Sunday, September 13, 2015

Die USA werden gegen die Achse Moskau–Peking den kürzeren ziehen 

Interview mit Folker Hellmeyer*, Chefanalyst der Bremer Landesbank

Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremer Landesbank, hat keine Zweifel über die Zukunft des Weltwirtschaftssystems: Die Achse Moskau–Peking wird sich gegen den alten Hegemon USA durchsetzen. Diese Länder suchen eine langfristige Strategie und nicht den kurzfristigen Profit. Die EU könnte wegen ihres blinden Gehorsams zu den Verlierern gehören. Schon jetzt fügen die Sanktionen Deutschland und den anderen EU-Staaten enormen Schaden zu. 
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die EU-Staaten melden immer neue Verluste wegen der Sanktionen gegen Russland. Welchen Schaden haben die Sanktionen Ihrer Einschätzung nach bereits angerichtet? 
Folker Hellmeyer: Der Schaden ist viel umfassender, als es die Statistik sagt. Beginnen wir bei der Ökonomie und den bisher aufgelaufenen Schäden. Der Blick auf den Rückgang der deutschen Exporte [nach Russland] per 2014 um 18% oder in den ersten beiden Monaten 2015 um 34% im Jahresvergleich erfasst nur einen Primärausschnitt. Es gibt Sekundär­effekte. Europäische Länder mit starkem Russlandgeschäft, unter anderem Finnland und Österreich, leiden konjunkturell massiv. Diese Länder ordern in der Folge auch weniger in Deutschland. Mehr noch erwägen europäische Grosskonzerne zur Umgehung der Sanktionen, Produktionsstätten auf höchster Effizienz­ebene in Russland zu erstellen. Damit verlieren wir hier potentiellen Kapitalstock, der die Grundlage unseres Wohlstands ist. Russland gewinnt diesen Kapitalstock. 
Es ist ja noch nicht abzusehen, dass die Sanktionen in absehbarer Zeit enden. Wie hoch kann die Rechnung gerade für die deutsche Exportwirtschaft werden?
Deutschland und die EU haben gegenüber Russland ihre ökonomische Zuverlässigkeit zur Disposition gestellt. Das Vertrauensverhältnis ist durch Deutschland und die EU zerrüttet. Um ein solches Vertrauen wieder aufzubauen, bedarf es mehrerer Jahre. Zwischen Unterschrift und Lieferung liegen bei den deutschen und europäischen Exporten im Anlagebau bis zu fünf Jahre. Siemens ist jetzt aus diesem Grunde bei einem Grossprojekt rausgeflogen. Alstom hat den Auftrag für die Bahnstrecke Moskau–Peking verloren. Ergo ist das Schadenspotential nicht nur für Deutschland, sondern auch die EU viel massiver als es die aktuellen Zahlen ausdrücken könnten. Genau beziffern lassen sich die zukünftigen Schäden nicht, sie sind definitiv erheblich.
Mehr noch plant die Achse Peking–Moskau im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) und der BRICS-Länder das grösste Wachstumsprojekt in der modernen Geschichte, den Aufbau der Infrastruktur Eurasiens von Moskau bis Wladiwostok, bis Südchina und Indien. Inwieweit die Sanktionspolitik der EU und Deutschlands bei diesen Megaprojekten seitens der aufstrebenden Länder als Affront nicht nur gegen Russland interpretiert werden wird, bleibt abzuwarten.
Offensichtlich mangelt es einigen Teilnehmern der europäischen Politik an Abstraktionsfähigkeit des vollen Umfangs des eigenen Handelns in unserem Namen. 
Wer wird am Ende für den Schaden aufkommen? 
Der messbare Schaden liegt in entgangenem Wachstum, in entgangenen Lohnzahlungen, in entgangenen Einzahlungen in das Sozialsystem und in entgangenem Steueraufkommen. Das gilt für die vergangenen 12 Monate, und es gilt für die kommenden Jahre. Damit zahlen die Menschen in Deutschland und der EU diesen Preis durch entgangene Wohlstands- und Stabilitätsmehrung. Der nicht messbare Schaden liegt in einer erhöhten geopolitischen Risikolage für die Menschen in der EU. 
