Schriftsteller verstehen ungefähr so
viel von Politik wie Maurer, Bankangestellte oder Supermarktkassierer
– manche ziemlich viel und manche jämmerlich wenig. Allerdings
vermögen sie ihre Meinungen besser zu formulieren. Auch sehen sie
sich mit der schmeichelhaften Erwartung konfrontiert, tiefsinniger
als andere Leute zu denken.
All das ist normalerweise harmlos. Als
besonders handlungsmächtig erleben sich Schriftsteller hingegen in
zwei Fällen. Der erste Fall liegt dann vor, wenn sie herausbrüllen,
was ohnehin alle denken (die nationalistischen Schriftsteller im Jahr
1914 zum Beispiel). Der zweite Fall ist der einer stark
kontrollierten Öffentlichkeit, in der nur sie als berufsmäßige
Träumer das aussprechen dürfen, was sonst nicht auszusprechen geht.
Blickt man auf die Monate, in denen die
DDR zusammenbrach, so ist vor allem eine Gruppe interessant: die der
solidarisch-kritischen Reformsozialisten. Von der Ausreisewelle im
August 1989 bis zum Ende jenes Jahres, als sich die deutsche
Einstaatlichkeit abzeichnete, schien diese Gruppe ein
realitätstaugliches politisches Programm zu vertreten.
Diese Autoren sind insofern
interessant, als sie sich zwar auf die demonstrierenden Teile der
DDR-Bevölkerung bezogen, jedoch auf keine institutionalisierte
Macht. Damit sind sie ganz untypisch, denn politisch beachtet wird
gemeinhin, wer über Macht verfügt. Doch es gab zur Position der
Reformsozialisten in der intellektuellen Diskussion während einiger
Monate wenig Konkurrenz.
Auf der einen Seite schwiegen oder
taktierten die der SED nahestehenden Autoren. Eine öffentliche
Verteidigung des bestehenden Staates ist schwer zu finden. Auf der
anderen Seite gab es zwar Schriftsteller, die für Kapitalismus und
eine deutsche staatliche Einheit argumentierten. Aber erstens waren
sie in der DDR in der Minderheit und vertraten zweitens nur das, was
ohnehin in Westmedien dauernd zu lesen war. So war die Zeit der
»Wende« die große Zeit jener Dichter, die einen idealen
Sozialismus herbeisehnten und mehr oder weniger bewusst einen Bezug
auf reale Mächte ablehnten. Um diese Leute soll es hier gehen.
Illusorische Politik
Vorweg dieses: Es ist heute klar, daß
ihre Vorstellungen nicht Wirklichkeit wurden. Hohn und Spott sind im
Rückblick einfach auszuschütten. Allerdings kann man fragen, ob die
nachträgliche Erkenntnis nicht auch schon damals möglich gewesen
wäre. Das ist zum einen ökonomisch begründet. Vom Beginn der
Ausreisewelle im August 1989 an war klar, daß eine politische Reform
im Sinne des sozialistischen Idealismus ohne eine Maueröffnung nicht
zu haben war. Damit aber wurde die Situation wiederhergestellt, die
mit dem Mauerbau 1961 unter Kontrolle gebracht worden war: dass
insbesondere gut (und teuer) ausgebildete Bewohner der DDR einen
Anreiz hatten, ihre Arbeitskraft im Westen zu verkaufen. Ein Staat
mit weitgehend egalitärer Bezahlung hier, einer mit erheblichen
Einkommensdifferenzen dort, keine Sprachprobleme beim Überqueren der
Grenze und die herrschende Klasse des reicheren Staats mit einem
handfesten Interesse, eine attraktive Entwicklung des weniger
produktiven Staats zu verhindern – über die wirtschaftlichen
Konsequenzen einer solchen Lage können keine ernsthaften Zweifel
bestehen.
