Wednesday, February 18, 2015

Zur Diskussion gestellt:


Israel als Problem in der modernen Welt 
von Prof. Dr.Michael Welton (Universität Athabasca)

Die Stimmung in unserer beängstigenden Zeit ist unglaublich kriegerisch, dunkel, apokalyptisch und rachsüchtig. Der ‚Krieg gegen den Terror‘ ist wie ein Virus, der alles infiziert, mit dem er in Berührung kommt. Und er scheint alles zu kontaminieren, von unseren populären TV-Serien bis hin zu den Prozeduren bei Grenzüberquerungen und Reisen irgendwohin nach Übersee. Man kann die Sonntagszeitung nicht lesen, ohne dass einen ein schlechtes Gefühl beschleicht, ein Gefühl der Bedrohung, das an den Nerven zerrt und einem den Morgenkaffee verdirbt. Jeder Tag bringt einen neuen Schock. Und wenn es nicht der Terror ist, der einem den Tag verdirbt, dann ist es mit Sicherheit die Angst vor der globalen Erwärmung oder der Erschöpfung der Erdölreserven.
Ich bin insbesondere daran interessiert, zu ergründen, inwieweit religiöse Überzeugungen und mythologische Systeme dazu beitragen, uns voneinander zu trennen, Irrationalität und Hass gegen andere zu säen und jeden Anflug von Bereitschaft zu radikaler Selbstkritik zu ersticken. Um aufzuzeigen, wie brandgefährlich religiöse Überzeugungen sein können, möchte ich die Aufmerksamkeit auf den israelisch-palästinensischen Konflikt im Kontext des Nahen Ostens lenken. Vielleicht ist kein Thema – Israels Schicksal und Rolle im Nahen Osten – in sich so aufgeheizt und symptomatisch für die Unfähigkeit unserer globalen Zivilisation, gerecht zu handeln.
Der entsetzliche Krieg Israels gegen den Libanon im Jahr 2006, die ununterbrochenen Angriffe gegen die Palästinenser im Gazastreifen, der inzwischen praktisch ein Gefängnis ist, und der Bau von Siedlungen in der Westbank haben der Welt vor Augen geführt, wie vollkommen untauglich die alte Maxime ‚Macht ist Recht‘ sein kann. Ich bin fasziniert von der Frage, warum gerade Israel glaubt, dass Macht Recht sei, dass Krieg die einzige Sprache sei, die die Araber verstehen, und warum die Israelis sich weigern, mit ihren Feinden zu reden. Welches Glaubenssystem liegt der Aggression Israels gegen die Palästinenser und seine arabische Umgebung zugrunde? Warum ist es für uns im Westen so schwer, Israel zu kritisieren? Sind auch hier mythische Rechtfertigungen und Begründungen am Werk?
Der 11. September 2001 war für mich der Anfang eines Prozesses, zu verstehen, was hinter dieser grausigen Tat stand, entführte Flugzeuge mitten in das Herz des amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes zu fliegen. Warum war es so leicht für George W. Bush, sich an einem Sonntagnachmittag, am 16. September 2001, auf den Rasen auf der Südseite des Weißen Hauses  zu stellen und die folgenden Worte auszusprechen: ‚Wir müssen mit der Tatsache rechnen, dass diese Übeltäter immer noch existieren. Wir haben schon seit langem keine solche Barbarei mehr erlebt. Niemand konnte sich vorstellen, dass Selbstmordattentäter sich inmitten unserer Gesellschaft verstecken und dann alle am gleichen Tag auftauchen und ihre Flugzeuge – amerikanische Flugzeuge gegen Gebäude voller unschuldiger Menschen lenken – und kein Mitleid zeigen. Das ist eine neue Version einer neuen Art des Bösen. Und wir verstehen. Und das amerikanische Volk beginnt, zu verstehen. Dieser Kreuzzug, dieser Krieg gegen den Terrorismus wird lange dauern.‘
Kommentatoren der damaligen Zeit merkten an, dass Bushs Ausspruch über den Kreuzzug im Rahmen eines aus dem Stehgreif formulierten Kommentars gegenüber einem Journalisten gefallen war. Tatsächlich hatte er intensiv nach dem richtigen Wort gesucht. Und dieses Wort äußerte er aus dem Bauch heraus. Es war ein Hinweis auf einen Kampf zwischen Gut und Böse. Am 29. Januar 2002 verkündete Busch: ‚Staaten wie diese (Iran, Irak, Nordkorea) und ihre terroristischen Verbündeten stellen eine Achse des Bösen dar, die sich anschickt, den Weltfrieden zu bedrohen.‘ Unversehens war Bush in die Jahrhunderte alte Welt der Flüche zurückgefallen – in der man seine Feinde verflucht.
