Wie Israel das internationale Recht durch “juristische Kriegsführung” aushöhlt
18. August
2014
Operation
‘Fels in der Brandung’
(Protective Shield) war nicht nur der militärische Angriff auf eine
vorwiegend aus Zivilisten bestehende Bevölkerung. Wie in seinen
vorangegangenen ‘Operationen’ ( Cast Lead – Gegossenes Blei im
Jahre 2008/09 und Pillar of Defense – Wol-kensäule im Jahre 2012),
war es auch
Teil eines andauernden Angriffes auf das humanitäre Völkerrecht
(IHL) durch ein exzellent koordiniertes Team von israelischen
Anwälten, Offizie-ren, PR-Leuten und Politikern, angeführt von, man
höre und staune, einem Ethikphilosophen. Das
Ziel der Bemühungen ist es nicht nur, zu verhindern, dass Israel
wegen schwerer Verlet- zungen der Menschenrechte und internationaler
Gesetze belangt werden kann, sondern auch, anderen Regierungen dabei
zu helfen, derartige Einschränkungen zu umgehen, wenn auch
sie sich in eine ‘asymmetrische Kriegführung’, ‘Niederschlagung
eines Aufstandes’ oder ‘Terro-rismusbekämpfung’ gegen Menschen
begeben, die sich gegen ihre Herrschaft wehren. Es handelt sich um
eine Kampagne, die Israel
‘juristische Kriegsführung’ nennt (lawfare).
Wir sollten sie sehr ernst nehmen.
Die dringende
Notwendigkeit dieser Kampagne wird unterstrichen durch eine Serie von
Rückschlägen und Herausforderungen, denen Israel sich in den
letzten zehn Jahren gegenüber sah. Sie begann mit der Anklage
Sharons durch ein belgisches Gericht im Jahre 2001 wegen seiner
Verwicklung in die Massaker von Sabra und Shatila. Er entkam der
Verhandlung. Im Gefolge der Operation Defensive Shield (“Operation
Schutzschild”) im Jahre 2002 veranlass-te Sharons Regierung die
Zerstörung von Hunderten von palästinensischen Häusern in der West
Bank, die völlige Zerstörung praktisch der gesamten Infrastruktur
der palästinensischen Städte, und sie war für den Tod von 497
Palästinensern verantwortlich. Israel war deshalb wegen
Kriegsverbrechens angeklagt, vereitelte aber erfolgreich eine
Untersuchung durch die UN.
Im
Jahre 2004 befand der Internationale Gerichtshof in Den Haag
auf Antrag der Un-Vollver-sammlung, dass
Israels Bau der Mauer innerhalb des palästinensischen Territoriums ‘
gegen internationales Recht verstößt’ und dass die Mauer
abgerissen werden muss. Dieses Urteil wurde nahezu einstimmig
von der UN-Vollversammlung bestätigt, nur Israel, die Vereinigten
Staaten, Australien und ein paar Atolle im Pazifik stimmten dagegen.
Allerdings mangelte es auch hier
wieder an den Möglichkeiten der Umsetzung.
Im zweiten
Libanonkrieg im Jahre 2006, nachdem Israel den Beiruter Stadtteil
Dahiya, eine ‘Festung’ der Hizbollah, zerstört hatte,
verkündete Israel seine ‘Dahiya Doktrin’. Gadi Eisenkott,
der Chef des Nordkommandos der IDF erklärte,
dass das, was in Dahiya im Jahre 2006 geschah ‘in jedem Dorf
passieren wird, von dem aus Israel beschossen wird….Wir
werden unverhältnismäßige Gewalt anwenden und große Zerstörung
anrichten. Nach unserer Meinung handelt es sich dabei nicht um
zivile Dörfer, sondern um Militärbasen…. Dies ist keine
Empfehlung, dies ist ein Plan. Und der Plan wurde gebilligt.’
Und er wurde
auch erneut angewendet. Der Goldstone-Bericht zu der Operation
‘Gegossenes Blei’ kam zu dem Schluss,
dass ’ die Taktiken, die vom israelischen Militär in der
Gaza-Offensive (von 2008/09) angewandt wurden, übereinstimmen mit
Praktiken, die zuvor angewendet wurden, zuletzt im Libanonkrieg von
2006. Ein Konzept, das die ‘Dahiya-Doktrin’ genannt wurde,
kam zum Tragen. Es schloss die Anwen-dung von unverhältnismäßiger
Gewalt und die Verursachung großen Schadens ein, die Zerstörung
zivilen Eigentums und ziviler Infrastruktur, so wie Leid, das der
Zivilbevölkerung zugefügt wurde.