Das gilt auch fürs Politische. Es gab
in der Geschichte immer wieder zeitweise vergessene Gegenden, wo ein
paar Jahre oder Jahrhunderte lang eine von außen wenig beeinflusste
Entwicklung möglich war, weil sich die mächtigen Akteure auf
lohnendere Ziele konzentrierten. Ein Staat 1989 in Mitteleuropa,
direkt an der Systemgrenze, praktisch schon verlassen von der
Hauptschutzmacht Sowjetunion, gehörte gewiss nicht dazu. Der
Imperialismus verwendete beträchtliche Kräfte darauf, die nach
außen wenig attraktiven realsozialistischen Staaten der 1980er Jahre
zu bekämpfen. Der Gedanke, er hätte einen ausstrahlungskräftigen
Sozialismus auf dem Gebiet der DDR tolerieren können, ist naiv.
Die DDR war 1989 in einer Lage, in der
nur entschlossene Abwehrbereitschaft vielleicht noch retten konnte.
Die Idee, dass ausgerechnet eine Auflösung von Herrschaftsstrukturen
ihr den Sozialismus garantieren könnte, war einerseits völlig
absurd. Andererseits werden Absurditäten nie ohne Gründe
wirkmächtig.
Das Blöde setzt sich dann durch, wenn
das Gute versagt. Künstler scheuen nicht die Gewalt (das maoistische
China hatte im Westen nie mehr Anhänger als während der
barbarischen Kulturrevolution); was Künstler scheuen, ist die
Schwäche. Der Staat DDR und die Partei SED agierten seit geraumer
Zeit defensiv. Sie hoben punktuelle wirtschaftliche Erfolge hervor
und erklärten nicht das konfliktentscheidende relative Zurückbleiben
hinter dem westlichen Gegner. Im Spätsommer 1989 konnten sie keine
überzeugende Erklärung für die massenhafte Ausreise vermitteln.
Das Vorgehen der Volkspolizei gegen Demonstrationen Anfang Oktober
war zu schwach, um sie zu stoppen, doch hart genug, um die Empörung
anzuheizen.
Als am 17. Oktober Erich Honecker als
Generalsekretär der SED von Egon Krenz abgelöst wurde, erschien
auch dies lediglich als Rückzugsbewegung. Nun wurde zwar deutlich,
daß eine gewaltsame Lösung kaum mehr zu fürchten war. Die Politik
der Partei wirkte jedoch immer noch ausschließlich reaktiv, mehrere
Autoren mutmaßten: opportunistisch. Die Initiative blieb deshalb bei
den Reformkräften, die – scheinbar siegreich – die Macht von
Staat und Partei abräumten und damit tatsächlich ihr eigenes Grab
schaufelten.
Organisationspolitik
Schriftsteller agieren einzeln, aber
auch in Verbänden. Letztere, die zuvor trotz mancher Konflikte die
Vorgaben der SED umgesetzt hatten, entwickelten angesichts der
offensichtlich hilflosen Partei stärker eigene Impulse. Den Anfang
machte dabei am 14. September der Bezirk Berlin des
Schriftstellerverbands. Wenige Tage nach Gründung des
oppositionellen Neuen Forums und nach der Grenzöffnung durch Ungarn,
aber noch vor Beginn größerer Demonstrationen in der DDR, gingen
die Autoren davon aus, daß die Ursachen für die Abwanderung »in
nicht ausgetragenen Widersprüchen im eigenen Land« lägen.
Entsprechend forderten sie einen »demokratischen Dialog auf allen
Ebenen«.1
Das markierte einerseits Distanz von
Partei und Regierung, verzichtete andererseits auf eine politische
Zuspitzung. Ein Dialog kann zu konkreten Veränderungen führen, muss
dies aber nicht. Indem die Schriftsteller gleichzeitig die »kritische
Auseinandersetzung mit westlichen Massenmedien« forderten, machten
sie deutlich, daß es ihnen nicht um einen Kampf gegen die DDR ging.
Eine SED-Politik der Machtsicherung hätte angesichts dieser Lage
zwei Möglichkeiten gehabt: entweder eine entschlossene Repression
oder ein Dialog mit den sozialistischen Teilen der Opposition, mochte
auch ein solches Gespräch nur pro forma und zwecks Zeitgewinn
geführt werden.