Einer der tieferen Gründe, warum der Westen gegenüber Israel ein offenes Herz hat und sich gegen die Palästinenser  (und in zunehmendem Maß gegen alle Araber) so hartherzig verhält, ist die außerordentliche Rolle, die ‚Israel‘ in der westlichen und christlichen Vorstellung spielt. Lassen Sie mich eine persönliche Geschichte erzählen, um mein Argument zu verdeutlichen. Das Tagebuch der Anne Frank nimmt in der westlichen religiösen Vorstellung seit seiner Veröffentlichung nach dem Krieg bis zum heutigen Tag eine besondere Stellung ein. Das quälende Drama ihres Versuchs, sich vor der Gestapo zu verstecken und  schließlich die Ermordung ihrer Familie grub sich tief in mein jugendliches Gedächtnis ein. Irgendwie empfand ich ihr Leiden so, als sei es mein eigenes. Als ich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt war, las ich Holocaustberichte von Autoren wie Elie Wiesel (Night) der den Schrecken der Eisenbahnzüge beschrieb, die die Juden in die Todeslager trugen, Juden, die zitternd in den ratternden Wagons saßen und nicht wussten, was ihnen bevorstand. Ich las die Bücher jüdischer Theologen, die mich belehrten, dass der Holocaust die entsetzlichste Form menschlichen Leidens sei.
Als ich, wie so viele andere auch, allmählich den Weg vom pietistischen Evangelikalismus zur Befreiungstheologie zurücklegte, las ich staunend Gustavo Gueierezs Liberation Theology. Darin wurde die Exodus-Geschichte als Paradigma für die Befreiungskämpfe der Unterdrückten überall in der Welt beschrieben. Die Spirituals der schwarzen Sklaven bezogen sich auf das Alte Testament und jüdische Vorstellungen, wenn sie sich danach sehnten, dass ‚Moses‘ sie ins gelobte Land der Freiheit führte, fort von der niederschmetternden Verachtung des Pharao. ‚Israel‘ war eine mächtige Metapher – die Juden schienen das Paradigma tiefen Leids zu sein. Alle, die unter den verheerenden Folgen der südafrikanischen Apartheid oder in den Zuckerplantagen oder unter der Brutalität lateinamerikanischer Diktaturen litten – konnten Trost in der Geschichte vom Exodus finden.
Aber ich dachte nicht an den wirklich existierenden Staat Israel, der durch Gewalt und Terrorismus in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im historischen Land Palästina geschaffen worden war. Ebenso wenig beachtete ich das, was tatsächlich passiert war, als die alten Hebräer in das ‚verheißene Land‘ einfielen, nachdem ihr Stammesgott ihnen befohlen hatte, die Amalekiten auszurotten. Was passierte mit diesen? Hatte Jehova den Israeliten nicht befohlen, die Bewohner des Landes zu ermorden, auszuplündern und zu vergewaltigen? Wenn ich heute an Israel und das Tagebuch der Anne Frank denke, wird mir klar, wie recht Edward Said mit seiner Feststellung hatte, dass es Israels ‚Anderen‘, den Palästinensern, niemals gestattet wurde, ihre eigene Geschichtsdarstellung zu haben. Nicht dass das Tagebuch der Anne Frank nicht gelesen werden sollte. Aber die Tatsache, dass wir diese Geschichte in all ihren Varianten immer und immer wieder erzählen, lässt wenig Raum für andere Geschichten. Sie trägt wie ich glaube zu der Vorstellung bei, dass das Leiden der Juden einzigartig ist, anders als andere Arten des Leidens, geheimnisvoll und immun gegen rationales Verstehen.
