Integrität versus Selbstbestimmung wird oft dem Menschenrecht auf Selbstbestimmung die Priorität gegeben. 
Wie muss man diesen Schritt völkerrechtlich beurteilen?
Die territoriale Integrität muss nicht auf Biegen und Brechen aufrechterhalten werden. Es ist etwas, was nicht unumstösslich ist. Veränderungen sollen aber durch friedliche Mittel und Verhandlungen erreicht werden.
Wenn wir das jetzt auf die Situation der Ukraine übertragen, was heisst das dann?
Hier haben wir den Fall, wo eine demokratisch gewählte Regierung durch gewalttätige Demonstranten bedroht und schliesslich durch einen Putsch gestürzt wurde. Zunächst hatte die ukrainische Regierung das Recht, die Situation intern friedlich und durch Verhandlungen zu lösen. Das geschah auch zum Teil. Die Regierung Janukowitsch hat sich flexibel gezeigt, mit den Demonstranten zu verhandeln, die zum Teil sehr gewalttätig vorgingen und Unterstützung aus dem Ausland erhielten. Leider haben sich mehrere Staaten massiv in die Sache eingemischt, was auch gegen etliche völkerrechtliche Prinzipien versties. 
Woran denken Sie dabei?
Das abgehörte Gespräch der Vize-Ministerin Victoria Nuland mit dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine illustrierte eloquent eine «Kultur der Einmischung» in die innere Angelegenheit anderer Staaten. Wenn die anderen Staaten das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung respektiert und die Verhandlungen allein den Ukrainern überlassen hätten, hätte sich das Ganze wahrscheinlich anders entwickelt.
War die Regierung Janukowitsch zu einem Kompromiss bereit?
Am 21. Februar haben sich die Aussenminister von Frankreich, Polen und Deutschland mit Janukowitsch und den Vertretern der Insurgenten, der Opposition, getroffen. Dabei hat man sich auf einen gemeinsamen Fahrplan geeinigt. Der war vernünftig und hat vorgezogene Neuwahlen vorgesehen und eine graduelle Transition. Die Vereinbarung hätte gemäss Artikel 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention von allen Seiten respektiert werden müssen. In erster Linie von jenen Staaten, die sich verpflichtet haben, wie Deutschland, Polen und Frankreich, aber auch von Janukowitsch und der Opposition.
Wer hat den Vertrag gebrochen?
Die Opposition. Der Präsident muss­te unter Lebensgefahr aus dem Land fliehen. Das ist ein Staatsstreich, ein Putsch, ein Coup d’état. Das hat keine Legitimität. Bedauerlich ist, dass diese völkerrechtliche Vereinbarung von den unterzeichnenden Staaten nicht geschützt und nicht umgesetzt worden ist. Anstatt auf die Erfüllung der Vereinbarung abzustellen und den demokratisch gewählten Präsidenten zu unterstützen, haben die westlichen Staaten die Opposition anerkannt, die eben den Vertrag gebrochen hatte. Das ist eine sehr anormale Situation und stellt einen verheerenden Präzedenzfall von Interventionismus in die inneren Angelegenheiten eines unabhängigen Staates dar.
Was bedeutet das für ein Land, wenn ein demokratisch gewählter Präsident gestürzt wird?
Teile der Bevölkerung sind natürlich verunsichert. Besonders diejenigen, die bereits eine gewisse Autonomie im Land besassen und, wie im Falle der Krim, auch ein eigenes Parlament. Die Menschen haben sich die Frage gestellt, wie es weitergehe. Die Vertreter der Bevölkerung auf der Krim haben beschlossen, dass in dieser Situation, wo die russische Bevölkerung in der Region von den neuen Machthabern bedroht wurde, die eigene Sicherheit im Vordergrund steht. Sie wollen mit diesen Putschisten nicht zusammenarbeiten, und sie erklären sich für unabhängig. 
Im Kosovo war das auch so?
Hier gab es nur eine Unabhängigkeitserklärung durch das Parlament. Diese Erklärung des Kosovo-Parlaments vom 17. Februar 2008, so der Internationale Gerichtshof, war nicht völkerrechtswidrig. 
Hat die Bevölkerung im Kosovo auch darüber abgestimmt?
Nein, im Kosovo gab es kein Plebiszit, sondern es war eine Unabhängigkeitserklärung des Parlaments, die dann sofort von den USA und einer Reihe europäischer Staaten anerkannt wurde. Es sind inzwischen 108 Staaten, die den Kosovo anerkannt haben. Das ist jedoch in keiner Weise im Einklang mit der Sicherheitsratsresolution 1244, die den Kosovo als Bestandteil des ehemaligen Restjugoslawiens bzw. Serbiens feststellt und die Grenzen Serbiens garantiert. Die nationale Integrität von Serbien ist somit gesprengt worden. Die Welt hat das hingenommen. 
Warum ging das?
Man hat dem Selbstbestimmungsrecht die Priorität eingeräumt und es über die territoriale Integrität von Serbien gestellt. Das hat automatisch und notwendigerweise Konsequenzen für das Völkerrecht. Dass es im Kosovo ohne Referendum möglich war, nur auf Grund eines Parlamentsentscheids, sich als Teil von einem Nationalstaat abzusetzen, bedeutet, dass das in anderen Teilen der Welt auch möglich ist. Damit ist das Prinzip der territorialen Integrität von Staaten nicht absolut. 
