Monday, August 25, 2014

Ungeheuerlich und empörend

von Noam Chomsky
1. August 2014
Zweierlei Maß
Fast jeder Tag bringt neue Nachrichten von fürchterlichen Verbrechen, aber einige sind derartig abscheulich, grauenhaft und bösartig, dass sie alles andere in den Schatten stellen. Einer dieser seltenen Vorfälle ereignete sich am 17. Juli, als Malaysian Airlines MH17 im Osten der Ukraine abgeschossen und 298 Menschen getötet wurden.

Der Tugendwächter im Weißen Haus brandmarkte dies als eine „Gräueltat unvorstellbaren Ausmaßes“, die er „russischer Unterstützung“ zuschrieb. Seine UN-Botschafterin donnerte: „Wenn 298 Zivilisten beim entsetzlichen Abschuß eines Verkehrsflugzeugs getötet werden, dürfen wir uns bei der Suche nach dem Verantwortlichen durch nichts aufhalten lassen und ihn seiner gerechten Strafe zuführen“. Darüber hinaus forderte sie Putin auf, die schamlosen Bemühungen zu beenden, seine eindeutige Verantwortung von sich zu weisen.

Wahr ist, dass „der irritierende kleine Mann“ mit dem „rattenhaften Gesicht“ (Timothy Garton Ash, britischer Historiker) eine unabhängige Untersuchung gefordert hatte, aber dies natürlich nur wegen der Sanktionen, die die USA verhängt hatten - das einzige Land, das dazu den Mut gehabt hatte, während die Europäer sich ängstlich wegduckten.

Auf CNN versicherte der frühere Botschafter in der Ukraine, William Taylor, der Welt, dass der irritierende kleine Mann „eindeutig verantwortlich für den Abschuß dieses Fluzeugs“ sei. Wochenlang wurde in Titelgeschichten über den Kummer der Familien berichtet, das Leben der ermordeten Opfer, die internationalen Bemühungen, an die Leichen heranzukommen, die Wut über das entsetzliche Verbrechen, das „die Welt schockiert“, wie die Medien in grausigen Details berichteten.

Jedem informierten Menschen, und ganz gewiß jedem Redakteur und Kommentator, fiel sofort jenes andere Ereignis ein, als ein Flugzeug mit einem vergleichbaren Verlust an Leben abgeschossen wurde: Iran Air 655 mit 290 Toten, darunter 66 Kinder, die in iranischem Luftraum auf einer eindeutig identifizierten kommerziellen Flugroute zum Absturz gebracht wurde. Dieses Verbrechen wurde weder mit „amerikanischer Unterstützung“ begangen, noch war sein Urheber je ungewiß. Es war der Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes, der im Persischen Golf in iranischen Gewässern operierte.

Der Kapitän eines in der Nähe kreuzenden US-Schiffs, David Carlson, schrieb in „U.S. Naval Proceedings“, dass er „es kaum glauben konnte“, als „die Vincennes ihre Absicht bekundete“, ein eindeutig ziviles Flugzeug anzugreifen. Er vermutete, dass der Lenkwaffenkreuzer - „Robo Cruiser“, wie die Vincennes wegen ihres aggressiven Verhaltens genannt wurde -, „das Bedürfnis hatte, die Funktionstüchtigkeit von Aegis (dem hochentwickelten Flugabwehr-system des Kreuzers) im Persischen Golf zu beweisen und dass sie sich nach einer Gelegenheit sehnten, ihr Zeug zu demonstrieren“.
Zwei Jahre später wurde dem Kapitän der Vincennes und dem für die Luftabwehr verantwortlichen Offizier ein Orden [Legion of Merit award] verliehen für „die außerordentlich verdienstvolle Ausführung eines hervorragenden Dienstes“ [in the performance of outstanding service] und für die „besonnene und professionelle Atmosphäre“ bei der Zerstörung des iranischen Airbus, der in der Auszeichnung nicht erwähnt wurde.
Präsident Ronald Reagan beschuldigte die Iraner und verteidigte die Aktion des Kriegsschiffs, das „bestehende Anordnungen und breit veröffentlichte Verfahrensweisen“ befolgt habe. Sein Nachfolger, Bush I., erklärte: „Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten ent-schuldigen – die Fakten sind mir egal....Ich bin kein Entschuldigt-bitte-Amerika-Typ“.
Kein Abstreiten der Verantwortung hier, wie bei den Barbaren im Osten.
Es gab seinerzeit kaum Reaktionen: keine Empörung, keine verzweifelte Suche nach den Opfern, keine leidenschaftliche Anprangerung der Verantwortlichen, keine eloquenten Klagen des US-Botschafters bei der UNO über den „unermeßlichen und herzzerreißenden Verlust“, als das Flugzeug abgeschossen wurde. Iranische Verurteilungen wurden gelegentlich registriert, aber als „die üblichen Angriffe auf die Vereinigten Staaten“ (Philip Shenon, New York Times) abgetan.
Kein Wunder also, dass dieses unbedeutende frühere Ereignis den amerikanischen Medien jetzt nur hie und da eine Erwähnung wert war während des gewaltigen Aufruhrs wegen eines wirklichen Verbrechens, in das der teuflische Feind möglicherweise indirekt verwickelt war.

Eine Ausnahme gab es in der Londoner Daily Mail, wo Dominick Lawson schrieb, daß - obwohl “Putins Apologeten” den Angriff auf das iranische Flugzeug anführen könnten -, der Vergleich eher unsere hohen moralischen Werte zeige im Gegensatz zu den erbärmlichen Russen, die ihre Verantwortung für MH 17 zu leugnen versuchen, während Washington sofort erklärt habe, dass das US-Kriegsschiff das iranische Flugzeug – zu Recht - abgeschossen habe. Kann es einen überzeugenderen Beweis für unseren Edelmut und ihre Verworfenheit geben?