Ein Tagebuch unserer Zeit hätte vielleicht den Titel Das Tagebuch Asthma al-Mugghayrs, eines sechzehnjährigen Jungen, ein Bericht über das, was ihm und den anderen Kindern und seiner Familie und den Mitgliedern seiner Gemeinde in Rafah und der Umgebung der Stadt passiert ist und noch passiert. Würde Asthma vielleicht zwischen den Ruinen sitzen und aufschreiben, wie er zusah, wie sein dreizehnjähriger Bruder Ahmad mit einer einzigen Kugel in den Kopf getötet wurde, als er gerade die Wäsche von der Wäscheleine nahm und die Tauben fütterte? Der Schuss kam offensichtlich aus einem nahegelegenen Haus, das kurz zuvor von israelischen Soldaten beschlagnahmt worden war. Würde er vielleicht bei Kerzenlicht spät in der Nacht inmitten der Trümmer über das dreizehnjährige Mädchen schreiben, das auf dem Schulweg erschossen wurde? Was würde dieser Jugendliche über den israelischen Kommandeur denken, der das Magazin seines Gewehrs in den Körper eines Schulmädchens entleerte?
Was würde Asthma von der Besatzung halten – einem System militärischer Kontrollstellen, die Städte und Dörfer in Gettos aufteilen, einem System aus Ausgangssperren, Abriegelungen, Razzien, Massenzerstörungen von Häusern und dem Konfiszieren von Grund und Boden? Wie würde er das tägliche Leben und die groteske Mauer beschreiben, die, wenn sie fertiggestellt ist, 400 Meilen lang sein wird – viermal so lang wie die Berliner Mauer? Würde Asthma Jugendgedichte über Einsperrung und Vertreibung schreiben? Würde er in den Wahnsinn getrieben? Würde er gestehen, dass er heimlich den Wunsch hegt, Selbstmordattentäter zu werden?
Vielleicht würde Asthma genau Buch darüber führen, wie viele Kinder getötet werden. Von den Hunderten Kindern, die an Kontrollstellen, auf der Straße, auf dem Weg zur Schule, in ihren Wohnungen getötet wurden, starben zwei Drittel an Schüssen aus Handfeuerwaffen, die Hälfte davon an Wunden an Kopf, Hals und Brust – den typischen Scharfschützen-Verletzungen. Würden diese jungen Männer sich fragen, warum die Palästinenser immer Terroristen sind? Würde er Selbstmord begehen?
Warum ist es im Westen fast unmöglich, über das Leiden von Nicht-Juden zu sprechen? Warum ist das Leid des palästinensischen Volkes in unserem Empfinden und für die Politiker im Westen so bedeutungslos? Eine Antwort darauf lautet mit Sicherheit, dass Christen und Juden eine Mythologie miteinander gemein haben: dass Jehova die Welt erschuf, dass die Juden das auserwählte Volk sind und dass ihnen ein Land versprochen wurde. Was die Bedeutung von Jesus betrifft, sind Christen und Juden offensichtlich unterschiedlicher Meinung. Aber diejenigen, die an ihn glauben, werden damit Teil des universellen ,Volkes Gottes‘, das die Erde erben wird, wenn der Erlöser nach Zion zurückkehrt. Der Islam hat keinen Platz in Gottes großem Plan.
Aber da ist noch etwas anderes. Die USA und Israel sind hinsichtlich der globalen Politik und Weltgeschichte zu einer Einheit verschmolzen. Beide Nationen sind in einzigartiger Weise dazu erkoren,  die Welt zu erlösen, ein leuchtendes Vorbild für die Nationen zu sein. Sie genießen einen Sonderstatus in der kosmischen Geschichte. Israel ist die USA und die USA sind Israel. Die frühen Puritaner waren das ‚neue Israel‘ und Amerika war das verheißene Land. Amerika hat niemals sein historisches Gefühl aufgegeben, etwas Besonderes vor Gott zu sein, eine Nation, die die Welt erlöst. Und wie wir jetzt erkennen, bestand das erträumte Schicksal Israels nicht einfach nur darin, ein Heimatland für enteignete Juden zu sein. Es sollte ein Leuchtfeuer der Zivilisation im barbarischen arabischen Land sein, ein Licht unter den Nationen.
