Syrien: OPCW macht Damaskus für Giftgaseinsatz verantwortlich – Moskau widerspricht Schlussfolgerung
27.10.2017 • 18:50 Uhr
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Edmond Mulet, Vorsitzender des Joint Investigative Mechanism (JIM), während einer Pressekonferenz in New York. Die gemeinsame Untersuchungsmission der UN und der OPCW macht Damaskus für einen Giftgaseinsatz im April verantwortlich.
Nach der Freisetzung von Giftgas und dem Tod von über 80 Menschen im April in Syrien hält der Streit um die Schuldfrage weiter an. Nun sind Details eines OPCW-Berichts bekannt geworden, der Damaskus verantwortlich macht - allerdings ohne Ermittlungen vor Ort.
Am 4. April dieses Jahres kamen infolge einer mutmaßlichen Freisetzung des Nervengiftes Sarin in Chan Schaichun in der syrischen Provinz Idlib über 80 Menschen ums Leben. Islamistische Aufständische – der Ort wird von Al-Kaida kontrolliert – und der Westen machten unverzüglich die syrische Regierung dafür verantwortlich. Diese weist die Vorwürfe ebenso wie Moskau zurück. Seitdem tobt der Streit um die Urheberschaft des Verbrechens, infolge dessen die USA erstmals seit Ausbruch des Krieges gezielt Einrichtungen des syrischen Militärs angriffen.
Ein gemeinsames Untersuchungsteam der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) mit Sitz in Den Haag, der so genannte Joint Investigative Mechanism (JIM), widmete sich dem Ereignis und legte seine Einschätzungen in einem noch nicht veröffentlichten Abschlussbericht dar. Das Gremium wurde auf Grund eines Beschluss des UN-Sicherheitsrates ins Leben gerufen.
Details des JIM-Berichts gelangten am Donnerstag vorab an die Öffentlichkeit. Demnach seien die Ermittler davon "überzeugt", dass die syrische Armee für den Giftgaseinsatz verantwortlich ist. Die Nachrichtenagenturen AP und AFP zitierten aus dem Dokument, in das sie nach eigenen Angaben Einsicht nehmen konnten. Die JIM-Ermittler sind demzufolge "überzeugt, dass die Syrisch-Arabische Republik verantwortlich für die Freisetzung von Sarin in Chan Schaichun" ist. Laut den Verfassern des Dokuments wurde das Giftgas "durch eine Bombe freigesetzt, die von einem Flugzeug abgeworfen wurde".
Russland kritisiert Vorveröffentlichung selektiver Details
Russlands Ständige Vertretung bei den Vereinten Nationen äußerte ihr Befremden darüber, dass selektiv Details des Berichts an die Öffentlichkeit gelangten und ihre Runde in den Medien machen, obwohl dieser noch nicht freigegeben ist.
"Wir sind überrascht, dass einige westliche Nachrichtenagenturen direkte Zitate aus diesem internen Dokument wiedergeben", erklärte die russische Vertretung, die zugleich bestätigte, dass das JIM-Dokument im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verteilt wurde. In der Stellungnahme heißt es weiter:
Wir haben eine gründliche Studie dieses Papiers begonnen, das von sehr komplexer technischer Natur ist. Diese Arbeit sollte unter Einbeziehung einschlägiger Spezialisten verschiedener Abteilungen durchgeführt werden.
Der neue Bericht scheint sowohl einen OPCW-Bericht vom Juni zu bestätigen, der erste Untersuchungsergebnisse präsentierte, als auch aus der Ferne durchgeführte Ermittlungen seitens der USA, Frankreichs und Großbritanniens, die sofort Damaskus für den Einsatz der Chemiewaffe verantwortlich machten. Washington begrüßte die nun durchgesickerten Schlussfolgerungen des JIM-Berichtes. Die UN-Botschafterin der USA, Nikki Haley, sagte dazu:
Der heutige Bericht bestätigt, was wir schon lange wissen. Die überwältigende Menge an Beweisen in diesem Fall zu ignorieren, belegt eine zielgerichtete Missachtung weithin vereinbarter internationaler Normen.
Haley warf Russland vor, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad schützen zu wollen.
OPCW-Bericht hält Untersuchungsstandards nicht ein
Russland und Syrien haben die Ergebnisse des im Juni veröffentlichten Vorabberichts bereits zu einem frühen Zeitpunkt infrage gestellt. Beide Länder wiesen darauf hin, dass die Ermittlungsgruppe den Tatort nie besucht hat, sondern sich auf Beweise und Proben verließ, die von den islamistischen Terrorgruppen gesammelt wurden, die das Gebiet kontrollieren.