Wir wissen, warum Ukrainer und Russen sich in ihren Ländern befinden, aber man könnte sich die Frage stellen, was genau die Vincennes in iranischen Gewässern verloren hatte. Die Antwort ist ganz einfach. Sie verteidigte Washingtons engen Freund Saddam Hussain bei seiner mörderischen Aggression gegen Iran. Für die Opfer war der Abschuß durchaus keine kleine Angelegenheit. Er war ein wesentlicher Anstoß zur Einsicht der Iraner, dass man nicht länger kämpfen könne, so der Historiker Dilip Hiro.

Es lohnt sich, an das Ausmaß von Washingtons Zuneigung für Freund Saddam zu erinnern.
Reagan strich ihn von der Terrorliste, so dass ihm Hilfe zuteil werden konnte, um seinen Angriff auf Iran zu intensivieren, und später leugnete er, Reagan, dessen fürchterliche Verbrechen an den Kurden, einschließlich des Einsatzes von chemischen Waffen, und blockierte die Verurteilung durch den Kongreß. Er gewährte Saddam auch ein Privileg, das ansonsten nur Israel zugestanden wurde: es gab keine ernsthafte Reaktion, als Irak die USS Stark mit Raketen angriff, wobei 37 Besatzungsmitglieder umkamen, ganz ähnlich wie im Fall der USS Liberty, die 1967 wiederholt von israelischen Kampfjets angegriffen wurde, was 34 Opfer zur Folge hatte.

Reagans Nachfolger, George Bush I., setzte die Hilfe für Saddam fort, die dieser nach dem Krieg gegen Iran, den er angezettelt hatte, dringend benötigte. Bush lud auch irakische Atom-Ingenieure in die USA ein zur Fortbildung in der Waffenproduktion. Im April 1990 entsandte Bush eine hochrangige Senatsdelegation, die vom späteren republikanischen Präsidentschafts-kandidaten Bob Dole geleitet wurde, um seinem Freund Saddam die wärmsten Grüße zu übermitteln und ihm zu versichern, dass er die unverantwortliche Kritik in der „arroganten und verwöhnten amerikanischen Presse“ ignorieren solle und dass derartige Übeltäter bei Voice of America entlassen worden seien. Die Schmeicheleien gegenüber Saddam gingen weiter, bis er sich einige Monate später in Hitler verwandelte, weil er Befehle missachtete, oder sie vielleicht missverstand, und in Kuweit einmarschierte – mit aufschlussreichen Konsequenzen, die nochmals zu bedenken sich lohnt, auf die ich allerdings hier nicht eingehen kann.

Andere Fälle waren schon längst als bedeutungslos dem Gedächtnis entschwunden. Ein Beispiel ist das libysche Verkehrsflugzeug, das 1973 in einem Sandsturm verschwand, nachdem es von israelischen Kampfflugzeugen aus amerikanischer Produktion abgeschossen worden war, zwei Flugminuten von Kairo entfernt, wohin es unterwegs war. Es waren in diesem Fall nur 110 Opfer zu verzeichnen. Israel beschuldigte den französischen Piloten und wurde von der New York Times unterstützt, die hinzufügte, die israelische Tat sei „im schlimmsten Fall...eine Rücksichtslosigkeit, die noch nicht einmal mit der Barbarei vorheriger arabischer Untaten gerechtfertigt werden kann“. Der Zwischenfall wurde in den Vereinigten Staaten ohne sonderliche Kritik rasch in Schweigen gehüllt. Als die israelische Minister- präsidentin Golda Meir vier Tage später in den USA empfangen wurde, hatte sie nur wenige peinliche Fragen zu gewärtigen und kehrte mit dem Geschenk zusätzlicher Militärflugzeuge nach Hause zurück.

Die Reaktion war weitgehend die gleiche, als - neben anderen Beispielen - Washingtons bevorzugte angolanische Terrororganisation UNITA etwa zur gleichen Zeit den Abschuß zweier Zivilflugzeuge meldete.

Wenden wir uns wieder dem eigentlichen und wahrhaftig horrenden Verbrechen zu. Die New York Times berichtete, daß die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power „aus der Fassung geriet, als sie von den Kindern sprach, die beim Absturz des malaysischen Flugzeugs in der Ukraine umkamen, [und] der holländische Außenminister, Frans Timmermans, kaum seinen Ärger unterdrücken konnte, als er die Bilder von ‚Strolchen’ in Erinnerung rief, die Opfern die Eheringe von den Fingern zogen“.

Bei derselben Sitzung [des Sicherheitsrats], fährt der Bericht fort, habe es „eine lange Auf-zählung von Namen und Alter palästinensischer Kinder gegeben, die bei der jüngsten israe-lischen Gaza-Offensive getötet wurden“. Die einzige Reaktion, die erwähnt wurde, war die des palästinensischen Gesandten Riyad Mansour, der während der Aufzählung „ganz still wurde“.

Der israelische Angriff auf Gaza im Juli

rief jedoch Empörung in Washington hervor. Präsident Obama „wiederholte seine ‚scharfe Verurteilung’ von Raketen- und Tunnelangriffen der militanten Gruppe der Hamas auf Israel“, wie das Weiße Haus verkündete. Obama „brachte auch seine >wachsende Sorge< zum Ausdruck wegen der steigenden Zahl ziviler palästinensischer Opfer in Gaza“, aber nicht , dass er sie verurteilte. Der Senat füllte diese Lücke, indem er das israelische Vorgehen in Gaza einstimmig unterstützte, und zugleich „die unprovozierten Raketenangriffe [von Hamas] auf Israel“ verurteilte und „den Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas,“ aufrief, „die Einheitsregierung mit der Hamas aufzulösen und die Angriffe auf Israel zu verurteilen“.

Was den Kongress betrifft, sollten wir uns vielleicht den 80 Prozent der [amerikanischen] Bevölkerung anschließen, die sein Verhalten missbilligen, obwohl das Wort „missbilligen“ in diesem Fall eher zu schwach ist. Aber zu Obamas Verteidigung: möglicherweise hat er keine Ahnung, was Israel in Gaza treibt mit den Waffen, die er ihm freundlicherweise liefert. Schließlich muß er sich auf den amerikanischen Geheimdienst verlassen, der möglicherweise zu beschäftigt ist mit dem Sammeln von Telefonaten und E-Mail-Nachrichten der Bürger, als dass er sich groß mit derartigen Marginalien abgibt.

