Wednesday, October 8, 2014

"Westliche Interventionen und Expansionsinteressen des NATO-Partners Türkei verantwortlich für dramatische Situation in der nordsyrischen Stadt Kobane German Foreign Policy .COm.


Ein verzweifelter Abwehrkampf

08.10.2014

ANKARA/BERLIN

(Eigener Bericht) - Westliche Interventionen und Expansionsinteressen des NATO-Partners Türkei sind verantwortlich für die dramatische Situation in der nordsyrischen Stadt Kobane. Die Stadt steht offenbar vor dem Fall, wenngleich der verzweifelte Abwehrkampf gegen die Terrortruppe "Islamischer Staat" ("IS") am Dienstagabend noch andauerte. Zahllose Todesopfer sind bereits jetzt zu beklagen. Während der IS, der gegenwärtig im Begriff ist, Kobane zu erobern, sein Erstarken letztlich Interventionen des Westens in Nah- und Mittelost verdankt, sind türkische Expansionskonzepte die Ursache dafür, dass zwar irakisch-kurdische Milizen unterstützt werden - auch von der Bundeswehr -, nicht jedoch syrisch-kurdische Kämpfer gegen den IS. Die Konzepte, die im Westen auf Sympathie stoßen, spielen mit dem Gedanken, einen Staat "Kurdistan" aus dem Irak herauszubrechen und ihn eng an die Türkei zu binden oder ihn gar an sie anzuschließen - mit dem Hintergedanken, auf diese Weise proiranische Kräfte zu schwächen und sunnitische Kräfte gegen Iran in Stellung zu bringen. Die strategischen Großplanungen im Sinne westlicher Interessen haben jetzt zu der furchtbaren Lage in Kobane geführt.
Vor dem Fall
Der verzweifelte Abwehrkampf syrisch-kurdischer Einheiten gegen den blutigen Vormarsch der Terrortruppe "Islamischer Staat" ("IS") in der syrischen Grenzstadt Kobane hielt am Dienstagabend an. Beobachter gaben dem Widerstand gegen das Vordringen des IS jedoch kaum noch eine Chance. Dem IS war es gelungen, Teile der Stadt zu erobern; zuletzt rückten seine Milizionäre auf das Zentrum von Kobane vor. Offiziellen Angaben zufolge sind bereits mehr als 400 Menschen bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Beobachter halten sogar eine weitaus höhere Zahl an Opfern für wahrscheinlich. Zudem sollen sich Tausende Zivilisten noch in der Stadt aufhalten. Warnungen vor einem Massaker an ihnen machen die Runde.
Westliche Interessen
Der brutale Angriff des IS zeigt einmal mehr die furchtbaren Folgen der westlichen Nah- und Mittelostpolitik, die mit der Zerstörung des Irak und mit dem Befeuern des syrischen Bürgerkriegs die Voraussetzungen für das rasche Erstarken der Terrortruppe erst geschaffen hat (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Er legt darüber hinaus die Interessen wie auch die Interessengegensätze im westlichen Bündnis offen, die das Kriegshandeln leiten: Während die irakisch-kurdischen Streitkräfte, die mit Ankara kooperieren, für den Kampf gegen den IS aufgerüstet und trainiert werden - insbesondere von der Bundeswehr -, unterbleibt eine vergleichbare Unterstützung für den syrisch-kurdischen Abwehrkampf. Ursache sind strategische Großplanungen der Türkei, die im Westen auf Interesse stoßen - und Ankara veranlassen, den syrischen Kurden jede Hilfe zu versagen.
Türkische Expansionskonzepte
Den Hintergrund der türkischen Großplanungen hat in einer Reihe von Analysen Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), offengelegt. Demnach befindet sich der Angelpunkt der Beziehungen zwischen Ankara und den kurdischsprachigen Kräften der gesamten Region in Erbil. Die dortige, von Masud Barzani geführte Autonomieregierung kooperiert seit Jahren recht eng mit der Türkei - auf der Basis des für beide Seiten höchst profitablen Tausches irakisch-kurdischer Energieträger gegen türkische Industrieprodukte. Nachdem der Zerfall Syriens auch dessen kurdischsprachige Gebiete faktisch freigesetzt hat, hat Ankara weit ausgreifende Expansionskonzepte entwickelt. Anfang 2013 äußerte etwa der damalige Außenminister und heutige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, es sei "an der Zeit", die 1916 im Nahen Osten geschaffenen "künstlichen Grenzen zu überdenken". Ihm nahestehende Kreise sprächen ausdrücklich "von der Möglichkeit, dass in fünf bis zehn Jahren die kurdischen Gebiete des Irak und Syriens Teil einer politisch vollkommen neu strukturierten föderalen Türkei sein könnten", schrieb im April 2013 die SWP.[2] Von derlei Überlegungen ist Ankaras Syrien-Politik nicht mehr zu trennen.