Man kann die gegenwärtige Krise im Nahen Osten nicht verstehen, ohne die religiöse Mythologie und die historischen Umstände zu verstehen, die die Schaffung des jüdischen Staates Israel rechtfertigten. Diese kann ich hier nur kurz beleuchten. Wenn danach befragt, wird vermutlich jeder von uns den in Deutschland verübten Holocaust augenblicklich mit der 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel im historischen Palästina in Verbindung bringen. Dass die Juden ihren eigenen Staat bekamen war der Preis, den Europa für ihr Leiden in den dreißiger und vierziger Jahren bezahlte. Jetzt werden die Juden in Sicherheit leben und weniger antisemitischen Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt sein. Manche von uns mögen sogar glauben, ohne besonders darüber nachzudenken, dass Gott das Land den Juden gegeben habe. Die Palästinenser sind die Amalekiter. Wenn sie sich der Herrschaft der Juden nicht unterwerfen, müssen und werden sie vernichtet werden. Die Grundlage für diese Überzeugung ist das Alte Testament, der gemeinsame heilige Text für Christen und Juden. Einem heiligen Text kann man nicht widersprechen. Im Jahr 1971 erklärte Golda Meir gegenüber der Zeitung Le Monde, die Existenz Israels sei ‚die Erfüllung eines Versprechens, das Gott selbst gegeben hat. Es wäre lächerlich, Rechenschaft für seine Legitimität zu fordern.‘
Aber säkular denkende Menschen könnten vielleicht doch ein paar Fragen stellen und tiefer in die Geschichte eindringen wollen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, sagen uns die Historiker, träumten die unterworfenen Völker Europas (Polen, Tschechen, Armenier, Serben) davon, eigene Nationalstaaten zu gründen. Orte, an denen sie ohne Furcht leben könnten. In diesen Staaten sollten bestimmte ethnische Gruppen, die sich durch eine gemeinsame Sprache, Religion oder ferne Vergangenheit definierten, einen privilegierten Status genießen. Die zionistische Bewegung hat ihre Wurzeln im Europa des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Das Land Zion, die alte Heimat, (tatsächlich existierte Israel während der Jahrtausende langen Geschichte des historischen Palästina nur 60 Jahre lang) war für manche Juden ein mit überschwänglicher Freude erwarteter Ort der Hoffnung. Die Zionisten träumten davon, das ‚verlorene Vaterland‘ zurückzugewinnen. Dieser einflussreiche Traum wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs zur harten Tatsache.
Der Zionismus entstand zeitgleich mit der imperialistischen Expansion Europas und der Aneignung von Ländern in Afrika und Asien. Länder, darunter auch Kanada, wurden im Namen einer höheren Macht, im Namen Gottes und einer höher stehenden Zivilisation okkupiert. Dieses Zusammentreffen ist für unser Verständnis Israels und der Krise im Nahen Osten außerordentlich interessant. Die zionistischen Ideologen wie Moses Hess und Theodor Herzl glaubten (ebenso wie alle israelischen Staatsoberhäupter seit Ben-Gurion), sie hätten ein gottgegebenes Recht, ein Land zu okkupieren, das eindeutig schon von anderen besetzt war. Wenn sie sich dem‚ gottgegebene Recht‘ fügten, akzeptierten sie damit ganz einfach, dass sie in ein leeres Land zogen. Kein Land ohne echte, lebende Menschen, aber ein Land ohne Zivilisation, das nicht ordnungsgemäß bestellt wurde. Anders ausgedrückt, Leute, die das Land anderer Menschen kolonialisieren oder stehlen, (sei es in Afrika, Asien oder im Nass River Valley in British Columbia) haben den Kopf voller Ideen, warum sie dazu berechtigt sind. Sie, die Kolonialherren, werden die ungepflegten Gärten kultivieren und die Wilden in ordentlichen, den Moralgesetzen gehorchenden Gemeinden ansiedeln.