Die so genannten Experten haben auch die Luftbasis Al-Schairat nicht inspiziert, die wenige Tage nach dem Giftgasvorfall von den Vereinigten Staaten mit Dutzenden Marschflugkörpern angegriffen wurde. Washington behauptet, von dort sei das Flugzeug gestartet, das den Giftgasangriff auf Chan Schaichun ausgeführt habe. Beweise konnten die Amerikaner für diese Anschuldigung jedoch nicht vorlegen.
Erfolglos hatte die syrische Regierung wiederholt Vertreter der OPCW dazu aufgefordert, die Luftbasis auf Spuren des Giftgases zu untersuchen. Damaskus forderte zudem – ebenso erfolglos – eine Untersuchung des Tatorts durch internationale Experten.
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Die OPCW hatte in ihrem Bericht vom Juni eingestanden, die Gewebeproben, in denen sie das Nervengift Sarin beziehungsweise ähnliche Substanzen identifiziert hatte, nicht selbst genommen zu haben, da sie vor Ort keine Untersuchung durchgeführt habe. Zudem hat die Organisation mitgeteilt, dass normale Untersuchungsstandards nicht eingehalten wurden. So gab es etwa keine lückenlose Beweismittelkette im Fall der untersuchten Proben.
Moskau geht von einer Inszenierung aus
Nach Überprüfung der gesammelten Beweismittel und Daten sagte Moskau, es tendiere zu der Auffassung, wonach der Giftgaseinsatz inszeniert worden sein könnte, und dass die tödlichen chemischen Substanzen nicht durch einen Luftangriff, sondern durch eine Explosion am Boden freigesetzt wurden. Neben Widersprüchen im Zusammenhang mit dem Einschlagskrater wies Moskau auf Ungereimtheiten hinsichtlich der Symptome der Opfer von Chan Schaichun hin. So seien die Pupillen der in Videoaufnahmen gezeigten Opfer geweitet gewesen. Bei Kontakt mit Sarin würden sich die Pupillen jedoch deutlich verkleinern.
Zudem dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass die Aufnahmen von den so genannten Weißhelmen angefertigt wurden - welche sich in der Vergangenheit de facto als Propagandaabteilung Al-Kaidas erwiesen haben.
Am Mittwoch blockierte Russland einen Resolutionsentwurf des UN-Sicherheitsrates zur Verlängerung des Mandats der OPCW-UN-Mission. Zur Begründung führte Moskau an, dass über eine Fortsetzung der Mission erst nach der Bewertung des JIM-Berichts entschieden werden solle. Die Leistung, Unabhängigkeit, Objektivität und Professionalität des Untersuchungsteams müssen zunächst geprüft werden.
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Washington meint, über Assads Schicksal bestimmen zu können
Nur wenige Stunden, bevor die Damaskus belastenden Aussagen des JIM-Berichts von Medien kolportiert wurden, hatte der US-Außenminister erklärt, Syriens Präsident Baschar al-Assad werde keine Rolle in der Zukunft des Landes spielen. Nach einem Gespräch mit dem UN-Sondergesandten für Syrien, Staffan de Mistura, sagte Rex Tillerson gegenüber Journalisten:
Die Herrschaft der Assad-Familie neigt sich dem Ende zu. Die einzige Frage ist, wie das erreicht werden soll. Wir sind der Meinung, und ich habe das auch oft gesagt, dass wir nicht glauben, dass es eine Zukunft für das Assad-Regime und die Assad-Familie gibt.
In Richtung Washington sagte Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja nach einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates:
Ich denke, wir sollten keine Vorhersagen über die Zukunft von irgendjemanden machen. Die Zeit wird zeigen, ob jemand eine Zukunft hat oder nicht.
Nur wenige Tage vor dem Giftgasvorfall in Chan Schaichun hatten die USA erstmals seit Konfliktausbruch erklärt, dass eine Absetzung Assads für sie keine Priorität mehr habe. Nach Jahren des "Assad muss weg" war das eine beachtenswerte Kehrtwende der Amerikaner, die jedoch durch den Vorfall in Chan Schaichun bedeutungslos wurde.
Stellt man die Frage, wem der Chemiewaffenangriff politisch nutzte, steht die Antwort zweifelsfrei fest: den Assad-Gegnern. Über die Mittel zur Inszenierung eines solchen Angriffs unter falscher Flagge dürften sie wohl verfügen. Zumindest gingen US-Geheimdienste bereits im Jahr 2013 davon aus, dass die Nusra-Front – der syrische Al-Kaida-Ableger, der Chan Schaichun kontrolliert – im Besitz von Sarin ist.
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