Monday, August 25, 2014

Jeff Halper: Die Globalisierung Gazas

Wie Israel das internationale Recht durch “juristische Kriegsführung” aushöhlt

​ 18. August 2014
Operation ‘Fels in der Brandung’ (Protective Shield) war nicht nur der militärische Angriff auf eine vorwiegend aus Zivilisten bestehende Bevölkerung. Wie in seinen vorangegangenen ‘Operationen’ ( Cast Lead – Gegossenes Blei im Jahre 2008/09 und Pillar of Defense – Wol-kensäule im Jahre 2012), war es auch Teil eines andauernden Angriffes auf das humanitäre Völkerrecht (IHL) durch ein exzellent koordiniertes Team von israelischen Anwälten, Offizie-ren, PR-Leuten und Politikern, angeführt von, man höre und staune, einem Ethikphilosophen. Das Ziel der Bemühungen ist es nicht nur, zu verhindern, dass Israel wegen schwerer Verlet- zungen der Menschenrechte und internationaler Gesetze belangt werden kann, sondern auch, anderen Regierungen dabei zu helfen, derartige Einschränkungen zu umgehen, wenn auch sie sich in eine ‘asymmetrische Kriegführung’, ‘Niederschlagung eines Aufstandes’ oder ‘Terro-rismusbekämpfung’ gegen Menschen begeben, die sich gegen ihre Herrschaft wehren. Es handelt sich um eine Kampagne, die Israel ‘juristische Kriegsführung’ nennt (lawfare). Wir sollten sie sehr ernst nehmen.
Die dringende Notwendigkeit dieser Kampagne wird unterstrichen durch eine Serie von Rückschlägen und Herausforderungen, denen Israel sich in den letzten zehn Jahren gegenüber sah. Sie begann mit der Anklage Sharons durch ein belgisches Gericht im Jahre 2001 wegen seiner Verwicklung in die Massaker von Sabra und Shatila. Er entkam der Verhandlung. Im Gefolge der Operation Defensive Shield (“Operation Schutzschild”) im Jahre 2002 veranlass-te Sharons Regierung die Zerstörung von Hunderten von palästinensischen Häusern in der West Bank, die völlige Zerstörung praktisch der gesamten Infrastruktur der palästinensischen Städte, und sie war für den Tod von 497 Palästinensern verantwortlich. Israel war deshalb wegen Kriegsverbrechens angeklagt, vereitelte aber erfolgreich eine Untersuchung durch die UN.
Im Jahre 2004 befand der Internationale Gerichtshof in Den Haag auf Antrag der Un-Vollver-sammlung, dass Israels Bau der Mauer innerhalb des palästinensischen Territoriums ‘ gegen internationales Recht verstößt’ und dass die Mauer abgerissen werden muss. Dieses Urteil wurde nahezu einstimmig von der UN-Vollversammlung bestätigt, nur Israel, die Vereinigten Staaten, Australien und ein paar Atolle im Pazifik stimmten dagegen. Allerdings mangelte es auch hier wieder an den Möglichkeiten der Umsetzung.
Im zweiten Libanonkrieg im Jahre 2006, nachdem Israel den Beiruter Stadtteil Dahiya, eine ‘Festung’ der Hizbollah, zerstört hatte, verkündete Israel seine ‘Dahiya Doktrin’. Gadi Eisenkott, der Chef des Nordkommandos der IDF erklärte,
 dass das, was in Dahiya im Jahre 2006 geschah ‘in jedem Dorf passieren wird, von dem aus Israel beschossen wird….Wir werden unverhältnismäßige Gewalt anwenden und große Zerstörung anrichten. Nach unserer Meinung handelt es sich dabei nicht um zivile Dörfer, sondern um Militärbasen…. Dies ist keine Empfehlung, dies ist ein Plan. Und der Plan wurde gebilligt.’