Wie Edward Said ausführte, war das zionistische Projekt Teil  der „großen Enteignungsbewegung des modernen europäischen Kolonialismus und damit auch all der Pläne, das Land zu retten, die Eingeborenen neu anzusiedeln, zu zivilisieren und ihre barbarischen Sitten zu mildern …‘ Um es klar auszudrücken, die Eingeborenen sind auf alle Fälle irrelevant. Sie sind minderwertige Randfiguren. Herzl gab in seinem Tagebuch zu: ‚sowohl die Enteignung als auch die Entfernung der Armen müssen diskret und umsichtig durchgeführt werden.‘ Er war der Meinung, man müsse sie über die Grenze dirigieren und ihnen jede Arbeitsmöglichkeit verweigern. Sie waren vorhanden, aber sie waren keine vollwertigen Menschen. Diese minderwertigen Geschöpfe konnte man in Reservate, in Lager oder Homelands stecken. Man konnte sie mit Steuern belegen, sie zählen und profitabel benutzen. Dann konnte in dem freigewordenen Land die neue Gesellschaft aufgebaut werden. ‚Leer‘ bedeutet also in Wirklichkeit ‚unzivilisiert‘. Jetzt können wir das israelische Schlagwort verstehen, das Palästina als ‚Land ohne Volk für ein Volk ohne Land‘ beschreibt.
Das sind Ben-Gurions Worte. 1937 hatte er erklärt: ‚Wir müssen die Araber vertreiben und ihren Platz einnehmen. Er gab zu, dass es Araber im Land gab, aber er leugnete die Existenz von Palästinensern. In ihrer berühmten Erklärung in der Sunday Times im Jahr 1969 behauptete die damalige Premierministerin Golda Meir: ‚Es gab so etwas wie die Palästinenser nicht. Es war nicht so, als ob es ein palästinensisches Volk in Palästina gegeben hätte, und wir kamen dann und warfen sie raus und nahmen ihnen ihr Land weg. Es gab sie nicht‘. Im gleichen Jahr erklärte der zionistische Führer Menachem Begin den Mitgliedern eines Kibbuz, wie wichtig es sei, die Existenz der Palästinenser zu leugnen. ‚Sei vorsichtig, mein Freund. Wenn du ‚Palästina‘ als Konzept anerkennst, untergräbst du dein Recht, im Kibbuz Ein Haboresh zu leben. Wenn dies Palästina und nicht das Land Israel ist, dann seid ihr Eroberer und nicht Menschen, die das Land pflügen. Ihr sein Eindringlinge. Wenn dies hier Palästina ist, dann gehört es einem Volk, das hier lebte, bevor ihr kamt.‘
Aber die Palästinenser waren nun einmal da. Mindestens 750.000 Palästinenser wurden aus ihren Häusern vertrieben und ihre Dörfer wurden zerstört oder geplündert. Israelische Propagandisten verbreiteten die Geschichte, dass die Palästinenser weggelaufen seien und gesagt hätten: ‚Hier Israel, nehmt unsere Häuser, hier ist der Schlüssel und vergesst nicht, euch um unsere Olivenbäume zu kümmern.‘ Israelische Historiker der Gegenwart wie Benny Morris und Ilan Pappe haben diese unsinnige Behauptung widerlegt. Die israelische Armee und Terrorkommandos haben die Dorfbewohner durch Terror und Massaker vertrieben. Das bezeichnen die Palästinenser als Nakba, die ‚Ursünde‘. Der Prozess der ethnischen Säuberung begann Mitte der vierziger Jahre und hat niemals aufgehört. Überfälle jenseits der Grenzen, Massaker, Siedlungen, das Abschlachten von 20.000 im Libanon, Vertreibungen, Hauszerstörungen, Verhaftungen, Folter und außergerichtliche Tötungen, Schikanen und alle Tricks der Road Map, die niemals umgesetzt wurde. Israel ist ein riesiges Problem in der modernen Welt. Vielleicht sogar ein Anachronismus.
Die zionistische Strategie bestand immer schon darin, den Augenblick beim Schopf zu ergreifen, in dem es möglich sein würde, sich ganz Palästina anzueignen. 1947/48 wurden unter dem Deckmantel des Konflikts 78 % von Palästina zu ‚Israel‘ gemacht. 1967 ergriff Israel die Gelegenheit, die restlichen 22 % von Palästina zu besetzen. Israel rechtfertigte den Krieg von 1967 als Selbstverteidigung, ist also vollkommen schuldlos. Ebenso schuldlos wie an der unverhältnismäßigen Ermordung von Zivilisten in Palästina und dem Libanon in jüngerer Zeit. Israel ist das ewige Opfer, der kleine David, der sich gegen den arabischen Goliath erwehren muss. Israel fängt niemals an, es reagiert nur.