Es könnte daher sinnvoll sein, sich dessen zu vergewissern, was wir alle wissen sollten.

Israels Ziel war lange ein ganz einfaches: „Ruhe für Ruhe“, eine Rückkehr zur Normalität (obwohl es jetzt möglicherweise noch mehr verlangt). Was aber ist die Normalität?

Die Normalität im Westjordanland

besteht darin, dass Israel seinen illegalen Bau von Siedlungen und Infrastruktur fortsetzt, um sich, was immer ihm wertvoll erscheint, einzuverleiben, während es den Palästinensern nicht lebensfähige Kantone zuweist und sie einer intensiven Unterdrückung und Gewalt unterwirft.

Seit 14 Jahren ist es Normalität, dass Israel jede Woche zwei palästinensische Kinder tötet. Der jüngste israelische Amoklauf wurde durch den brutalen Mord an drei israelischen Jungen aus einer Siedlergemeinde im Westjordanland ausgelöst. Einen Monat zuvor waren zwei palästinensische Jungen im Westjordanland erschossen worden. Dies rief keine Aufmerk-samkeit hervor, was verständlich ist, weil es [Besatzungs-]Alltag ist. „Die institutionalisierte Missachtung des palästinensischen Lebens im Westen hilft, nicht nur den Rückgriff der Palästinenser auf Gewalt zu begreifen“, berichtet der geachtete Nahost-Analytiker Mouin Rabbani, „sondern auch Israels jüngsten Angriff auf den Gazastreifen“.

„Ruhe für Ruhe“ hat Israel auch ermöglicht, sein Programm der Trennung Gazas vom Westjordanland umzusetzen. Dieses Programm ist rigoros vorangetrieben worden, immer mit amerikanischer Hilfe, seit die USA und Israel die Oslo-Vereinbarungen akzeptierten, in denen die zwei Landesteile zu einer untrennbaren territorialen Einheit erklärt wurden.

Ein Blick auf die Karte erklärt das Grundprinzip. Gaza stellt Palästinas einzigen Zugang zur Außenwelt dar. Sind die zwei Teile also getrennt, würde jede Form der Autonomie, die Israel den Palästinensern im Westjordanland zugestehen könnte, sie effektiv einsperren zwischen feindlichen Staaten: Israel und Jordanien. Die Einsperrung wird umso schlimmer, als Israel sein Programm der systematischen Vertreibung der Palästinenser aus dem Jordan-Tal und des Baus von israelischen Siedlungen dort fortsetzt, während es sich der „Ruhe für Ruhe“ erfreut.

Die Normalität in Gaza

wurde detailliert vom heroischen norwegischen Unfallchirurgen Mads Gilbert beschrieben, der [in früheren Jahren] während Israels grausamster Verbrechen in Gazas Haupt-Kranken-haus gearbeitet hatte und anlässlich des gegenwärtigen Gemetzels zurückkehrte. Im Juni 2014 übermittelte er einen Bericht über den Gaza-Gesundheitssektor an UNWRA, die UNO-Organisation, die sich ohne nennenswerte Finanzmittel verzweifelt um die Flüchtlinge kümmert.

„Mindestens 57% der Haushalte in Gaza verfügen nicht über ausreichend Lebensmittel und etwa 80% sind von Hilfslieferungen abhängig“, so Gilbert. „Nahrungsmittelmangel und zunehmende Armut bedeuten auch, dass die meisten Menschen nicht ihren täglichen Kalorienbedarf decken können. Gleichzeitig wird über 90% des Wassers als ungeeignet für den menschlichen Konsum eingestuft“, eine Situation, die sich noch verschlimmert, weil Israel wieder die Wasser- und Abwassersysteme angreift, was für über eine Million Menschen noch gravierendere Störungen der grundlegenden Lebensvoraussetzungen zur Folge hat.

Gilbert berichtet, dass „palästinensische Kinder fürchterlich leiden. Ein großer Teil von ihnen ist von menschengemachter Mangelernährung betroffen, die durch Israels Blockade verur-sacht wird. Die Verbreitung von Anämie bei Kindern unter 2 Jahren beträgt 72,8 Prozent, während die Verbreitung von Schwindsucht, Unterentwicklung, Untergewicht bei 34,3, 31,4 und 31,45 Prozent liegt.“ Und der Bericht wird fortschreitend immer schlimmer.

Der angesehene Menschenrechtsanwalt Raji Sourani, der seit Jahren brutalen israelischen Terrors in Gaza ausharrt, berichtet: „Der übliche Satz, den ich zu hören bekam, wenn die Leute über eine Waffenruhe sprachen, lautet: Es ist für uns alle besser zu sterben, als zu der Situation zurückzukehren, die wir vor diesem Krieg hatten. Das wollen wir nicht wieder. Wir haben keine Würde, keinen Stolz; wir sind bloß „weiche Ziele“ und wertlos. Entweder verbessert sich diese Situation wirklich, oder es ist besser, einfach zu sterben. Ich spreche von Intellektuellen, Akademikern, von normalen Leuten: alle sagen das.“

Dieser Gedanken ist in Gaza allgemein zu hören: es ist besser, würdevoll zu sterben, als langsam vom Folterer stranguliert zu werden.

Rückzug aus dem Gazastreifen 2005

Die Pläne für diese Normalität in Gaza wurden unumwunden von Dov Weissglass, einem Vertrauten von Ariel Sharon erläutert, der den Rückzug israelischer Siedler aus dem Gaza-streifen 2005 verhandelte. Dieser Rückzug, der in Israel und von seinen Anhängern und Irregeleiteten anderswo als großzügige Geste bejubelt wurde, war in Wirklichkeit ein sorg-fältig inszeniertes „nationales Trauma“, das von informierten israelischen Kommentatoren entsprechend lächerlich gemacht wurde, unter ihnen der führende, mittlerweile verstorbene israelische Soziologe Baruch Kimmerling.