Tatsächlich entschloss sich die
Parteiführung, das Angebot anzunehmen. In der Berliner
Zeitung war als Antwort auf den Schriftstellerverband zu lesen:
»Die eingeleitete Wende, die es durch konkrete Taten weiter zu
untermauern gilt, braucht auch fürderhin und jetzt erst recht das
Wort der Autoren unseres Landes. Die notwendige Erneuerung unserer
Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie von den breitesten Schichten
des Volkes getragen wird.« Diese Erklärung von Egon Krenz hatte den
einzigen Schönheitsfehler, dass sie erst am 1. November
veröffentlicht wurde. Nach sechs ereignisreichen Wochen standen
andere Forderungen auf der Tagesordnung.
Die Auseinandersetzungen zwischen
Demonstranten und Polizisten Anfang Oktober, die immer größer
werdenden Protestveranstaltungen führten zu einer Konkretisierung
des Verlangten. Noch am 22. September hatte das Präsidium des
P.E.N.-Zentrums DDR zum 40. Jahrestag der Staatsgründung eine
Erklärung herausgegeben, die allenfalls indirekt als Kritik lesbar
war. Die DDR sei immer ein Ort gewesen, wo es möglich war, »sich
gegen rassistische Vorurteile zu wenden, nationalen Größenwahn
zurückzuweisen und die Freiheit des Wortes zu verteidigen« – hier
kam es auf den letzten der Punkte an und darauf, seine Einlösung für
die Zukunft zu garantieren. Erklärungen von Organisationen des
Schriftstellerverbands benannten dagegen in zunehmender Schärfe das,
was erst eingelöst werden sollte.
Am 4. Oktober sahen die Schriftsteller
aus dem Bezirk Halle »deutliche Anzeichen dafür, daß das
Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Bürgern beschädigt ist«.
Betonten hier Autoren wie Erik Neutsch Gesprächsbereitschaft als
Voraussetzung einer »Entwicklung des Sozialismus«, so forderte der
Bezirksverband Potsdam am 10. Oktober eine gänzlich neue
Medienpolitik. Einen Tag später formulierte dann das Präsidium des
Schriftstellerverbands eine Mitteilung, in der von einer
»revolutionären Reform« die Rede war. Dieses Begriffsungetüm
erklärt sich daraus, dass die Verfasser den »Übergang« zu der im
»Kommunistischen Manifest« geforderten »Assoziation, worin die
freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie
Entwicklung aller ist«, verlangten.
Das bezeichnet den Kommunismus, also
einerseits eine Gesellschaft, die den Interessen des in der
»Mitteilung« auch benannten westlichen Klassenfeinds klar
widerspricht. Andererseits ist in dieser Perspektive der Sozialismus
als eigene Gesellschaftsordnung, die aus realpolitischen Gründen
viel länger dauerte, als bei der russischen Oktoberrevolution 1917
erhofft, abgewertet. Der unter den Bedingungen von 1989 utopistische
Vorgriff ging in der Folge einher mit dem Rückbezug auf einen
bürgerlichen Menschenrechtskatalog. Wenn am 16. Oktober der
Bezirksverband Dresden nicht nur »Presse-, Rede- und
Versammlungsfreiheit« forderte, sondern auch das »Recht zur Bildung
von Vereinigungen«, so ließ sich dieses zwar auch im Kommunismus
vorstellen. Es bedeutete aber jedenfalls einen Angriff auf den
sozialistischen Staat, der angesichts seiner Bedrohung von außen und
innen die Gründung von Organisationen gerade zu kontrollieren
versuchte.
Das von den Dresdnern geforderte
Wahlsystem, »das dem mündigen Bürger das Recht der freien Wahl
unter Parteien und Personen sichert«, lief dagegen auf eine
repräsentative Demokratie hinaus, die mit der kommunistischen
»freien Assoziation« und dem damit verbundenen Absterben des Staats
wenig zu schaffen hat. Linksradikalismus und rechte Reformforderungen
sind zwar inhaltlich nicht vereinbar, trafen sich allerdings in der
Ablehnung des sozialistischen Staats, wie er 1989 bestand.