Wenn man die Lage in der Ukraine einigermassen nüchtern betrachtet: Die Regierung in Kiew scheint vor allem daran interessiert zu sein, die Lage am Köcheln zu halten, um immer neue Kredite zu bekommen. Spricht eigentlich irgendein westlicher Politiker auch mal ein klares Wort mit denen? 
Es ist in der Tat irritierend. Menschen, die nicht nur auf «westliche Qualitätsmedien» fokussiert sind, sind erstaunt über das mediale Ausblenden der Aggressionen Kiews und der durch die Regierung Kiews umgesetzten diskriminierenden Gesetze, die zu dem Anspruch westlicher Werte und Demokratie in einem krassen Missverhältnis stehen. Ich halte Herrn Steinmeier zugute, dass er in der Tat hinter verschlossenen Türen Klartext spricht. Die Frage ist, ob das Verhalten jenseits des Atlantiks Herrn Steinmeier unterstützt. Ich verweise diesbezüglich auf die Einlassungen der US-Interessenvertreterin in Osteuropa Victoria Nuland. Fakt ist, dass bei dem Coup in der Ukraine eine in der Tendenz gegenüber Moskau freundlich gesinnte Oligarchie durch eine jetzt den USA zugewandte Oligarchie ersetzt wurde. Das war Geopolitik, die dritten Kräften, aber definitiv nicht Deutschland, nicht der EU, nicht Russland und auch nicht der Ukraine nützt. 
Die Finanzministerin Natalie Jaresko ist eine ehemalige Mitarbeiterin des US-Aussenministeriums, die erst einen Tag vor ihrer Angelobung die ukrainische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Ist die ehemalige Investmentbankerin einfach unschlagbar gut, oder steckt dahinter ein Masterplan? 
Ich kenne sie nicht persönlich. Es ist viel über sie geschrieben worden. Daraus ergibt sich ein Bild, das den Begriff «unschlagbar gut» nicht erlaubt. Die Tatsache, dass wichtige Posten in der ukrainischen Administration von externen Kräften mit extremer Nähe zu den USA und deren Institutionen eingenommen wurden, unterstreicht den geopolitischen Charakter des Coups. Ergo ist der Begriff Masterplan mindestens vertretbar.
Eine bedeutende Figur der jüngeren deutschen Politik, nicht mehr in Amt und Würden, sagte in einem bilateralen Gespräch, dass US-Geopolitik auf dem Schachbrett der Ukraine mit dem Blut ukrainischer «Bauern» über die Bande Moskau gegen das Machtzentrum Peking das Bild am besten umschreibt. Diese Sichtweise teile ich.
Fakt ist, dass sich die aufstrebenden Länder von der US-Hegemonie emanzipieren. Das wird deutlich an den Gründungen von Konkurrenzinstitutionen zur Weltbank (AIIB) und dem IWF (New Development Bank) seitens der Achse der aufstrebenden Länder. Das missfällt dem noch waltenden Hegemon. Die aktuellen internationalen Krisenherde von Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Ägypten bis zur Ukraine sind Ausdruck dieser im Hintergrund klar erkennbaren Machtauseinandersetzung. Wollten wir dort nicht überall Demokratie und Freiheit etablieren? Werfen wir einen Blick auf den Erfolg …
Verschiedene EU-Staaten, wie Italien, Österreich oder Ungarn, murren immer vernehmbarer über die Sanktionen. In Deutschland herrscht dagegen eine fast gespenstische Geschlossenheit. Woran liegt das? 
Der deutsche Bürger ist sehr satt. Es geht ihm trotz der entgangenen Geschäfte noch gut, der nächste Urlaub liegt vor der Tür. Die Medien sind, politisch korrekt ausgedrückt, gegenüber der US-Geopolitik handzahm, unsere Politik auch. Die politische und mediale Nivellierung dieses Themenkomplexes wirkt. 
Welche Folgen haben die Sanktionen auf das deutsch-russische Verhältnis? 