Tatsächlich erkannten israelische Falken, angeführt von Sharon, dass es durchaus Sinn mach-te, die völkerrechtswidrigen Siedler aus ihren subventionierten Gemeinden im zugrunde ge-richteten Gazastreifen, wo sie zu ausufernden Kosten ausgehalten wurden, in subventionierte Siedlungen in den anderen besetzten Gebieten, die Israel zu behalten gedenkt, zu transferie-ren. Aber anstatt sie einfach umzusiedeln, was leicht zu bewältigen gewesen wäre, machte es ganz klar mehr Sinn, der Welt Bilder von kleinen Kindern zu präsentieren, die Soldaten anflehten, nicht ihre Häuser zu zerstören, inmitten von „Nie-wieder“-Rufen, mit der unvermeidlichen [Holocaust-]Assoziation. Was diese Farce noch durchschaubarer machte, war die Wiederholung des inszenierten Traumas von 1982, als Israel den ägyptischen Sinai räumen musste. Aber sie war sehr wirkungsvoll für das anvisierte Publikum zu Hause und im Ausland.
Weissglass lieferte seine eigene Sicht des Siedlertransfers: „Mit den Amerikanern habe ich mich klipp und klar darauf geeinigt, dass über die größeren Siedlungsblöcke des Westjordan-landes überhaupt nicht verhandelt wird, und über den Rest wird verhandelt, wenn die Palästinenser zu Finnen geworden sind“ – aber zu einer speziellen Sorte von Finnen, die die Herrschaft einer fremden Macht hinnehmen würde. „Die Bedeutung [dieser Vereinbarung] besteht im Einfrieren des politischen Prozesses“, fuhr Weisglass fort. „Und solange er eingefroren ist, kommt es nicht zur Bildung eines palästinensischen Staates und auch nicht zu einer Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Kurz, das ganze Paket namens „Palästinensischer Staat“ - mit allem was dazugehört - ist für unbegrenzte Zeit von der Tagesordnung. Und all dies mit der Autorität und der Erlaubnis des amerikanischen Präsidenten [George W. Bush] und der Absegnung durch beide Häuser des [amerikanischen] Kongresses.“
Weissglass erläuterte weiter, dass die Gaza-Bewohner „auf Diät“ bleiben sollten, „aber so, dass sie nicht Hungers sterben müssen“ – was Israels verblassender Reputation nicht helfen würde. Mit ihrer vielgepriesenen technischen Effizienz bestimmten israelische Experten ganz genau, wie viele Kalorien pro Tag die Menschen in Gaza zum nackten Überleben benötigen.
Gleichzeitig wurden ihnen Arznei- und andere Mittel für ein anständiges Leben vorenthalten. Das israelische Militär sperrte sie – so ganz richtig der britische Premierminister David Cameron – in ein Gefangenenlager, das von Land, Luft und See her verschlossen ist. Der israelische Rückzug ließ Israel die totale Kontrolle über Gaza, folglich bleibt Israel gemäß Völkerrecht Besatzungsmacht. Und um die Gefängnismauern noch undurchdringlicher zu machen, versperrte Israel den Palästinensern einen breiten Streifen längs der Grenze, der ein Drittel des knappen nutzbaren Bodens umfasst. Die Rechtfertigung dafür ist Israels Sicherheit, die genauso erreicht werden könnte durch die Errichtung dieser Sicherheitszone auf der israelischen Seite der Grenze, oder noch besser: durch die Beendigung der barbarischen Besatzung und anderer Strafmaßnahmen.
Die offizielle Version lautet, dass die Palästinenser, nachdem Israel ihnen huldvoll Gaza über-geben habe, in der Hoffnung, dass sie ein blühendes Gemeinwesen errichten würden, ihre wahre Natur zeigten, indem sie Israel unaufhörlichen Raketenangriffen aussetzten und die eingesperrte Bevölkerung zwangen, Märtyrer zu werden, nur um Israel in ein schlechtes Licht zu rücken.
Die Wirklichkeit sieht allerdings ziemlich anders aus.

Wahlsieg der Hamas in den besetzten Gebieten 2006


Wenige Wochen nach dem Truppenrückzug, der – wie gesagt - die Besatzung keineswegs beendete, begingen die Palästinenser ein schweres Verbrechen. Im Januar 2006 wählten sie bei einer sorgfältig überwachten Wahl „falsch“ und bescherten der Hamas die Mehrheit im Parlament. Die Medien werden nicht müde zu betonen, dass die Hamas sich zum Ziel gesetzt hat, Israel zu zerstören. In Wirklichkeit haben ihre Führer wiederholt und explizit klargestellt, dass Hamas eine Zwei-Staaten-Lösung gemäß dem internationalen Konsens akzeptiert, der seit 40 Jahren von den USA und Israel unterlaufen wird. Im Gegensatz dazu hat Israel – abge-sehen von gelegentlichen bedeutungslosen Worten - sich zum Ziel gesetzt, Palästina zu zerstören, und dieses Ziel verfolgt es beharrlich.
Es ist wahr, Israel hat die von Präsident Bush initiierte Road Map akzeptiert, die zur Zwei-Staaten-Lösung führen sollte. Sie wurde vom [Nahost-]Quartett - USA, EU, UNO und Ruß-land – übernommen, das die Aufsicht über ihre Realisierung übernahm. Aber bei der Annah-me der Road Map fügte Premierminister Sharon ihr 14 Einschränkungen hinzu, die sie prak-tisch aufhoben. Diese Fakten waren Aktivisten bekannt, aber einer breiteren Öffentlichkeit wurden sie erst durch Jimmy Carters Buch „Palästina: Frieden, nicht Apartheid“ enthüllt. In Medien-Bericht-erstattung und Kommentaren werden sie weitgehend totgeschwiegen.
Das seit 1999 unveränderte Programm von Israels regierender Partei, Netanyahus Likud, „lehnt die Errichtung eines palästinensischen arabischen Staates westlich des Jordans entschieden ab“. Und für diejenigen, die zwanghaft auf bedeutungslosen Chartas herumreiten: der Kern des Likud, Menahem Begins Cherut-Partei, muß sich immer noch von ihrer Gründungsdoktrin verabschieden, nämlich dass das Territorium auf beiden Seiten [!] des Jordans Teil des Landes Israel ist.
Das „Verbrechen“ der Palästinenser vom Januar 2006 wurde sofort bestraft. Die USA und Israel, Europa schändlicherweise im Schlepptau, verhängten harte Sanktionen gegen die irregeleitete Bevölkerung, und Israel verschärfte seine Gewaltpolitik. Bis zum Juni [2006], als die Angriffe eskalierten, hatte Israel bereits mehr als 7700 (155 mm) Granaten auf den Norden des Gazastreifens abgeschossen.