Es gibt weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart irgendeinen Hinweis darauf, dass die israelische Armee, die das Land beherrscht und seine geistige Atmosphäre bestimmt, auch nur die geringste Neigung hat, einen palästinensischen Staat zu dulden. Liberale Kritiker, die gegen die ‚Besatzung‘ in der Westbank und Gaza, gegen die Siedlungen und die Annexion von Jerusalem wettern, haben Recht, aber nur vom palästinensischen Standpunkt aus gesehen. Israel tut alles, was in seiner Macht steht, Tag für Tag, in jeder Minute, ein Stein nach dem anderen, Olivenhain um Olivenheim, eine Ziege nach der anderen, um die Möglichkeit eines palästinensischen Staates zu vernichten. Wenn es einen solchen Staat geben würde, wäre er winzig, fragmentiert, schwach – für die Palästinenser ein Akt der Kapitulation und der Demütigung.
Können wir die Manöver Israels und der USA wirklich nicht durchschauen? Die Hamas wurde in demokratischen Wahlen gewählt. Die USA-Israel und die EU haben alles menschenmögliche getan, um die Hamas (und die Hisbollah) zu vernichten. Gerade dass sie die Menschen nicht vollkommen verhungern ließen. Sie sagen der Hamas ununterbrochen, dass sie die Waffen niederlegen und Israel anerkennen muss. Aber in welchen Grenzen soll Israel denn anerkannt werden? Wo sollen sie gezogen werden? Die Hamas würde sicher zustimmen, zu den Grenzen von 1967 zurückzukehren, wenn gleichzeitig alle Siedlungen aufgelöst würden. Das alles ist nichts als eine bösartige Scharade, die auf der internationalen Bühne aufgeführt wird, und viele fallen darauf herein, einschließlich des rechtsgerichteten kanadischen Premierministers Stephane Harper.
Uns im Westen fällt es schwer, zu sehen, was sich vor unseren Augen abspielt. Ein weiterer logischer Fehler, der ständig begangen wird, ist die Rede von einer ‚Spirale der Gewalt‘ im Nahen Osten. Von unserem Standpunkt in Kanada aus bilden wir uns ein, dass beide Seiten sich schuldig machen: Panzer und F-16 Bomber auf der einen Seite, Selbstmordattentäter auf der anderen. Was sind die Menschen doch für eine gewalttätige Spezies, sagen wir: ein endloser Kreislauf der Gewalt. Aber in der Geschichte von Israel und Palästina kann von moralischem Gleichgewicht keine Rede sein. Es ist die Geschichte der brutalen Enteignung und Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes. Es ist nicht einfach nur eine Art griechischer Tragödie. Dank der Vorstellung einer Spirale von Gewalt erscheint Israel wieder einmal unschuldig. Keiner ist ein unschuldiges Opfer.
An diesem Punkt zeigt sich, dass die Idee, dass Feinde miteinander reden müssen, verfrüht sein kann. Wenn du meinen Schmerz fühlst, fühle ich den deinen. Wenn wir einander nur zuhören könnten. Ich habe gelitten, du hast gelitten. Lasst uns miteinander reden. Aber es ist nicht wahr, dass die Palästinenser die zionistische Geschichte nicht gehört hätten. Sie haben sie bis zum Erbrechen gehört  und haben genug vom jüdischen Leid. Nicht beide Seiten müssen zuhören. Die Israelis und die Juden müssen zuhören. Es gibt Unmengen von Beweisen – von jüdisch-israelischen Kommentatoren – dass die meisten Israelis sich einen Dreck um den Anblick einer Frau mit weißem Kopftuch scheren, die in den Trümmern eines zerbombten Hauses wühlt und nach einer Spur ihres Kindes sucht.