Politische Konkretisierung
Den Machtverschiebungen der folgenden
Wochen entsprechend trat in den Deklarationen die Forderung nach
Elementen bürgerlich-demokratischer Rechtsordnung in den
Vordergrund. Am 30. Oktober schlug die Mehrheit des P.E.N.-Präsidiums
– darunter Friedrich Dieckmann, Stephan Hermlin und Helga
Königsdorf – ganz andere Töne an als einen guten Monat zuvor. Nun
forderte sie eine »Vielfalt politischer Meinungen und
Organisationsformen, deren Koordination kein obrigkeitliches Monopol
sein darf, sondern sich als demokratischer Prozess herstellen muss.«
Mit Hinweis auf die Verfassung der DDR forderten die Unterzeichner
auch »Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht auf
Vereinigung und die Unantastbarkeit der Persönlichkeit« zu
garantieren. Von einer führenden Rolle der SED konnte in dieser
Konzeption nicht mehr die Rede sein.
Heinz Kamnitzer, Präsident des
P.E.N.-Zentrums, war nicht bereit, diese Erklärung mitzutragen. Er
gab nicht nur sein Amt ab, sondern äußerte öffentlich im Neuen
Deutschland, dass der P.E.N. mit dieser Stellungnahme zur
Staatsverfassung der DDR seine Kompetenzen überschritten habe.
Kamnitzers kurze Wortmeldung ist insofern eine Ausnahme, als von
Autoren, die den Zerfall der Parteimacht mit Sorge sahen, sonst wenig
zu hören und zu lesen war. Andererseits ist sie in ihrer defensiven
Grundhaltung bezeichnend. Kamnitzer – der in den Weißenseer
Blättern seine Position inhaltlich erläuterte – war in der
Parteizeitung dazu gezwungen, sich auf Formalia zurückzuziehen. Dies
war angesichts des raschen Niedergangs von Partei und Staat keine
brauchbare Verteidigungsstellung. Die zentrale inhaltliche Frage –
nämlich was Organisationsfreiheit angesichts der Grenzlage der DDR
und einer interventionsbereiten Bundesrepublik bedeuten musste –
sprach auch Kamnitzer nicht an.
So zeichnete sich in den Stellungnahmen
von Institutionen in den Wochen vor der Maueröffnung eine zunehmend
grundsätzliche Kritik ab, verbunden mit weitreichenden politischen
Forderungen. Schriftsteller haben jedoch auch andere Möglichkeiten,
sich zu dem Geschehen zu positionieren, vielleicht sogar
einzugreifen. Angesichts einer schnellen politischen Entwicklung
taugt dabei nicht, was doch ihr Hauptjob sein sollte: Romane,
Erzählungen, Theaterstücke zu schreiben. Vielmehr treten andere
Genres in den Vordergrund: Reden, Interviews, Essays. Schriftsteller
können auch bei Veranstaltungen mitwirken und dabei ihr
künstlerisches Ansehen in politischen Einfluss ummünzen.
Dabei zeigen sich durchaus
unterschiedliche Strategien. Auf der einen Seite hob Christa Wolf in
ihren Reden und Auftritten immer wieder die Bedeutung einer neuen
Sprache für ein erneuertes Miteinander hervor. Von Schriftstellern
erwartet man qua Beruf, dass sie besonders genau mit Sprache umgehen
können; zudem hatte sich Christa Wolf der Öffentlichkeit als
besonders sensibel und empfindsam dargestellt, so dass ihr
politisch-literarisches Programm jetzt als ideales Gegenbild zu einer
erstarrten Formelsprache der Macht erscheinen konnte. Während Wolf
auf die Identität von Dichtung und Politik zielte, hielt auf der
anderen Seite Christoph Hein die Tätigkeiten klar getrennt. Im
November lehnte er einen Beitrag für einen im bundesrepublikanischen
Rowohlt-Verlag geplanten Sammelband ab: Er sei ganz durch
»›berufsfremde‹ Arbeiten« in Anspruch genommen. Überhaupt
erscheine ihm praktische Arbeit nun wichtiger als Resolutionen oder
Absichtserklärungen. Allerdings dürfte Heins Beruf das Gewicht
seiner Tätigkeiten in der Kommission vergrößert haben.