Und er wurde auch erneut angewendet. Der Goldstone-Bericht zu der Operation ‘Gegossenes Blei’ kam zu dem Schluss,
 dass ’ die Taktiken, die vom israelischen Militär in der Gaza-Offensive (von 2008/09) angewandt wurden, übereinstimmen mit Praktiken, die zuvor angewendet wurden, zuletzt im Libanonkrieg von 2006. Ein Konzept, das die ‘Dahiya-Doktrin’ genannt wurde, kam zum Tragen. Es schloss die Anwen-dung von unverhältnismäßiger Gewalt und die Verursachung großen Schadens ein, die Zerstörung zivilen Eigentums und ziviler Infrastruktur, so wie Leid, das der Zivilbevölkerung zugefügt wurde.
Die Dahiya Doktrin verletzt zwei Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: Das Unter-scheidungsprinzip und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das Unterscheidungsprinzip, das in den vier Genfer Konventionen von 1949 und in zweien ihrer Zusatzprotokolle aus dem Jahr 1977, niedergelegt ist, besteht aus einer verbindlichen Regel: Zivilisten dürfen nicht von Ar-meen angegriffen werden. Im Gegenteil, sie müssen geschützt werden. Gewalt gegen Leben und Personen ist streng verboten, ebenso wie ‘Gräueltaten, die gegen die persönliche Würde gerichtet sind.’
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das ebenfalls in den Protokollen der Vierten Genfer Konvention von 1977 niedergelegt ist,  sieht es als Kriegsverbrechen an, wenn absichtlich ein militärisches Objekt angegriffen wird, wohlwissend, dass die Anzahl der Zivilisten, die dabei verletzt werden, unverhältnismäßig hoch im Vergleich zum erwarteten militärischen Vorteil sein wird. ‘Die Anwesenheit von Personen innerhalb der Zivilbevölkerung, die nicht wirkli-che Zivilisten sind,’ sagt Artikel 50 (3) des Protokolls Nr. 1, beraubt die Bevölkerung als Ganzes nicht ihres zivilen Charakters.’
Diese Prinzipien wurden nicht nur erneut während des gegenwärtigen Krieges verletzt – und die israelische Regierung, dies wohl wissend, hat ihre Verteidigung vor dem internationalen Untersuchungsausschuss des Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und vor dem interna-tionalen Strafgerichtshof (sollte sich die Palästinensische Autonomiebehörde dorthin wenden) sorgfältig vorbereitet. Darüber hinaus wurde eine zusätzliche Doktrin der beabsichtigten Un-verhältnismäßigkeit erklärt und angewandt: die Hannibal Doktrin. Diese besagt, dass, wenn ein israelischer Soldat gefangengenommen wird, es zur Hauptaufgabe der Armee wird, ihn zu retten, ohne Rücksicht darauf, wie viele Zivilisten dabei getötet oder verletzt werden, wie viel Schaden dabei angerichtet wird, oder selbst ob der gefangene Soldat selbst dabei durch‘Eigen-beschuss’ getötet oder verletzt wird. So kam es, dass, als man (fälschlicherweise, wie sich später herausstellte) glaubte, dass ein israelischer Soldat von der Hamas in der Gegend von Rafah gefangengenommen worden sei, das gesamte Stadtgebiet unter massives israelisches Artilleriefeuer und Luftangriffe geriet, bei denen Hunderte von Gebäuden zerstört und min-destens 130 Menschen getötet wurden.
Die Verletzungen der Prinzipien der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit stellen schwere Brüche des internationalen Rechts dar – man darf sich gar nicht vorstellen, was Staaten tun würden, wenn  diese Prinzipien abgeschafft oder wesentlich verwässert würden. Aber dies genau ist es, was Israel anstrebt.
Israel benutzt die Palästinenser als Versuchskaninchen in einer kühnen und aggressiven Strategie, internationales Recht ‘auszubessern’. Israel möchte neue Kategorien von Kom-battanten schaffen – ‘ ungesetzliche Akteure’ wie etwa ‘Terroristen’, ‘Aufständische’ und ‘nicht-staatliche Akteure’ gemeinsam mit der Zivilbevölkerung, die sie unterstützt. Danach könnte dann niemand, der sich staatlicher Unterdrückung widersetzt, mehr Schutz beanspru-chen. Dies ist besonders wichtig, da, wie uns der britische General Rupert Smith darlegt, mo-derner Krieg sich rapide vom traditionellen Modell des Krieges zwischen Staaten wegbewegt, hin zu dem, was er ein ‘neues Paradigma’ nennt, dem ‘Krieg im Volk’ – in dem wir ‘im Volk kämpfen und nicht auf dem Schlachtfeld.’ Ein unter Militärs populärerer Begriff, der der asymmetrischen Kriegsführung, ist vielleicht ehrlicher und aufschlussreicher, da er das Machtgefälle unterstreicht, das zwischen Staaten und ihren Armeen einerseits und der relativen Schwäche der nicht-staatlichen Kräfte, die ihnen gegenüber stehen, existiert.