Das Verhältnis auf der Ebene der Politik ist zerrüttet. Der Dialog wird dennoch von beiden Seiten erhalten. Das ist grundsätzlich positiv. Die Enttäuschung Moskaus gerade gegenüber der deutschen Politik ist massiv. Es gibt in Moskau eine sehr realistische Einschätzung bezüglich der Fähigkeit, hier eine von den US-Interessen unabhängige Politik im eigenen deutschen und europäischen Interesse zu formulieren und zu leben. Im Bereich der Unternehmen sieht das besser aus. Da werden die Gesprächsebenen genutzt. Man bereitet sich hier auf den Tag X nach den Sanktionen vor. Eine schnelle Wiederbelebung auf das Niveau vor der Krise ist jedoch unwahrscheinlich. Russland ist ein Bär. Man baut sich jetzt neue Versorgungswege auf. Die wird man nicht einfach nach der Sanktionspolitik aufgeben. Beliebigkeit mag im Westen «en vogue» sein, in Moskau nicht. Mit jedem Tag, der in der Sanktionspolitik vergeht, verzehren wir gemeinsame Zukunft. 
Welche Folgen haben die Sanktionen für die Volkswirtschaften der EU? 
Es entgeht uns Exportwachstum, es entgeht uns eine Friedensdividende. Wir reformieren die schwachen Länder der Euro-Zone und stellen unter schweren Opfern deren internationale Konkurrenzfähigkeit wieder her, um ihnen dann Märkte zu entziehen. Weiss hier die linke Hand der deutschen und der EU- Politik, was die rechte Hand macht? 
Welche Risiken haben wir für die europäischen Banken? 
Diese Risiken sind grösstenteils überschaubar. Das Monitoring, das diesbezüglich von der Aufsicht unternommen wird und wurde, ist effektiv und lässt nachhaltige Unfälle nicht zu. 
Warum kuschen die grossen Verbände, etwa der BDI? Man möchte meinen, deren Existenzberechtigung besteht darin, die Interessen der Industrie zu vertreten? 
Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen den öffentlichen Verlautbarungen der Verbände und der internen Sach- und Gemütslage. Im Bereich der Unternehmen gärt es erheblich. Dennoch bin ich bezüglich der öffentlichen Stellungnahmen der Verbände enttäuscht. Sie agieren politisch korrekt. ­Politische Korrektheit ist eingeschränkte Korrektheit und damit per Definition inkorrekt.
Für eine exportorientierte Wirtschaft ist das Thema Sanktionspolitik von markanter, für manche Unternehmen von existentieller Bedeutung. Hier von dem Primat der Politik zu fabulieren, ist bezüglich des Auftrags dieser Verbände eine partielle Verweigerung der Verantwortung. 
Die Verachtung, mit der die US-Regierung die Europäer behandelt, ist ja bemerkenswert – Stichworte NSA und «Fuck the EU». Haben die europäischen Politiker keine Selbstachtung oder sind sie zu feig?
Wer ein echter Demokrat ist, wer seine Pflichten als Politiker für die Res publica ernstnimmt, wer das eigene Selbstbestimmungsrecht nicht mit Füssen tritt, der muss aus diesen Äusserungen Konsequenzen ziehen. Wer das nicht tut, hat bezüglich des obigen Wertekanons Defizite. Ich bin hier der falsche Ansprechpartner. Sie müssen diese Fragen unseren politisch Verantwortlichen unterbreiten. 
Verkehrt proportional zur Bücklingshaltung in Richtung Washington ist die Aggressivität nach innen: Zuerst wurden Andersdenkende als «Putin-Versteher» diffamiert, seit neuestem ist man ein «Putin-Troll», wenn man nicht mit den Wölfen heult. Kostet uns der Kalte Krieg jetzt schon ein Stück unserer demokratischen Freiheiten?
Ich habe in meinem Buch «Endlich Klartext» Ende 2007 in dem Vorwort formuliert: «Zuerst sterben die freien Märkte, dann stirbt die Demokratie!» In dem Buch wurde auch das US-Hegemonialsystem analysiert. Die jetzigen geopolitischen Auseinandersetzungen werden im Inland zur Schleifung der demokratischen Freiheitsrechte missbraucht. Das Tempo nimmt dabei zu. Ich bin besorgter denn je. Derzeit beschäftigt mich der Begriff «Terror des Mainstreams». Wir geben vor, tolerant und pluralistisch zu sein. Wer bei politisch sensiblen Themen jedoch von dem Mainstream abweichende Meinungen vertritt, ist dem Risiko der Isolierung oder Diffamierung ausgesetzt. Diese Entwicklungen stehen im diametralen Widerspruch zum Anspruch der Demokratie und Freiheit. Ja, die aktuellen Konflikte kosten Demokratie. 