Können Sie sich vorstellen, wie die beiden Seiten in einem Apartheidsregime sich zusammensetzen, miteinander reden und einander zuhören? Wie könnte das Leid des weißen Täters in dem Regime aussehen? Das ist der springende Punkt – es gibt einen Täter, und es gibt ein Opfer, einen Unterdrücker und einen Unterdrückten.
Beerdigungen, stellt der große palästinensische Dichter Mourid Barghouti fest, sind ‚ein integraler Bestandteil im Leben der Palästinenser, wo immer sie auch sind, in unserem Heimatland oder im Exil, in den Tagen der Ruhe und in den Tagen ihrer Intifada, in den Tagen ihrer Kriege und in den Tagen ihres von Massakern durchbrochenen Friedens.‘ Als Yitzhak Rabin so eloquent über die Rolle der Israelis als absolute Opfer sprach und die Augen aller Anwesenden im Weißen Haus feucht wurden, sagte Barghouti, er ‚habe gewusst, dass er die Worte, die er an diesem Tag sprach, lange nicht vergessen werde‘: ‚Wir sind die Opfer von Krieg und Gewalt. Es hat kein Jahr und keinen Monat gegeben, in denen keine Mütter um ihre Söhne trauerten.‘
Barghouti sagte, Rabin habe genau ‚gewusst, wie er von der Welt fordern musste, israelisches Blut zu respektieren, das Blut jedes einzelnen Israelis ohne Ausnahme. Er wusste, wie er fordern musste, dass die ganze Welt die Tränen Israels respektierte, und es gelang ihm, Israel als Opfer eines von uns begangenen Verbrechens darzustellen. Er verdrehte die Fakten, er stellte die Ordnung der Dinge auf den Kopf, er stellte uns als Initiatoren der Gewalt im Nahen Osten dar und sagte was er sagte mit Eloquenz, Klarheit und Überzeugung.‘
Rabin erzählte seine Geschichte von Soldaten, die blutüberströmt aus dem Krieg heimkehrten, und von Beerdigungen, bei denen die Anwesenden nicht in die Augen der trauernden Mütter sehen konnten. In einem bemerkenswerten Abschnitt in seinem brillanten Buch I saw Ramallah argumentiert Barghouti überzeugend, dass ‚es ganz leicht ist, die Wahrheit mit einem einfachen linguistischen Trick zu verfälschen: Man muss seine Geschichte nur mit dem ‚Zweitens‘ beginnen.‘ Genau das hat Rabin getan. Er hat es ganz einfach unterlassen, von dem zu sprechen, was als erstes passiert ist. Wenn man seine Geschichte mit dem ‚Zweitens‘ beginnt, wird die Welt auf den Kopf gestellt. Wenn man die Geschichte mit dem ‚Zweitens‘ beginnt, sind die Pfeile der Indianer die ursprünglichen Verbrecher und die Gewehre des weißen Mannes die ausschließlichen Opfer … Man braucht seine Geschichte nur mit dem ‚Zweitens‘ zu beginnen, und die verbrannten Vietnamesen haben die Menschlichkeit des Napalm verletzt, und Viktor Jaras Lieder sind die Schande und nicht Pinochets Geschosse, die so viele Tausende im Stadium in Santiago töteten. Es genügt, die Geschichte mit dem  ‚Zweitens‘ zu beginnen, und meine Großmutter Umm Ata ist die Verbrecherin und Ariel Scharon ihr Opfer‘ (S. 177-178)
Der Zionismus war und ist für viele Juden ein schöner Traum. Aber in den Augen der Opfer macht der Zionismus kein schönes Bild. Meine Schlussfolgerungen mögen beunruhigend und verstörend sein. Aber meiner Meinung nach erfordern die globale Gerechtigkeit und der Weltfrieden, insbesondere der Frieden im Nahen Osten, dass wir begreifen, dass der Staat Israel sich am Scheideweg befindet. Israel, die erste moderne ‚Demokratie‘, die eine ausgewachsene ethnische Säuberung als Staatsprojekt verfolgt, kann entweder fortfahren, nach einem ‚ethnisch gesäuberten‘ Großisrael zu streben, oder sich in einen einzigen, integrierten binationalen und multikulturellen Staat für Juden und  Araber, Israelis und Palästinenser umwandeln. Meiner Meinung nach ist die Grausamkeit gegenüber dem Libanon und dem Gazastreifen – die Belagerung, das Verursachen des Zusammenbruchs der Stromversorgung, das Bombardieren und Beschießen, die außergerichtlichen Tötungen und Verhaftungen, das Töten und verletzen von Kindern und Babys – nur im Hinblick auf das zionistische Projekt erklärlich, jede Opposition gegen das Ziel der vollständigen Beherrschung des historischen Palästina und des umgebenden Nahen Ostens zu ersticken. Der Hisbollah wurde die elementare Lektion des Zionismus erteilt: Wir haben das Recht, Menschen zu entführen, ihr nicht!