Doch ‘das Volk’, diese nervtötenden ‘nicht-staatlichen Akteure’, hat auch Rechte. Damals im Jahre 1960 hat die Erklärung der UN-Vollversammlung zur Gewährung der Unabhängigkeit kolonialer Länder und Völker das Selbstbestimmungsrecht der Völker unterstrichen und, infolgedessen, ihr Recht auf Widerstand, sogar mit Bewaffneten, gegen ‘fremde Unter-werfung, Unterdrückung und Ausbeutung’.
Die Zurückdrängung dieses Prinzips durch die Regierungen im Laufe der Jahre – und sicher-lich besonders seit 9/11 – wurde angeführt durch die USA und Israel. Seitdem war es das Ziel, das Recht der nicht-staatlichen Akteure, sich gegen Unterdrückung zur Wehr zu setzen, zu de-legitimieren.
Wenn also Obama und die EU Israels Recht auf Selbstverteidigung aufrechterhalten, schlie-ßen sie damit nicht das Recht eines besetzten Volkes auf Selbstverteidigung ein. Nicht-staat-liche Akteure werden sogar als „Terroristen“ gebrandmarkt (eine Bezeichnung Israels für alle Aufständischen, Revolutionäre und alle Protestierende, die die Besatzungsmacht bedrohen) und so aller Legitimation beraubt. Sie sind damit keine Partei im Konflikt, mit der Verhand-lungen möglich sind. Wenn Sie den Schutz des Internationalen Rechts suchen, wie die Men-schen von Gaza es taten, dann begeben sie sich in etwas, das Israel „juristische Kriegsfüh-rung“ („lawfare“) nennt: „Terroristen“ benutzen das internationale Recht als Waffe gegen Demokratien. Israels Kampagne gegen diese ‚juristische Kriegsführung’ versucht natürlich, nicht-staatliche Akteure als Schurken darzustellen, aber „juristische Kriegsführung“ be-schreibt am besten Israels eigene Bemühungen, das Internationale Recht nach eigenem Bedarf zu verbiegen – eine Art asymmetrische ‚juristische Kriegführung’, um alle Beschränkungen zu beseitigen, denen Staaten unterliegen, die Kriege gegen ihre Bevölkerungen führen wollen.
Israels Kampagne der „juristischen Kriegsführung“ wird von zwei Leuten angeführt. Einer ist As Kasher, ein Professor für Philosophie und „Praktische Ethik“ an der Universität Tel Aviv, der Autor des Verhaltenskodex für die israelische Armee (IDF). Die Mitarbeit eines professio-nellen Ethikers in der israelischen Armee ist Grundlage für die oft aufgestellte Behauptung, die IDF sei die „moralischste Armee der Welt“. Der zweite ist Generalmajor Amos Yadlin, der frühere Chef des National Defense College, unter dessen Leitung Kasher und sein Team den Verhaltenskodex formulierten. Er ist heute der Chef des militärischen Geheimdienstes.
Es ist völlig angemessen und verständlich, dass Israel die Kampagne anführt, die Schutzvor-kehrungen für nichtkämpfende Zivilisten zu lockern, versichert Kasher energisch. „Die ent-scheidende Frage ist“, sagt er,
„wie aufgeklärt Länder sich verhalten. Wir in Israel sind in einer Schlüsselposi-tion der Rechtsentwicklung in diesem Bereich, weil wir im Kampf gegen den Terrorismus Fronterfahrung haben. Dies wird allmählich sowohl im israeli-schen Rechtssystem als auch im Ausland anerkannt….Was wir tun, ist  im Begriff Gesetz zu werden. Dies sind Konzepte, die nicht völlig legal sind, aber starke ethische Elemente enthalten.