In den USA gibt es – anders als in Deutschland – eine sehr lebendige Debatte über das hegemoniale Gebaren der Regierung, und zwar von links und rechts. Warum nicht in Deutschland? 
Das ist richtig, nur hat diese Debatte in den USA keine politischen Folgen bezüglich der Verhältnisse im Parlament. Bei uns ist die Debatte unausgeprägt, dafür ist das Parlament etwas bunter, wenn auch durch die Grosse Koalition bezüglich effizienter Opposition behindert. Am Ende verwechseln viele Deutsche vielleicht Wohlstand und Freizügigkeit mit dem Begriff Freiheit? 
Wie geht der Konflikt weiter? Ist es denkbar, dass sich Amerikaner und Russen wieder zusammentun – etwa wegen IS oder Syrien – und die Europäer hinter den beiden Grossmächten herdackeln und zahlen? 
Für mich ist der Konflikt schon entschieden. Die Achse Moskau–Peking–BRICS gewinnt. Dort hat man vom Westen die Nase voll. 1990 hatten diese Länder einen Anteil von etwa 25% an der Weltwirtschaftsleistung. Heute stehen sie für 56% der Weltwirtschaftsleistung, für 85% der Weltbevölkerung. Sie kontrollieren etwa 70% der Weltdevisenreserven. Sie wachsen pro Jahr im Durchschnitt mit 4%–5%. Da die USA nicht bereit waren, internationale Macht zu teilen (zum Beispiel Voten in IWF und Weltbank), baut man im Sektor der aufstrebenden Länder ein eigenes Finanzsystem auf. Dort liegt die Zukunft.
Die EU wird derzeit in den Konflikt, den die USA verursachten, weil sie keine Macht teilen wollten und teilen wollen, hineingezogen und damit in ihren eigenen Entwicklungsmöglichkeiten sterilisiert. Je länger wir diese Politik in der EU verfolgen, desto höher wird der Preis, desto weniger wird man uns als Gesprächspartner ernstnehmen.
Ohne Moskau und Peking lässt sich kein Problem in der Welt lösen. Die USA könnten in der Tat viel pragmatischer agieren, als wir uns das heute vorstellen könnten. Das Fehlen der eigenen Agenda der EU und Deutschlands lässt uns wie ein Verlierer erscheinen.
Was muss geschehen, bis wir wieder eine eigenständige Aussen- und Wirtschaftspolitik in Deutschland sehen?
Bei dieser Frage passe ich. Ich bitte um Ihr Verständnis. 
Was bedeutet es für einen Wirtschaftsstandort, wenn die Regierung geopolitische Spielchen betreibt, statt knallhart wie alle anderen, die deutschen Interessen zu vertreten? 
Es bedeutet, dass dem eigenen Standort Schaden zugefügt wird. 
Versteht der durchschnittliche Parlamentarier die Wechselwirkung von Politik und Wirtschaft? 
Diesbezüglich bin ich skeptisch. 
Wird Politik besser, wenn die Politiker zwar immer weniger von Wirtschaft verstehen, es aber dafür immer mehr Politiker gibt? 
Definitiv nicht. Die Stabilität einer Demokratie hängt an der Stabilität der Ökonomie. Wenn der Ökonomie dauerhaft Schaden zugeführt wird, nimmt die Radikalisierung einer Gesellschaft zu. Diese Erfahrung hat das Deutsche Reich 1933 gemacht. Daneben gibt es dann noch die Variante, dass die Demokratie zur Demokratur wird, um in der Oligarchie zu landen. Dazu gibt es bezüglich der USA eine Studie der Princeton University. O-Ton: Die USA sind keine Demokratie mehr, es ist eine Oligarchie! Hoppla, das war nicht politisch korrekt …
Derzeit steht mehr auf dem Spiel, als es der «kleine Mann» und die «kleine Frau» wahrhaben oder wahrhaben wollen. Sie sehen mich tief besorgt.    •
Quelle: Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 24.7.2015
*  Folker Hellmeyer (Jahrgang 1961) ist seit April 2002 Chefanalyst der Bremer Landesbank. Zuvor war Hellmeyer unter anderem für die Deutsche Bank in Hamburg und London als Senior Dealer und Chefanalyst der Landesbank Hessen-Thüringen tätig. Als Kommentator des Geschehens an den internationalen Finanzmärkten ist er regelmässig in den Medien vertreten.

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