Die
Dahiya Doktrin verletzt zwei Grundprinzipien des humanitären
Völkerrechts: Das Unter-scheidungsprinzip
und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das
Unterscheidungsprinzip, das in den vier Genfer Konventionen von 1949
und in zweien ihrer Zusatzprotokolle aus dem Jahr 1977, niedergelegt
ist, besteht aus einer verbindlichen Regel: Zivilisten
dürfen nicht von Ar-meen angegriffen werden. Im Gegenteil,
sie müssen geschützt werden. Gewalt gegen Leben und Personen ist
streng verboten, ebenso wie ‘Gräueltaten, die gegen die
persönliche Würde gerichtet sind.’
Das
Prinzip der
Verhältnismäßigkeit, das ebenfalls in den Protokollen
der Vierten Genfer Konvention von 1977 niedergelegt ist, sieht
es als Kriegsverbrechen an, wenn absichtlich ein militärisches
Objekt angegriffen wird, wohlwissend, dass die Anzahl der Zivilisten,
die dabei verletzt werden, unverhältnismäßig hoch im Vergleich zum
erwarteten militärischen Vorteil sein wird. ‘Die
Anwesenheit von Personen innerhalb der Zivilbevölkerung, die nicht
wirkli-che Zivilisten sind,’ sagt Artikel 50 (3) des Protokolls Nr.
1, beraubt die Bevölkerung als Ganzes nicht ihres zivilen
Charakters.’
Diese Prinzipien
wurden nicht nur erneut während des gegenwärtigen Krieges verletzt
– und die israelische Regierung, dies wohl wissend, hat ihre
Verteidigung vor dem internationalen Untersuchungsausschuss des
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und vor dem interna-tionalen
Strafgerichtshof (sollte sich die Palästinensische Autonomiebehörde
dorthin wenden) sorgfältig vorbereitet. Darüber
hinaus wurde eine zusätzliche Doktrin der beabsichtigten
Un-verhältnismäßigkeit erklärt und angewandt: die
Hannibal Doktrin. Diese
besagt, dass, wenn ein israelischer Soldat gefangengenommen wird, es
zur Hauptaufgabe der Armee wird, ihn zu retten, ohne Rücksicht
darauf, wie viele Zivilisten dabei getötet oder verletzt werden,
wie viel Schaden dabei angerichtet wird, oder selbst ob der gefangene
Soldat selbst dabei durch‘Eigen-beschuss’ getötet oder verletzt
wird. So kam es, dass, als man (fälschlicherweise, wie sich später
herausstellte) glaubte, dass ein israelischer Soldat von der Hamas in
der Gegend von Rafah gefangengenommen worden sei, das gesamte
Stadtgebiet unter massives israelisches Artilleriefeuer und
Luftangriffe geriet, bei denen Hunderte von Gebäuden zerstört und
min-destens 130 Menschen getötet wurden.
Die
Verletzungen der Prinzipien der Unterscheidung und der
Verhältnismäßigkeit stellen schwere Brüche des
internationalen Rechts dar – man
darf sich gar nicht vorstellen, was Staaten tun würden, wenn diese
Prinzipien abgeschafft oder wesentlich verwässert würden. Aber dies
genau ist es, was Israel anstrebt.
Israel
benutzt die Palästinenser als Versuchskaninchen in einer kühnen und
aggressiven Strategie, internationales Recht ‘auszubessern’.
Israel möchte neue Kategorien von Kom-battanten schaffen –
‘ ungesetzliche Akteure’ wie etwa ‘Terroristen’,
‘Aufständische’ und ‘nicht-staatliche Akteure’ gemeinsam mit
der Zivilbevölkerung, die sie unterstützt. Danach
könnte dann niemand, der sich staatlicher Unterdrückung widersetzt,
mehr Schutz beanspru-chen. Dies ist besonders wichtig, da, wie
uns der britische General Rupert Smith darlegt, mo-derner Krieg sich
rapide vom traditionellen Modell des Krieges zwischen Staaten
wegbewegt, hin zu dem, was er ein ‘neues Paradigma’ nennt, dem
‘Krieg im Volk’ – in dem wir ‘im Volk kämpfen und nicht auf
dem Schlachtfeld.’ Ein unter Militärs populärerer Begriff, der
der asymmetrischen Kriegsführung, ist vielleicht ehrlicher
und aufschlussreicher, da er das Machtgefälle unterstreicht, das
zwischen Staaten und ihren Armeen einerseits und der relativen
Schwäche der nicht-staatlichen Kräfte, die ihnen gegenüber stehen,
existiert.