Die Genfer Konvention basiert auf Hunderten von Jahren Tradition fairer Regeln des bewaffneten Kampfes. Die waren angemessen für die klassische Kriegsführung, als eine Armee gegen eine andere kämpfte. Aber in unserer Zeit sind diese Regeln über den Haufen geworfen worden. Es gibt internatio-nale Bestrebungen, die Regeln zu revidieren und dem Krieg gegen den Terro-rismus anzupassen. Gemäß den neuen Bestimmungen gibt es immer noch eine Unterscheidung, wer getroffen und wer nicht getroffen werden darf, aber nicht mehr so krass wie früher. Das Konzept der Proportionalität ist auch verändert worden….
Ich bin nicht optimistisch genug, anzunehmen, dass die Welt demnächst Israels füh-rende Position bei der Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts anerkennt. Meine Hoffnung ist jedoch, dass unsere Doktrin, vielleicht mit kleinen Veränderungen, in das Völkergewohnheitsrecht Eingang findet, um die Kriegsführung zu regulieren und Unheil zu begrenzen.“
Um eine philosophische Grundlage für die Aushöhlung der Prinzipien der Unterscheidung und Proportionalität zu liefern stellten Kasher und Yadlin eine “neue Doktrin der Militär-ethik“ auf, die auf ihrer Version einer „gerechten Kriegsdoktrin im Kampf gegen den Terror“ beruht. Damit bevorteilen sie Staaten in ihrem Kampf gegen nichtstaatliche Akteure, indem sie ihnen das Recht geben, einen Gegner „Terrorist“ zu nennen, ein Begriff, für den es im Internationalen Recht keine allgemein akzeptierte Definition gibt, und damit berauben sie ihn jeglichen rechtlichen Schutzes. Sie definieren „Terrorakt“
 als eine Aktion von Individuen oder Organisationen, die nicht im Auftrage eines Staates ausgeführt wird und den Zweck hat, Personen zu töten oder zu verletzen, die Mitglieder einer bestimmten Bevölkerung sind. Sie wollen sie in Schrecken versetzen (sie terrorisieren) und sie damit veranlassen, ihr Regime oder ihre Regierung oder politische Maßnahmen zu ändern, sei es aus politi-schen oder ideologischen (inklusive religiösen) Gründen.
Wenn wir die Worte „nicht im Auftrag eines Staates“ weglassen, dann entspricht diese Defi-nition eines Terrorakts genau Israels Dahiya-Doktrin. Laut Generalmajor Giora Eiland sollen Angriffe gegen Israel abgeschreckt werden, indem man „der Zivilbevölkerung in einem sol-chen Maße Schaden zufügt, dass Druck auf die feindlichen Kämpfer ausgeübt wird“. Wenn man den Kampf eines Volkes auf eine Serie einzelner Aktionen reduziert, kann man eine ge-samte Widerstandsbewegung als „terroristisch“ verunglimpfen, allein aufgrund einer Aktion oder spezieller Aktionen und ohne Rücksicht auf den Hintergrund oder die Gerechtigkeit der Sache. Wenn das einmal geschehen ist wird es leicht, nichtstaatlichen Widerstand zu krimina-lisieren, denn Terrorismus ist, in Kashers Worten, „völlig unmoralisch“.
Israels Versuch, die iranischen Revolutionswächter zur „Terrororganisation“ erklären zu lassen, obwohl sie staatliche Akteure sind, zeigt den tendenziösen Charakter Kashers und Yadlins philosophischer Definitionen, denn es passt nicht in ihre „staatlich/nichtstaatlich“ Einteilung. Was hält dann aber die internationale Gemeinschaft ab, die IDF und verschiedene geheime israelische Organisationen wie den Mossad oder Shin Bet (den Inlandsgeheimdienst) als „Terrororganisationen“ zu bezeichnen? Selbst der Goldstone-Bericht kam zu dem Schluss, dass Israels Angriff auf Gasa während der Operation Gegossenes Blei „eine bewusst unverhältnismäßige Attacke gewesen sei, konzipiert, um „eine zivile Bevölkerung zu bestrafen, zu erniedrigen und zu terrorisieren“.