Gegen Iran
In diesem Zusammenhang sind strategisch motivierte Plädoyers im Westen von Bedeutung, die Neuziehung staatlicher Grenzen in der gesamten Region ernsthaft zu diskutieren. Eine komplette "Neuordnung" biete die Chance, Iran zu schwächen, heißt es - denn die Zerschlagung Syriens und des Irak gehe zu Lasten der dortigen proiranischen Regierungen und ermögliche es, etwa durch das Herausbrechen eines Staates "Kurdistan" ein "sunnitisch-säkulares Gegengewicht" gegen das schiitische Teheran zu schaffen. Derlei Pläne wurden zuletzt in Washington öffentlich erwogen (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Dabei gingen sie in vielerlei Hinsicht durchaus mit den türkischen Expansionskonzepten konform.
Gegen PKK und PYD
Komplikationen ergaben sich allerdings bei den Planungen Ankaras, weil aus türkischer Sicht eine Einbindung der bei der kurdischsprachigen Bevölkerung nach wie vor höchst einflussreichen PKK unumgänglich war. Ankara startete deshalb Ende 2012 umfassende Gespräche mit ihr - mit dem Ziel, sie gegen Zusage einer gewissen Föderalisierung der Türkei zum Verzicht auf die Gründung eines kurdischen Staates zu bewegen. Wie die SWP letztes Frühjahr festhielt, verliefen die Gespräche zunächst sehr erfolgreich (german-foreign-policy.com berichtete [4]), kamen nach einer Weile jedoch ins Stocken - aufgrund von Uneinigkeit darüber, wie weit die Föderalisierung oder gar Autonomie für die Kurden reichen sollte. Diverse taktische Manöver schlossen sich an, mit denen Ankara die widerspenstige PKK und die eng mit ihr verbündete PYD - die dominante Kraft in Nordsyrien - zu schwächen suchte, um die Verhandlungsposition der PKK zu unterminieren. Dazu gehörte eine enge Kooperation mit dem in Erbil regierenden Mustafa Barzani, einem alten Gegner von PKK und PYD, ebenso wie die "Unterstützung zuerst moderat islamistischer, dann auch salafistischer und dschihadistischer Gruppen in Syrien", die "immer auch auf die Verhinderung kurdischer Autonomie unter Führung der PYD/PKK in Syrien gerichtet" war, wie SWP-Experte Seufert berichtet.[5] Davon profitierte insbesondere der IS. Dies wurde vom Westen toleriert - in der Hoffnung, auf diese Weise Assads Sturz beschleunigen zu können (german-foreign-policy.com berichtete [6]).
Interessendivergenzen
Deckten sich bis vor kurzem die Interessen der Türkei und des Westens in puncto Tolerierung oder gar Förderung des IS, so ergeben sich klare Differenzen, seit der IS westliche Positionen offen bedroht. Haben die USA und die Staaten der EU inzwischen den Krieg gegen die Terrortruppe eröffnet, so bleibt Ankara bislang faktisch noch außen vor. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erklärt dazu: "So, wie die Türkei gegen die Terrororganisation Isis (IS) ist, so ist sie auch gegen die Terrororganisation PKK."[7] Leidtragende des komplexen Geflechts aus westlichen Interventionen und Neuordnungsplänen, türkischen Expansionskonzepten und den Widersprüchen zwischen alledem ist aktuell die Bevölkerung von Kobane, die bereits jetzt zahllose Todesopfer zu beklagen hat, zahllose weitere befürchten muss - und damit gewiss nicht die letzte Leidtragende äußerer Einmischung im Nahen und Mittleren Osten ist.

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