Geplanter Militärputsch gegen die gewählte Hamas 2007

Die USA und Israel entwickelten rasch Pläne für einen Militärputsch, um die gewählte Regie-rung zu stürzen. Als die Hamas die Frechheit besaß, diese Pläne zu vereiteln, wurden die isra-elischen Angriffe und die Belagerung erheblich intensiviert. Gerechtfertigt wurde dies mit der Behauptung, dass Hamas den Gazastreifen gewaltsam übernommen habe – was nicht gänzlich falsch ist. Allerdings wird dabei die entscheidende Tatsache [des geplanten Putsches] unterschlagen.
Es erübrigt sich wohl, die schauerliche Bilanz der Ereignisse noch einmal Revue passieren zu lassen. Die erbarmungslose Belagerung und die barbarischen Angriffe werden unterbrochen durch Phasen des „Rasenmähens“, um Israels neckischen Ausdruck für seine periodischen Übungen im „Fische-imTeich-Schießen“ zu verwenden, während des von ihm so genannten „Verteidigungskriegs“. Sobald der Rasen gemäht ist und die verzweifelte Bevölkerung sich irgendwie von der Verwüstung und den Morden zu erholen versucht, gibt es einen Waffen-stillstand. Solche Waffenstillstände wurden, wie Israel selber zugibt, von der Hamas regelmäßig eingehalten, bis Israel sie mit erneuter Gewalt verletzte.
Der jüngste Waffenstillstand wurde nach Israels Angriff im November 2012 geschlossen. Obwohl die Besatzungsmacht ihre verheerende Belagerung aufrecht erhielt, hielt sich Hamas an die vereinbarte Waffenruhe, wie israelische Offizielle zugeben. Die Situation änderte sich im Juni, als Fatah und Hamas ein Einheitsabkommen beschlossen, das zur Bildung einer neuen Regierung von Technokraten ohne [personelle] Beteiligung von Hamas führte und sämtlichen Forderungen des Nahost-Quartetts nachkam. [1] Israel war natürlich erbost, um so mehr, als sogar die USA ihre Zustimmung signalisierten. Das Einheitsabkommen unterlief nicht nur Israels Behauptung, es könne nicht mit einem gespaltenen Palästina verhandeln, sondern stellte auch Israels langfristiges Ziel in Frage, Gaza vom Westjordanland zu trennen und seine destruktive Politik in beiden Regionen fortzusetzen.
Israels achtzehntägiger Amoklauf im Westjordanland 

Irgendwas musste geschehen, und eine Gelegenheit dazu bot sich kurz darauf, als die drei israelischen „Jungen“ im Westjordanland umgebracht wurden. Die Netanyahu-Regierung wusste zwar sofort, dass sie tot waren, gab dies aber nicht zu, was Anlaß für einen Amoklauf lieferte, der auf Hamas abzielte. Netanyahu behauptete, über sicheres Wissen zu verfügen, dass Hamas verantwortlich sei. Auch dies war eine Lüge, die schon frühzeitig als solche erkannt wurde. Es gab nicht einmal die Vortäuschung eines Beweises. Einer von Israels führenden Hamas-Experten, Shlomi Eldar, berichtete fast sofort, dass die Mörder vermutlich einem dissidenten Clan in Hebron entstammen, der lange schon ein Stachel im Fleisch der Hamas ist. Eldar fügte hinzu: „Ich bin mir sicher, dass sie kein grünes Licht von der Führung der Hamas bekommen haben. Sie dachten halt, dass die Zeit zu handeln gekommen sei.“ Die israelische Polizei sucht seither nach zwei Mitgliedern des Clans, und behauptet immer noch - ohne Beweis -, es seien „Hamas-Terroristen“.
Mit dem 18-tägigen Amoklauf gelang es indes, die gefürchtete Einheitsregierung zu unter-minieren und die israelische Repression zu verschärfen. Nach Angaben des israelischen Militärs nahmen israelische Soldaten 419 Palästinenser fest, darunter 335 Hamas-Angehörige, und töteten sechs Palästinenser. Darüber hinaus durchsuchten sie Tausende Objekte und konfiszierten Bargeld und Eigentum im Werte von 3 Millionen Dollar [2]. In Gaza wurden Dutzende Angriffe durchgeführt, wobei allein am 7. Juli 5 Hamas-Mitglieder ermordet wurden.
Der Angriff auf den Gaza-Streifen: Operation “Protective Edge” 