Nachdem sie staatlicherseits definierte „Terrorakte“ delegitimiert haben, gehen Kasher und Yadlin daran, weitere staatliche Maßnahmen zu legitimieren wie jene, die Israel gegen die Hisbollah, Hamas, ja jeden palästinensischen Widerstand ergriffen hat, indem sie sich auf „Selbstverteidigung“ berufen, ein Anspruch, der laut der Theorie des gerechten Krieges und nach Artikel 51 der UN Charta nur für Staaten gilt. Sie beginnen bei ihrer Erklärung der Er-eignisse, die zum Angriff auf Gasa führten, mit den einzelnen Aktionen der „Terrororganisa-tion“, nämlich den Raketenangriffen auf Israel, ohne Berücksichtigung der 47 Jahre Besat-zung, der 25 Jahre der Einsperrung, der 7 Jahre eines von ihnen selbst so genannten Systems des Halb-Verhungerns und der Angriffe auf Hamas, die dem Raketenbeschuss vorausgingen – oder, um genau zu sein, dem Recht der Palästinenser, sich „fremder Unterdrückung, Herrschaft und Ausbeutung“ zu widersetzen.
Kasher und Yadlin unterstellen auch, dass Staaten keine Terrorakte ausführen können, weil sie ja Staaten sind und ein „legitimes Gewaltmonopol“ haben. Nicht-staatlicher „Terror von unten“, der sie so beunruhigt, ist jedoch verschwindend klein wenn man ihn mit „Terror von oben“ vergleicht, dem Staatsterrorismus. In seinem Buch „Tod durch die Regierung“ weist R. J. Pummel darauf hin, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts ungefähr 170 000 unschuldige Zivilisten von nicht-staatlichen Akteuren getötet wurden, sicher eine bedeutende Summe. Aber, fährt er fort,
während der ersten 88 Jahre des (20sten) Jahrhunderts sind fast 170 Millionen Männer, Frauen und Kinder erschossen, geschlagen, gefoltert, erdolcht worden, verbrannt, verhungert, erfroren, zerdrückt oder zu Tode gearbeitet; lebend verbrannt, ertränkt, bombardiert oder auf eine andere der tausendfachen Art getötet, mit der Regierungen auf  unbewaffnete, hilflose Bürger und Aus-länder eingewirkt haben. Die Toten könnten ungefähr 360 Millionen Menschen ausmachen.
Und das – geschrieben 1994 – schließt noch nicht Zaire, Bosnien, Somalia, Ruanda, Sadam Husseins Herrschaft, die Folgen der UN Sanktionen auf die irakische Zivilbevölkerung und andere staatlich gesponserte Morde ein, die geschahen, nachdem Rummel seine Zahlen zu-sammengestellt hatte. Es berücksichtigt auch nicht alle Arten von Staatsterrorismus, der nicht den Tod zur Folge hat: Folter, Inhaftierung, Unterdrückung, Hauszerstörungen, geplanter Hunger, Einschüchterung und vieles mehr.
“Wir leugnen nicht,” räumt Kasher ein, “dass ein Staat Maßnahmen zur Tötung von Personen ergreifen kann, um die Bevölkerung zu terrorisieren mit dem Ziel, ein politisches oder ideolo-gisches Ziel zu erreichen.” Er fügt jedoch hinzu,
 wenn solche Aktionen im Auftrag des Staates durchgeführt werden oder von seinen Geheimdiensten, dann wenden wir auf den sich daraus ergebenden moralischen Konflikt ethische und juristische Prinzipien an, die allgemein auf normale international Konflikte zwischen Staaten oder ähnlichen politischen Gebilden angewendet werden. In einem solchen Kontext macht sich ein Staat, der zahlreiche Bürger eines anderen Staates tötet, um die Bevölkerung zu terrorisieren, eines Kriegsverbrechens schuldig.
Kashers Vorbehalt – “ein Staat, der zahlreiche Bürger eines anderen Staates tötet, um die Bevölkerung zu terrorisieren” – bezieht sich nicht auf einen Staat, der seine eigenen Bürger terrorisiert und nimmt Israel aus der Verantwortung, denn die terrorisierte Bevölkerung Gazas ist nicht Bürger eines anderen Landes.