Wer absagt, muss zunächst einmal
überhaupt eine Anfrage erhalten haben. Es ist eine überschaubare
Gruppe prominenter Autoren, die sich immer wieder in Medien mit
großer Reichweite zu Wort melden konnte. Einige von ihnen hatten die
Möglichkeit, auch zeitnah in Westmedien zu publizieren – Heiner
Müller, Christa Wolf, Volker Braun, Stefan Heym, Christoph Hein,
Günter de Bruyn und (in Ausnahmefällen) Hermann Kant. Auch wenn Die
Zeit oder Der Spiegel in der DDR bis zum 9. November
nur schwer erhältlich waren, Westradio und -fernsehen wurden
verfolgt, und die berichteten über diese Beiträge.
Von den eben Genannten gehörten zwei
im Herbst 1989 nicht zur Kerngruppe der Reformsozialisten. Auf der
einen Seite ist dies Günter de Bruyn, der schon früh für eine
Umwandlung der DDR in eine bürgerliche Demokratie und bald auch für
die deutsche Einigung optierte. Auf der anderen Seite forderte
Hermann Kant zwar wie die anderen Schriftsteller von der Führung der
DDR Reformen ein. In einer Umfrage der Zeit vom 22.
September 1989, ob der Sozialismus am Ende sei, benannte er jedoch
hellsichtig die Folgen eines möglichen Scheiterns. Eine
ausschließlich kapitalistische Welt sei eine Welt des Krieges und
der Zerstörung sozialer Zusammenhänge. Kant beschrieb damit im
Vorgriff ziemlich genau das, was wir seit 25 Jahren erleben.
Die anderen Autoren hofften auf einen
erneuerten Sozialismus und vergaßen im Protest gegen Probleme im
Bestehenden die Gefahr, die vom Westen ausging. Zwar nannten sie hin
und wieder das Risiko einer feindlichen Übernahme. Doch der
Gesichtspunkt blieb entweder randständig oder wurde sogar zum
Argument, dass der Sozialismus, sollte er überleben, ganz anders
werden müsse als bisher. Unter diesem Blickwinkel erschien der
demonstrierende Teil der Bevölkerung als Hoffnung, wenn nicht gar
als Erfüllung linker Versprechen.
Ein Schlagwort, das in fast allen Reden
und Essays von Oktober an vorkam, ist in diesem Zusammenhang
»Revolution«. Die Autoren waren derart begeistert, dass überhaupt
etwas geschah, und gar noch von unten, dass sie nicht nach den Folgen
fragten und danach, wer davon den Nutzen hatte. Doch eine Revolution
muss sich gegen etwas richten. Das Zauberwort lautete hier
»Stalinismus«, und die Fixierung darauf glich einer Obsession. In
immer neuen Varianten wurden die Verhältnisse in der DDR als
stalinistisch gegeißelt.
Der Vorwurf war dabei von allem
historisch Konkreten gesäubert. Weder erläuterten die Autoren,
welche von Stalins Maßnahmen unvermeidbar gewesen waren, welche auf
einem – vielleicht vermeidbaren – Irrtum beruht hatten und ob es
Befehle gegeben hatte, die als Verbrechen zu verurteilen sind. Ebenso
wenig findet man eine Begründung, wieso die Herrschaftspraxis in der
DDR, die von ihrer Gründung an erkennbar milder als die in der
Sowjetunion der Stalinzeit war, dennoch stalinistisch sein soll. Das
Wort Stalinismus hat in all diesen Texten überhaupt keinen Inhalt;
vielmehr bezeichnet es rhetorisch Feinderklärung. Den
reformsozialistischen Autoren ging es, abgesehen von einigen
Psychologisierungen, nirgends darum, die politischen Zwänge und
Beweggründe der Führungspersonen von Staat und Partei
nachzuvollziehen und sich auf dieser Basis politisch mit ihnen zu
verständigen. Vielmehr identifizierten sie sich ganz mit dem Protest
von unten.
Politisches Scheitern
Getragen von einer solchen
Begeisterung, gelangen den Schriftstellern Auftritte, bei denen sie
sich im Einklang mit der historischen Bewegung fühlen konnten. Die
Podiumsdiskussion »DDR – wie ich sie träume« am 24. Oktober im
Berliner Haus der jungen Talente und vier Tage später eine
Gemeinschaftsaktion Berliner Künstler in der Erlöserkirche unter
dem Titel »Wider den Schlaf der Vernunft« – das waren
Gelegenheiten, sich im Kreis von Gleichgesinnten der eigenen
Bedeutung zu vergewissern.