Doch ‘das
Volk’, diese nervtötenden ‘nicht-staatlichen Akteure’, hat
auch Rechte. Damals im Jahre 1960
hat die Erklärung der UN-Vollversammlung zur Gewährung der
Unabhängigkeit kolonialer Länder und Völker das
Selbstbestimmungsrecht der Völker unterstrichen und,
infolgedessen, ihr Recht
auf Widerstand, sogar mit Bewaffneten, gegen ‘fremde
Unter-werfung, Unterdrückung und Ausbeutung’.
Die
Zurückdrängung dieses Prinzips durch die Regierungen im
Laufe der Jahre – und sicher-lich besonders seit 9/11 – wurde
angeführt durch die USA und Israel. Seitdem war es das Ziel,
das Recht der nicht-staatlichen Akteure, sich gegen Unterdrückung
zur Wehr zu setzen, zu de-legitimieren.
Wenn
also Obama und die EU Israels Recht auf Selbstverteidigung
aufrechterhalten, schlie-ßen sie damit nicht das Recht eines
besetzten Volkes auf Selbstverteidigung ein. Nicht-staat-liche
Akteure werden sogar als „Terroristen“ gebrandmarkt (eine
Bezeichnung Israels für alle Aufständischen, Revolutionäre und
alle Protestierende, die die Besatzungsmacht bedrohen) und
so aller Legitimation beraubt. Sie sind damit keine Partei im
Konflikt, mit der Verhand-lungen möglich sind. Wenn Sie den
Schutz des Internationalen Rechts suchen, wie die Men-schen von Gaza
es taten, dann begeben sie sich in etwas, das Israel „juristische
Kriegsfüh-rung“ („lawfare“) nennt: „Terroristen“ benutzen
das internationale Recht als Waffe gegen Demokratien. Israels
Kampagne gegen diese ‚juristische
Kriegsführung’ versucht natürlich, nicht-staatliche Akteure als
Schurken darzustellen, aber „juristische Kriegsführung“
be-schreibt am besten Israels eigene Bemühungen, das Internationale
Recht nach eigenem Bedarf zu verbiegen – eine Art
asymmetrische ‚juristische Kriegführung’, um alle Beschränkungen
zu beseitigen, denen Staaten unterliegen, die Kriege gegen ihre
Bevölkerungen führen wollen.
Israels Kampagne
der „juristischen Kriegsführung“ wird von zwei Leuten angeführt.
Einer ist As Kasher, ein Professor für Philosophie und „Praktische
Ethik“ an der Universität Tel Aviv, der Autor des Verhaltenskodex
für die israelische Armee (IDF). Die Mitarbeit eines
professio-nellen Ethikers in der israelischen Armee ist Grundlage für
die oft aufgestellte Behauptung, die IDF sei die „moralischste
Armee der Welt“. Der zweite ist Generalmajor Amos Yadlin, der
frühere Chef des National Defense College, unter dessen Leitung
Kasher und sein Team den Verhaltenskodex formulierten. Er ist heute
der Chef des militärischen Geheimdienstes.
Es ist völlig
angemessen und verständlich, dass
Israel die Kampagne anführt, die Schutzvor-kehrungen für
nichtkämpfende Zivilisten zu lockern, versichert Kasher
energisch. „Die ent-scheidende Frage ist“, sagt er,
„wie aufgeklärt Länder sich verhalten. Wir in Israel sind in
einer Schlüsselposi-tion der Rechtsentwicklung in diesem Bereich,
weil wir im Kampf gegen den Terrorismus Fronterfahrung haben. Dies
wird allmählich sowohl im israeli-schen Rechtssystem als auch im
Ausland anerkannt….Was wir tun, ist im Begriff Gesetz zu
werden. Dies sind Konzepte, die nicht völlig legal sind, aber
starke ethische Elemente enthalten.
Die Genfer Konvention basiert auf Hunderten von Jahren Tradition
fairer Regeln des bewaffneten Kampfes. Die waren angemessen für die
klassische Kriegsführung, als eine Armee gegen eine andere kämpfte.