Israel ist ein Anachronismus in unserer zunehmend kosmopolitischen Weltordnung, in der Juden und die jüdische Religion exklusive Privilegien genießen, von denen nicht-jüdische Staatsbürger für immer ausgeschlossen sind. Es ist ein ‚separatistisches Projekt‘ in einer Welt der individuellen Rechte, der offenen Grenzen und des internationalen Rechts. So wird im jüdischen Staat eine Gemeinschaft, die Juden, über alle anderen gestellt, in einem Zeitalter, in dem ein solcher Staat keinen Platz mehr hat.
Die Mauer, die derzeit zwischen Israel und den besetzten Palästinensergebieten errichtet wird, ist ein Symbol für den moralischen und institutionellen Bankrott des Regimes, das sie schützen soll. Man kann keinen Zugang zu anderen aufbauen, wenn man glaubt, diese anderen seien minderwertige Geschöpfe und man selbst überlegen und auserwählt, und das eigene Leid müsse den Vorrang vor dem Leid aller anderen haben. Israels Taten in dieser Welt gegenüber und gegen die Palästinenser – Ausgangssperren, Kontrollstellen, Bulldozer, öffentliche Erniedrigungen, Hauszerstörungen, Landenteignungen, Erschießungen, außergerichtliche Tötungen und die Trennungsbarriere – lassen auf einen Staat schließen, der sein moralisches Zentrum verloren hat und der vermutlich auf seine eigene Nakba zusteuert.
Ich glaube, dass die bedingungslose Unterstützung Israels durch die USA und deren Übernahme der außenpolitischen Grundsätze Israels jede Hoffnung auf einen Frieden im Nahen Osten und im Rest der Welt und jede Möglichkeit, Frieden zu erlangen, zunichtemacht. Der katastrophale Verlust der USA an internationalem politischem Einfluss und der Niedergang ihres moralischen Ansehens sind in hohem Maß auf die bizarre Billigung und finanzielle Unterstützung der Taten Israels im Nahen Osten zurückzuführen. Israel identifizierte sich mit dem ‚Krieg gegen den Terror‘ noch bevor der Rauch, der von den beiden Türmen aufstieg, sich verflüchtigt hatte. Die Palästinenser wurden augenblicklich als ‚Terroristen‘ identifiziert, die eliminiert werden mussten. Auf diese Weise werden die vergangenen und gegenwärtigen Kriege Israels der Welt als unvermeidliche Kriege zur Selbstverteidigung dargestellt.
Die zwingende Frage, die sich Israel und dem Rest der Welt stellt, ist ganz einfach diese: Wird Israel sich selbst neu erfinden, das ausgediente zionistische politische Konzept ad acta legen und statt dessen einen wahrhaft binationalen Staat für alle im historischen Palästina aufbauen? Wir sind an einem moralischen Scheideweg angekommen. In dem neuen, von den USA definierten Nahen Osten dürfen nur Israel und die USA Macht ausüben, nur sie dürfen stark sein, nur sie dürfen sicher sein. Aber in der gerechten Welt, die jenseits der Weggabelung liegt, ist das inakzeptabel.

Dr. Michael Welton ist Professor an der Universität Athabasca. Er ist Autor des Buches Designing the Just Learning Society: a Critical Inquiry.

Counterpunch Wochenendausgabe vom 30. Januar/01. Februar 2015http://othersite.org/michael-welton-israel-als-problem-in-der-modernen-welt/
Englischer Originalartikel: Counterpunch
Kann das Unaussprechliche ausgesprochen werden?

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