Den Höhepunkt solcher Aktivitäten
bildete die Demonstration für Pressefreiheit auf dem Berliner
Alexanderplatz am 4. November. Die Reden von Christa Wolf, Christoph
Hein und Stefan Heym wurden mit viel Applaus belohnt; nur Heiner
Müller, unzureichend vorgestellt, wurde ausgepfiffen, als er statt
eines eigenen Beitrags einen Gewerkschaftsappell verlas. Insgesamt
jedoch bezeichnet dieses Datum den Höhepunkt einer Einheit von
Intellektuellen und Protest.
Wie gering der gefühlte Einfluss der
Dichter auf die Ereignisse war, das zeigt eine Erklärung, die
Christa Wolf im Namen von Künstlern und Vertretern von fünf
Bürgerinitiativen am 8. November im DDR-Fernsehen abgab, also am
Vorabend der Maueröffnung. Hier heißt es: »Was können wir Ihnen
versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes
Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen
Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie
Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit.«
Man möge für Ideale auf den erhofften
Wohlstand verzichten und in der DDR bleiben – dieser kaum
massenwirksame Appell deutet schon die Defensive an, in die die
reformsozialistischen Autoren, als sie nach dem Anschluss nicht mehr
gebraucht wurden, sämtlich gerieten. Wollte man sich als Kritiker
der DDR profilieren, so war dafür die mindeste Voraussetzung, dass
es überhaupt eine DDR gab. Insofern Wolf, Hein, Heym, Braun und
Müller, wahrscheinlich wider Willen, die Abschaffung dieses Staates
beförderten, schafften sie selbst ihre politisch relevante Position
ab.
Nachdem die SED keinen Rückhalt mehr
in Moskau sah und die Demonstrationen in der DDR die Maueröffnung
erzwungen hatten, klärten sich die Machtverhältnisse. Schon am 8.
November hatte Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Bericht zur »Lage
der Nation« den westdeutschen Gesamtvertretungsanspruch erneuert und
ein »Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen« eingefordert. An
die Stelle des »Wir sind das Volk« trat nun: »Wir sind ein Volk«
– eine in sich stimmige Verschiebung, denn die zweite Parole
entsprach den Verhältnissen, die mit der ersten hergestellt worden
waren. Was folgte, war nur noch die Abwicklung.
Die Autoren bemerkten die Gefahr
durchaus, hielten jedoch eine sozialistische Entwicklung nach wie vor
für möglich. Der Aufruf »Für unser Land« vom 28. November, der
u. a. von Braun, Heym und Wolf unterzeichnet war, stellt zwei
gegensätzliche Wege vor. Entweder komme es unter Druck
»einflussreicher Kreise aus Wirtschaft und Politik in der
Bundesrepublik« zu einem Ausverkauf der »materiellen und
moralischen Werte«, wobei »über kurz oder lang die Deutsche
Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt« werde –
oder es gelinge, »in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu
entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des
einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt
gewährleistet sind«.
Natürlich plädierten die
Unterzeichner für die letztere Version und für eine Besinnung »auf
die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst
ausgegangen sind«. Aber dafür war es bereits zu spät. In dem im
Juli 1990 entstandenen Gedicht »Das Eigentum« konstatierte Volker
Braun dann: »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. / KRIEG
DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN / Ich selber habe ihm den Tritt
versetzt. / Es wirft sich weg und seine magre Zierde / Dem Winter
folgt der Sommer der Begierde.«
1 Der Schriftstellerverband der
DDR hat 1990 in den ersten drei Heften seiner Zeitschrift „Neue
Deutsche Literatur“ eine Zusammenstellung von Dokumenten aus den
Herbstmonaten publiziert, auf die sich die folgende Darstellung
stützt.
Kai Köhler schrieb auf diesen Seiten
zuletzt am 22.10. über deutsche Dichtung im Ersten Weltkrieg.
Quelle: .
https://www.jungewelt.de/thema/»
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