Schließlich reagierte Hamas mit den ersten Raketen seit 19 Monaten - so offizielle israelische Stellen -, die Israel den Vorwand lieferten für Operation Protective Edge [etwa „Schützende Front“] am 8. Juli.Es gab Berichte im Überfluß von den Heldentaten der selbsternannten „moralischsten Armee der Welt“, die - so der israelische Botschafter in den USA - den Friedensnobelpreis verdient hätte. Bis Ende Juli waren etwa 1500 Palästinenser umgebracht worden, was die Opferzahl der „Geschmolzenes Blei“-Verbrechen [2008/9] überstieg. 70 % davon waren Zivilisten, darunter Hunder-te Frauen und Kinder. Und 3 Zivilisten in Israel. Weite Bereiche des Gazastreifens liegen in Trümmern. Während kurzer Bombardierungspausen suchen Angehörige verzweifelt zerfetzte Leichen oder Haushaltsgegenstände in den Ruinen ihrer Häuser. Das Hauptkraftwerk wurde angegriffen – nicht zum ersten Mal, das ist eine israelische Spezialität -, was die ohnehin eingeschränkte Stromzufuhr radikal drosselte und, schlimmer noch, die minimale Verfügbarkeit von Trinkwasser noch einmal verringerte. Ein weiteres Kriegsverbrechen. Währenddessen wurden Rettungsmannschaften und Kranken-wagen wiederholt angegriffen. Obwohl die Gräueltaten überall im Gazastreifen zunahmen, behauptete Israel, sein Ziel sei die Zerstörung der Tunnel an der Grenze.
Vier Krankenhäuser wurden angegriffen, jeweils ein weiteres Kriegsverbrechen. Das erste war das Al-Wafa-Rehabilitationszentrum in Gaza-Stadt, das am Tag, als die Bodentruppen in das Gefängnis Gaza eindrangen, attackiert wurde. Ein paar Zeilen in der New York Times, in einer Reportage über den Beginn der Bodenoffensive, berichteten, „dass die meisten, aber nicht alle 17 Patienten und Ärzte und Pflegekräfte evakuiert wurden, bevor der Strom ausfiel und schwere Bombardierungen das Gebäude weitgehend zerstörten. Ärzte erzählten: „Wir haben sie unter Beschuß evakuiert.“ Und Dr. Ali Abu Ryala, ein Krankenhaussprecher: „Krankenschwestern und Ärzte mussten die Patienten auf ihrem Rücken hinaustragen, einige fielen die Treppen hinunter. Es herrschte eine beispiellose Panik im Krankenhaus.“
Dann wurden drei Krankenhäuser, die noch in Betrieb waren, angegriffen, Patienten und Personal waren bei der Flucht sich selbst überlassen. Ein israelisches Verbrechen wurde allgemein verurteilt: der Angriff auf eine UNO-Schule, die 3300 verängstigte Flüchtlinge aufgenommen hatte, die auf Befehl der israelischen Armee den Ruinen ihrer Wohnviertel entflohen waren. Der empörte UNWRA-General-Kommissar Pierre Kraehenbuehl meinte: „Ich verurteile diese schwere Verletzung des Völkerrechts durch israelische Streitkräfte auf das Schärfste....Die Welt steht heute beschämt da.“ Es gab mindestens drei Angriffe auf den UN-Schutzraum, der den Israelis wohlbekannt war. „Die präzise Lokalisierung der Jabalia- Grundschule für Mädchen und die Tatsache, dass Tausende Flüchtlinge dort Unterschlupf gefunden hatten, waren der israelischen Armee 17 mal übermittelt worden, um ihren Schutz sicherzustellen “, sagte Kraehenbuehl, „das letzte Mal um 10 vor 9 gestern Nacht, nur wenige Stunden vor dem tödlichen Beschuß.“
Der Angriff wurde auch „in den schärfstmöglichen Worten“ vom üblicherweise eher zurück-haltenden UNO-Generalsekretär, Ban Ki-moon, verurteilt: „Nichts ist schändlicher, als schlafende Kinder anzugreifen.“ Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die US-Botschafterin bei der UNO diesmal „aus der Fassung geriet, als sie von den Kindern sprach, die [bei dem israelischen Angriff] umkamen“ – oder überhaupt beim Angriff auf den Gazastreifen.
Aber die Sprecherin des Weißen Hauses reagierte tatsächlich: „Wir sind extrem besorgt, dass Tausende von Flüchtlingen, die vom israelischen Militär aufgerufen worden waren, ihre Häuser zu verlassen, in den von der UNO ausgewiesenen Schutzräumen nicht sicher sind. Wir verurteilen auch jene, die dafür verantwortlich sind, dass Waffen in UN-Anlagen versteckt wurden“, fügte sie hinzu, wobei sie zu erwähnen vergaß, dass diese Anlagen leer waren und die Waffen vom UNWRA-Personal gefunden wurden, die diejenigen verurteilten, die sie dort versteckt hatten.
Später stimmte die [amerikanische] Regierung ein in schärfere Verurteilungen dieses besonderen Verbrechens – während sie gleichzeitig weitere Waffenlieferungen an Israel freigab. Dabei meinte Pentagon-Sprecher Steve Warren jedoch gegenüber Reportern: „Es ist klar, dass die Israelis mehr tun müssen, um ihren hohen Maßstäben zum Schutz von Zivilisten gerecht zu werden – den hohen Maßstäben, die sie während vieler Jahre beim Einsatz von amerikanischen Waffen immer an den Tag gelegt haben, so wie auch heute wieder.“
Angriffe auf UN-Einrichtungen, die Flüchtlinge beherbergen, ist eine weitere israelische Spezialität. Ein berüchtigter Fall ist die israelische Bombardierung des eindeutig identifi-zierten UN-Flüchtlingslagers in Qana [1996] während der mörderischen „Grapes-of-Wrath“ [Früchte des Zorns]-Kampagne der Simon Peres-Regierung, bei der 118 libanesische Zivi-listen getötet wurden, die dort Zuflucht gesucht hatten, unter ihnen 52 Kinder. Selbstver-ständlich ist Israel nicht allein mit dieser Praxis. Zwanzig Jahr zuvor hatte sein südafrika-nischer Alliierter einen Luftschlag tief nach Angola hinein auf Cassinga verübt, ein Flücht-lingslager, das von der namibischen Widerstandsbewegung SWAPO betrieben wurde.
Israelische Regierungsvertreter rühmen die Humanität ihrer Armee, die so weit gehe, dass Bewohner vorher informiert werden, wenn ihr Haus zerbombt wird. Diese Praxis sei „schein-heilig als Barmherzigkeit verkleideter Sadismus“, so die israelische Journalistin Amira Hass. „Eine aufgezeichnete Botschaft, die Hunderttausende Menschen auffordert, ihre bereits ins Fadenkreuz geratenen Häuser zu verlassen für einen anderen, 10 Kilometer entfernten, gleichermaßen gefährlichen Ort.“ Tatsächlich gibt es [in Gaza] keinen vor Israels Sadismus geschützten Ort.
Für manche Menschen ist es schwierig, aus Israels Fürsorglichkeit Nutzen zu ziehen. Ein Appell an die Welt von der Katholischen Kirche Gazas zitiert einen Priester, der die verzweifelte Lage der im „Haus Christi“ lebenden Insassen schildert, einem Pflegeheim für behinderte Kinder. Weil die Gegend zum Zielobjekt der israelischen Armee wurde, quartierte man sie um in die „Kirche der Heiligen Familie“. Aber jetzt, schreibt er, habe „die Kirche Gazas einen Evakuierungsbefehl bekommen. Sie werden die Zeitun-Gegend bombardieren, und die Menschen fliehen bereits. Das Problem ist, dass Bruder George und die drei Nonnen des Mutter-Teresa-Ordens 29 behinderte Kinder und neun alte Damen, die sich nicht bewegen können, in ihrer Obhut haben. Wie sollen sie es schaffen zu fliehen? Wenn irgendjemand einen Menschen mit Einfluß kennt, soll er bitte etwas unternehmen.“
Das sollte in der Tat nicht so schwer sein. Israel hat dem Wafa-Rehabilitationszentrum die entsprechende Anweisung schon zukommen lassen, und glücklicherweise intervenieren zumindest einige Staaten bereits, so gut sie können. Fünf lateinamerikanische Länder – Brasilien, Chile, Ecuador, El Salvador und Peru – haben ihre Botschafter aus Israel zurück-gerufen. Sie folgten dem Kurs Boliviens und Venezuelas, die als Reaktion auf vorhergehende Verbrechen Israels die Beziehungen zu ihm abgebrochen haben. Dieses prinzipientreue Verhalten ist ein weiteres Zeichen des bemerkenswerten Wandels in den internationalen Beziehungen, da ein Großteil der Länder Lateinamerikas sich von der westlichen Vorherrschaft zu befreien beginnt und dabei denen gegenüber zuweilen ein Vorbild zivilisierten Verhaltens abgibt, die sie 500 Jahre lang unter Kontrolle hielten.
Die erwähnten hässlichen Enthüllungen riefen allerdings beim „moralischsten Präsidenten der Welt“ eine andere Reaktion hervor, die übliche: große Sympathie für die Israelis, scharfe Verurteilung der Hamas und Aufrufe zur Mäßigung an beide Seiten. In seiner Pressekonfe-renz vom 1. August brachte er tatsächlich seine Sorge um die Palästinenser zum Ausdruck, „die ins Kreuzfeuer geraten sind“ (wo bitte?), während er wiederum das Recht Israels vehe-ment unterstützte, sich zu verteidigen – so wie jeder andere Staat auch. Allerdings nicht jeder – die Palästinenser natürlich nicht. Sie haben kein Recht, sich zu verteidigen. Allemal nicht, wenn Israel sich gut benimmt und sich an den Grundsatz „Ruhe für Ruhe“ hält und ihnen ihr Land raubt, sie aus ihren Häusern vertreibt, einer barbarischen Belagerung unterwirft und sie regelmäßig mit den vom Schutzherrn gelieferten Waffen angreift.
Die Palästinenser sind, so wie die Schwarzafrikaner, die namibischen Flüchtlinge im Cassinga-Lager zum Beispiel, alles Terroristen, für die das Selbstverteidigungsrecht nicht gilt.
Ein 72-stündiger Waffenstillstand sollte am 1. August in Kraft treten. Kaum hatte er be-gonnen, brach er schon zusammen. Während ich dies schreibe, wenige Stunden später, gibt es widersprüchliche Berichte, und einiges bleibt unklar. Nach einer Pressemitteilung des Al Mezan-Zentrums für Menschenrechte in Gaza, das für seine Zuverlässigkeit bekannt ist, hörte einer seiner Mitarbeiter in Rafah, an der ägyptischen Grenze, um 8.05 Uhr israelisches Artilleriefeuer. Nach Berichten, dass ein israelischer Soldat in Gefangenschaft geraten sei, begann gegen 9.30 Uhr ein schweres Luft- und Artilleriebombardement Rafahs mit wahrscheinlich Dutzenden von Toten und Hunderten Verletzten, die nach Hause zurückgekehrt waren, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war; bisher liegen allerdings keine bestätigten Zahlen vor.
Am Tag zuvor, am 31. Juli, hatte das Coastal Water Utility, das einzige Wasserwerk im Gazastreifen, verkündet, dass es wegen Treibstoffmangels und häufiger Angriffe auf sein Personal kein Wasser oder sanitäre Dienste mehr zur Verfügung stellen könne.
Al Mezan berichtet, dass „fast sämtliche Gesundheitsdienste eingestellt wurden wegen Mangels an Wasser, an Müllbeseitigung und Umweltschutzmaßnahmen. Auch die UNWRA hat vor der Gefahr unmittelbar bevorstehender Verbreitung von Krankheiten aufgrund des Wassermangels und des Zusammenbruchs des Abwassersystems gewarnt“. In der Zwischen-zeit töteten und verwundeten israelische Flugzeug-Raketen am Vorabend des Waffenstill-stands überall im Gazastreifen immer mehr Menschen.
Und wie weiter? 

