Thursday, November 12, 2015

Nachruf auf Helmut Schmidt von Rüdiger Göbel Auf Sputnik

Der Zeit-Herausgeber und fruehere Bundeskanzler Helmut Schmidt

Helmut Schmidt: »Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen«

© REUTERS/ Thomas Peter
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Rüdiger Göbel
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Nach Peter Scholl-Latour und Egon Bahr ist mit Helmut Schmidt Deutschlands letzter großer alter Welterklärer abgetreten, der sich der antirussischen Agenda des Mainstreams verweigert hat. Der Altkanzler hat sich bis zuletzt für eine Verständigung mit Moskau eingesetzt, die Sanktionen »dummes Zeug« und den Umgang mit der Krim »verständlich« genannt.

96 Jahre alt geworden ist Helmut Schmidt, und im hohen Alter politisch klar und präzise wie wenige junge. Acht Jahre war der SPD-Politiker Bundeskanzler, der fünfte der Bundesrepublik Deutschland, von 1974 bis 1982. Vier mal so lang, seit 1983 nämlich, war er Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, in der er immer wieder seine Meinung zur deutschen Politik kundtat.
Seit Beginn der Ukraine-Krise vor zwei Jahren und dem vom Westen unterstützten Putsch in Kiew im Februar 2014 hat sich Altkanzler Schmidt immer wieder zu Wort gemeldet. Weil er das Vorgehen Russlands auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim im Frühjahr vergangenen Jahres nachvollziehen konnte und scharfe Kritik an der von den USA und der EU betriebenen Isolationspolitik gegenüber Moskaus äußerste, hatte er sich früh den Titel »Putin-Versteher« (Handelsblatt, 26.3.2014) eingehandelt.
Bei einer Matinee seiner Wochenzeitung Die Zeit befand er, das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Krim »durchaus verständlich«. Die von der Europäischen Union und den USA beschlossenen Sanktionen gegen Russland bezeichnete er dagegen frei Schmidt-Schnauze als »dummes Zeug«. Weitergehende Wirtschaftssanktionen würden ihr Ziel verfehlen, prognostizierte der SPD-Mann, sie hätten vor allem symbolische Bedeutung, »aber sie treffen den Westen genauso wie die Russen«. 
Selbstredend kritisierte Schmidt den Beschluss, die G8 wieder zu G7 zu schrumpfen und mit Russland in dem Rahmen nicht mehr zusammenzuarbeiten. »Es wäre ideal, sich jetzt zusammenzusetzen. Es wäre jedenfalls dem Frieden bekömmlicher als das Androhen von Sanktionen«, so Schmidt im März 2014. Und den westlichen Großkopfeten auf Konfrontationskurs mit Moskau rief er in Erinnerung: »Die G8 ist in Wirklichkeit nicht so wichtig wie die G20. Aus der G20 hat man die Russen bisher nicht rauskomplimentiert.«
Anlässlich des G7-Treffens in diesem Sommer auf Schloss Elmau in Bayern äußerte der Hamburger, ohne Teilnahme Russlands bringe das Treffen nichts. »Meine Erwartungen sind begrenzt«, sagte Schmidt mit Blick auf mögliche Ergebnisse des Treffens. Er erhoffe sich vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise lediglich, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs »nicht Öl ins Feuer gießen. Und damit bin ich dann zufrieden«.  
Im auflagenstarken Boulevardblatt Bild hat Schmidt den russischen Präsidenten Wladimir Putin schließlich auch noch einen »vorausschauenden Politiker« genannt, der keinen Krieg wolle. Mit eisigem Schweigen reagierte seine Partei, als er betonte, die Ukraine-Politik des Westens beruhe auf dem großen Irrtum, »dass es ein Volk der Ukrainer gäbe, eine nationale Identität«. Tatsächlich gebe es die Krim, die Ost- und die Westukraine. Während die Schwarzmeerhalbinsel nur ein »Geschenk« Chruschtschows an die Sowjetrepublik Ukraine gewesen sei, bestehe  die West-Ukraine größtenteils aus ehemaligen polnischen Gebieten, allesamt römisch-katholisch. Die überwiegend russisch-orthodoxe Ost-Ukraine liege dagegen auf dem Gebiet der Kiewer Rus, dem einstigen Kerngebiet Russlands. Letzteres scheine der Westen nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, so Schmidts kurzer Exkurs in die Historie.
Im März dieses Jahres hat er einmal mehr um Verständnis für Russland und Putin geworben. Andernfalls sei »nicht völlig ausgeschlossen«, dass aus dem Konflikt um die Ukraine »sogar ein heißer Krieg wird«. Während die NATO Truppen gen Osten verlegte und ein Großmanöver nach dem anderen an der Grenze zu Russland veranstaltete, und der westliche Militärpakt mit dem Säbelrasseln gar nicht mehr aufhören konnte, rief der Altkanzler das vergangene Vierteljahrhundert in Erinnerung: Russland sei von den Beschlüssen der EU zur Ost-Erweiterung Anfang der Neunzigerjahre in einer »Wild-West-Periode« unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin überrascht worden. »Das rächt sich heute«, so Schmidt, denn Jelzins Nachfolger Putin habe Russland wieder internationale Beachtung verschafft. »Putins Politik muss uns nicht gefallen. Aber wir müssen sie aus der Geschichte verstehen und ernst nehmen.«
Zu den friedenspolitischen Bonmots Schmidt gehört der Ausspruch: »Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.«
Zur Erinnerung an Helmut Schmidt gehört auch: Als Bundeskanzler setzte er in den 1980er Jahren die Aufstellung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in der BRD. Sie war Teil der Großunternehmung, die Sowjetunion tot zu rüsten. Hunderttausende Kriegsgegner, darunter der Autor dieses Textes, waren damals gegen die Pershing-II-Stationierung auf die Straßen gegangen. Im hohen Alter war der Altkanzler mit seinen Positionen zu Russland und zur Ukraine politisch der Friedensbewegung Deutschlands näher als seiner Partei und der amtierenden Bundesregierung.


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