Wie war das jetzt auf der Krim?
Nach den vorhandenen Informationen war die Entscheidung des Parlaments freiwillig und ohne militärischen Druck erfolgt. Das Plebiszit ist friedlich mit einer grossen Stimmbeteiligung verlaufen. Über 80 % sind zur Abstimmung gegangen und 96 % haben für die Unabhängigkeit der Krim gestimmt bzw. sich für die Wiederaufnahme in Russ­land entschieden. In dieser Situation muss man sagen, gestützt auf den Präzedenzfall Kosovo, hat das eine höhere demokratische Legitimität, weil die Bevölkerung dazu befragt wurde. Natürlich wird es Völkerrechtler geben, die sagen, es sei illegitim. Aber die Mehrheit der Völkerrechtler wird zustimmen, dass es völkerrechtskonform war. 
Hier sind Sie aber im Widerspruch mit Ihrem Präsidenten.
Es ist peinlich, dass, wenn man keine Fakten hat, diese einfach kreiert werden. In Brüssel hat mein Präsident behauptet, dass das Vorgehen im Kosovo legal und das auf der Krim illegal war und dass es ein Referendum im Kosovo gegeben habe, was dann von der Weltgemeinschaft anerkannt worden sei. Wir alle wissen, es gab kein Referendum im Kosovo. Dennoch sind hier vollendete Tatsachen geschaffen worden. Ich glaube kaum, dass die Situation im Kosovo geändert werden kann. Ich sage nur, dass mit dem Kosovo ein Präzedenzfall geschaffen wurde, der Konsequenzen haben wird. Das ist nicht nur für die Krim von Bedeutung, sondern auch für Südossetien, Abchasien, Transnistrien, Nagorni Karabach. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Uhr zurückgedreht werden kann. Das würde eine Bedrohung des internationalen Friedens im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta darstellen und wäre zudem noch undemokratisch und gegen den Willen der Bevölkerung in diesen Ländern.
Inwieweit sind noch andere Volksgruppen davon betroffen?
Zum Beispiel die Bevölkerung auf Korsika, in Katalonien, die Kurden, die Tamilen, die Ibos von Biafra (Nigeria), die Molukken, die West-Papuaner und etliche andere Volksgruppen, die nach Unabhängigkeit streben. 
Was gäbe es in dieser Situation zu tun?
Mein Vorschlag ist, gemäss der Uno-Charta zu verhandeln, zu diskutieren und nach Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens zu suchen. Das lässt sich alles machen, vorausgesetzt, dass man in gutem Glauben arbeitet und gewillt ist, eine friedliche Lösung zu finden. Schliess­lich haben sich alle Uno-Mitgliedstaaten gemäss Artikel 2, Absatz 3 der Charta verpflichtet, «ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel» beizulegen, so dass «der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden». Es gibt also eine Verpflichtung zu Verhandlung, was auch für die generelle Situation in der Ukraine sinnvoll wäre.
Das heisst, hier bräuchte es den ehrlichen Dialog.
Ja, den aufrichtigen, ehrlichen Dialog. Man darf nicht mit Drohungen oder einseitigen Sanktionen einen anderen Staat dazu zwingen, etwas zu tun, was er nicht will, was die Bevölkerung des betreffenden Landes nicht will. Ich bin optimistisch, dass sich die Lage beruhigt, ich glaube nicht, dass eine Bedrohung der baltischen Staaten besteht. Ich sehe hier eher, und das ist ein Grund zur Besorgnis, dass Kriegshetze betrieben wird, die von vielen Medien geführt wird. Diese Kriegshetze bedeutet auch eine Bedrohung des Friedens im Sinne des Artikels 39 der Uno-Charta.
Steht Kriegshetze nicht im Widerspruch zum Völkerrecht?
Doch. Es stellt eine Verletzung des Artikels 20 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte dar. Artikel 20 verbietet Kriegshetze und Kriegspropaganda. Es ist zu bedauern, dass viele Medien genau das zurzeit betreiben und sozusagen den Teufel an die Wand malen. Sie bringen damit die Menschen zur Panik, indem man den Eindruck erwecken will, dass Russ­land die baltischen Staaten angreifen und die Ukraine besetzen wolle oder was noch alles. Man dämonisiert die russische Regierung und die Person Putins, obwohl dieser mehrfach eine internationale Konferenz vorgeschlagen und wiederholt den Dialog gefordert hat. Wir sind durch die Uno-Charta verpflichtet, sämtliche Differenzen durch friedliche Mittel zu lösen. Das ist auch das Ziel meines Mandats: Über den ehrlichen und aufrichtigen Dialog zu mehr Frieden und Gerechtigkeit zu gelangen. Einen anderen Weg gibt es nicht, das hat die Geschichte schon hundertmal bewiesen.
Ich darf hoffen, dass in den kommenden Jahren Konsens über mein Mandat erreicht wird und dass die Skeptiker schliesslich überzeugt werden, dass eine friedliche, demokratische und gerechte Weltordnung doch möglich ist. 
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für diesen aufrichtigen Meinungsaustausch.    •
(Interview Thomas Kaiser)
Das Gespräch entspricht der persönlichen Meinung von Professor de Zayas und wurde nicht offiziell in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter geführt. Siehe auch www.alfreddezayas.com und
http://dezayasalfred.wordpress.com/  und http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1764

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