Israel hofft, wenn die gegenwärtige Phase des Sadismus schließlich beendet ist - wann auch immer das sein wird -, seine kriminelle Politik in den besetzten Gebieten ohne Beeinträchtigung fortsetzen zu können, und dies mit amerikanischer Unterstützung, derer es sich in der Vergangenheit stets erfreute: in militärischer, ökonomischer, diplomatischer und auch in ideologischer Hinsicht, weil sich amerikanische und israelische Interpretation der Kernfragen decken. Die Menschen im Gazastreifen werden in ihrem von Israel betriebenen Gefängnis zur „Normalität“ zurückkehren dürfen, während sie im „friedlichen“ Westjordanland zuschauen können, wie Israel langsam zerstört, was von ihrem Besitz noch übrig geblieben ist.
Das ist das wahrscheinliche Ergebnis, falls die USA ihre entscheidende und wahrlich ein-seitige Unterstützung für Israels Verbrechen sowie ihre Zurückweisung des seit langem bestehenden internationalen Konsenses für eine diplomatische Regelung des Konflikts aufrechterhalten.
Ganz anders allerdings wird die Zukunft aussehen, wenn die USA diese Unterstützung zurückziehen. In diesem Fall wäre es tatsächlich möglich, zu einer „nachhaltigen Lösung“ für Gaza zu kommen, zu der Außenminister Kerry aufrief, was auf hysterische Ablehnung in Israel stieß, denn diese Formulierung könnte als Aufruf zur Beendigung der israelischen Belagerung Gazas und der regelmäßigen Angriffe interpretiert werden. Und sie könnte – was für eine Horrorvorstellung! – verstanden werden als Aufruf zur Respektierung des Völkerrechts in den besetzten Gebieten.
Nun ist es keineswegs so, dass Israels Sicherheit durch Beachtung des Völkerrechts bedroht würde. Sie würde höchstwahrscheinlich sogar erhöht. Aber wie vor 40 Jahren der israelische General Ezer Weizman, der spätere Präsident, erklärte, könnte Israel dann nicht mehr „mit den hohen Werten, dem Geist und der Qualität, für die es jetzt steht, weiterexistieren“.
Es gab ähnliche Fälle in der jüngeren Geschichte. Indonesische Generäle schworen, dass sie niemals aufgeben würden, was der australische Außenminister Gareth Evans „die indonesische Provinz Ost-Timor“ nannte, während er ein Geschäft zum Diebstahl timoresischen Öls abschloß. Und solange die indonesischen Generäle auf die jahrzehntelange amerikanische Unterstützung zählen konnten, war ihr Ziel durchaus realistisch. Schließlich aber bedeutete Präsident Clinton ihnen, unter beträchtlichem innenpolitischen und internationalem Druck, sang- und klanglos, dass das Spiel vorbei sei, und sie zogen sich umgehend zurück – während Evans sich seiner neuen Karriere als lautstarker Apostel der „Schutzverantwortung“ [„Responsibility to protect“] zuwandte, die selbstverständlich so konzipiert wurde, dass sie den westlichen Rückgriff auf Gewalt nach Belieben erlaubt.
Ein weiterer relevanter Fall in diesem Zusammenhang ist Südafrika. 1958 teilte der südafrikanische Außenminister den USA mit, solange die amerikanische Unterstützung andauere, habe es nichts weiter zu bedeuten, daß sein Land zu einem Paria-Staat geworden sei. Seine Einschätzung erwies sich als ziemlich zutreffend. 30 Jahre später war Ronald Reagan der letzte bedeutende Realitätsverweigerer, der das Apartheid-Regime unterstützte, das immer noch durchhielt. Innerhalb weniger Jahre schloß sich Washington dann allerdings der übrigen Welt an, und das Regime brach zusammen – natürlich nicht aus diesem Grund allein. Ein entscheidender Faktor war die bemerkenswerte Rolle, die Kuba bei der Befreiung Afrikas spielte, was im Westen allgemein ignoriert wird, nicht allerdings in Afrika.
Vor 40 Jahren fällte Israel die verhängnisvolle Entscheidung, die Expansion der Sicherheit vorzuziehen, indem es den umfassenden Friedensvertrag zurückwies, den Ägyptens Präsident Sadat für den Rückzug vom Sinai angeboten hatte, wo Israel intensive Siedlungs- und Entwicklungsprojekte begonnen hatte. Es hält bis heute an dieser Politik fest, auf der Basis derselben Einschätzung wie Südafrika 1958.
Im Falle Israels wären die Auswirkungen, wenn die USA sich dem Rest der Welt anschlössen, bedeutend größer. Im Zweifel setzt sich das tatsächliche Machtverhältnis durch, was sich immer wieder zeigte, wenn Washington von Israel verlangte, langgehegte Zielvorstellungen aufzugeben. Darüber hinaus kann Israel gegenwärtig auf wenig zurückgreifen, nachdem es sich einer Politik verschrieben hat, die es von einem höchst bewunderten zu einem gefürchteten und verachteten Land gemacht hat, ein Kurs, den es heute mit blinder Zielstrebigkeit verfolgt, auf dem entschlossenen Marsch zu moralischem Verfall und letztendlich möglichem Untergang.
Könnte die Politik der USA sich ändern? 