Israels Strategie der juristischen Kriegsführung beruht darauf, illegale Handlungen zu wieder-holen und sie jeweils mit der “neuen Militärethik” zu begründen. “Wenn man etwas lange genug tut”, sagt der Oberst der Reserve Daniel Reisner, der frühere Chef der Rechtsabteilung der IDF, “wird die Welt das akzeptieren. Das ganze international Recht basiert auf der Idee, dass eine Maßnahme, die heute verboten ist, zulässig wird, wenn sie von genug Staaten durch-geführt wird…. Das Internationale Recht kommt voran durch Rechtsverletzungen. Wir erfan-den die These der extra-legalen Hinrichtung (dass außergerichtliche Hinrichtungen erlaubt sind, wenn es nötig ist, eine Operation gegen die Bürger Israels zu stoppen und wenn die Rolle, die das Zielobjekt spielt für die Operation wesentlich ist) und wir mussten auf ihre Anerkennung drängen. Acht Jahre später ist sie anerkannt als innerhalb der Grenzen des Rechts. “Je öfter westliche Staaten Prinzipien, die ihren Ursprung in Israel haben, auf ihre nicht-traditionellen Konflikte in Orten wie Afghanistan oder Irak anwenden,” sagt Kasher, “desto größer ist die Chance, dass diese Prinzipien ein wertvoller Teil des Internationalen Rechts werden.”
Vor einigen Jahren (2005) veröffentlichte die Jerusalem Post einen aufschlussreichen Artikel eines israelischen “Experten des Internationalen Rechts”, der, auch wenn er es vorzog, ano-nym zu bleiben, erklärte:
 Das Internationale Recht ist die Sprache der Welt und es ist mehr oder weni-ger die Messlatte, an der wir uns heute messen. Es ist die Lingua Franca der internationalen Organisationen. Also must Du dort mitspielen, wenn du Mit-glied der Weltgemeinschaft sein willst. Und das Spiel geht so: Solange Du behauptest, Du arbeitest innerhalb des internationalen Rechts und vernünftige Argumente bereit hältst, dass das, was Du tust, innerhalb des internationalen Rechts ist, solange ist alles in Ordnung. So geht das. Das ist eine sehr zynische Sichtweise darüber, wie die Welt funktioniert. Also, wenn Du ein bisschen erfindungsreich oder sogar ein bisschen radikal bist, solange Du das in diesem Kontext erklären kannst, werden die meisten Staaten nicht sagen, dass Du ein Kriegsverbrecher bist.
Dies ist eine ernste Sache. Genauso wie Israel die Besatzung – die Waffen und Taktiken der Unterdrückung – an willige Kunden wie die US- und EU-Militärs, Sicherheitsdienste und Polizeitruppen exportiert, so exportiert Israel auch seine juristische Sachkompetenz zur Manipulation der IDF und seine wirkungsvollen PR(Hasbara)–Techniken. Gaza stellt dabei nicht mehr dar als ein Versuchslabor für diese unterschiedlichen Werkzeuge der Unter-drückung. Es ist die Globalisierung Gasas, die ein wichtiger israelischer Exportfaktor ist. Exporte brauchen jedoch lokale Vertreter, um das Produkt zu verpacken und einen Markt in der lokalen Wirtschaft zu erzeugen. So hat B’nai Brith in den USA das “Lawfare Projekt” unter dem Slogan “Schutz vor der Politisierung der Menschenrechte” <http://www.thelawfareproject.org>,  hervorgebracht, dessen Hauptstrategie darin besteht, prominente Rechtsexperten zu gewinnen, um Versuche zu delegitimieren, Israel für seine Verbrechen gegenüber dem Internationalen Humanitärem Recht zur Verantwortung zu ziehen.
Diese Globalisierung Gasas in militärischer wie juristischer Hinsicht macht den Slogan “wir sind alle Palästinenser”, der Ausdruck politischer Solidarität ist, auf uns alle anwendbar. Als Nebeneffekt wird noch ein Element hervorgehoben, dessen wir uns alle bewusst sein müssen: unsere Regierungen sind alle Israel.
(Jeff Halper ist Vorsitzender des Israeli Committee Against House Demolitions (ICAHD). Er ist zu erreichen unter: jeff@icahd.org) 


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