Unmöglich ist das nicht. Die öffentliche Meinung hat sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt, besonders unter den jungen Menschen, und das kann nicht völlig ignoriert werden. Seit einigen Jahren gibt es eine solide Basis für die öffentliche Forderung, dass Washington seine eigenen Gesetze einhalten und die Militärhilfe für Israel aussetzen solle. Das US-Gesetz verlangt, dass „keinem Land Sicherheitsbeistand geleist wird, dessen Regierung einem durchgängigen Muster grober Verletzungen international anerkannter Menschenrechte folgt“. Israel macht sich dieser Verletzungen zweifelsfrei und seit langen Jahren schuldig. Deshalb hat Amnesty International während Israels mörderischer Operation „Geschmolzenes Blei“ [„Cast Lead“] in Gaza zu einem Waffenembargo gegen Israel (und Hamas) aufgerufen. Senator Patrick Leahy, Autor dieser gesetzlichen Bestimmung, hat ihre mögliche Anwendbarkeit auf Israel in bestimmten Fällen thematisiert, und mit gut geführten, organisierten und aktivistischen aufklärerischen Anstrengungen ließen sich solche Initiativen erfolgreich realisieren. Dies könnte eine sehr bedeutsame Wirkung in sich selbst haben und gleichzeitig ein Sprungbrett für weitere Aktionen nicht nur zur Bestrafung Israels für sein verbrecherisches Verhalten sein, sondern auch Washington nötigen, selbst Teil „der internationalen Gemeinschaft“ zu werden und das Völkerrecht sowie menschlichen Anstand und moralische Prinzipien zu beachten.
Nichts könnte den tragischen palästinensischen Opfern so vieler Jahre der Gewalt und der Unterdrückung gerechter werden.

Anmerkung:
[1] 1. Anerkennung Israels 2. Gewaltverzicht 3. Anerkennung geschlossener Verträge
Übersetzung: Jürgen Jung Redaktion: Eckhard Lenner

No comments:

Post a Comment