Aber in unserer Zeit sind diese Regeln über den Haufen geworfen
worden. Es gibt internatio-nale
Bestrebungen, die Regeln zu revidieren und dem Krieg gegen den
Terro-rismus anzupassen. Gemäß den neuen Bestimmungen
gibt es immer noch eine Unterscheidung, wer getroffen und wer nicht
getroffen werden darf, aber nicht mehr so krass wie früher. Das
Konzept der Proportionalität ist auch verändert worden….
Ich bin nicht optimistisch genug, anzunehmen, dass die Welt demnächst
Israels füh-rende Position bei der Entwicklung des
Völkergewohnheitsrechts anerkennt. Meine Hoffnung ist jedoch, dass
unsere Doktrin, vielleicht mit kleinen Veränderungen, in das
Völkergewohnheitsrecht Eingang findet, um die Kriegsführung zu
regulieren und Unheil zu begrenzen.“
Um eine
philosophische Grundlage für die Aushöhlung der Prinzipien der
Unterscheidung und Proportionalität zu liefern stellten Kasher und
Yadlin eine “neue Doktrin der
Militär-ethik“ auf, die
auf ihrer Version einer „gerechten Kriegsdoktrin im Kampf gegen den
Terror“ beruht. Damit bevorteilen sie Staaten in ihrem Kampf
gegen nichtstaatliche Akteure, indem sie ihnen das Recht geben, einen
Gegner „Terrorist“ zu nennen, ein Begriff, für den es im
Internationalen Recht keine allgemein akzeptierte Definition gibt,
und damit berauben sie ihn jeglichen rechtlichen Schutzes. Sie
definieren „Terrorakt“
als eine Aktion von
Individuen oder Organisationen, die nicht im Auftrage eines Staates
ausgeführt wird und den Zweck hat, Personen zu töten oder zu
verletzen, die Mitglieder einer bestimmten Bevölkerung sind. Sie
wollen sie in Schrecken versetzen (sie terrorisieren) und sie damit
veranlassen, ihr Regime oder ihre Regierung oder politische Maßnahmen
zu ändern, sei es aus politi-schen oder ideologischen (inklusive
religiösen) Gründen.
Wenn
wir die Worte „nicht im Auftrag eines Staates“ weglassen, dann
entspricht diese Defi-nition eines Terrorakts genau Israels
Dahiya-Doktrin. Laut Generalmajor Giora Eiland sollen Angriffe
gegen Israel abgeschreckt werden, indem man „der Zivilbevölkerung
in einem sol-chen Maße Schaden zufügt, dass Druck auf die
feindlichen Kämpfer ausgeübt wird“. Wenn
man den Kampf eines Volkes auf eine Serie einzelner Aktionen
reduziert, kann man eine ge-samte Widerstandsbewegung als
„terroristisch“ verunglimpfen, allein aufgrund einer
Aktion oder spezieller Aktionen und ohne Rücksicht auf den
Hintergrund oder die Gerechtigkeit der Sache. Wenn
das einmal geschehen ist wird es leicht, nichtstaatlichen Widerstand
zu krimina-lisieren, denn Terrorismus ist, in Kashers Worten,
„völlig unmoralisch“.
Israels Versuch,
die iranischen Revolutionswächter zur „Terrororganisation“
erklären zu lassen, obwohl sie staatliche Akteure sind, zeigt den
tendenziösen Charakter Kashers und Yadlins philosophischer
Definitionen, denn es passt nicht in ihre „staatlich/nichtstaatlich“
Einteilung. Was hält dann aber die internationale Gemeinschaft ab,
die IDF und verschiedene geheime israelische Organisationen wie den
Mossad oder Shin Bet (den Inlandsgeheimdienst) als
„Terrororganisationen“ zu bezeichnen? Selbst der
Goldstone-Bericht
kam zu dem Schluss, dass Israels Angriff auf Gasa während der
Operation Gegossenes Blei
„eine bewusst unverhältnismäßige Attacke gewesen sei,
konzipiert, um „eine zivile Bevölkerung zu bestrafen, zu
erniedrigen und zu terrorisieren“.
Nachdem sie
staatlicherseits definierte „Terrorakte“ delegitimiert haben,
gehen Kasher und Yadlin daran, weitere staatliche Maßnahmen zu
legitimieren wie jene, die Israel gegen die Hisbollah, Hamas, ja
jeden palästinensischen Widerstand ergriffen hat, indem sie sich auf
„Selbstverteidigung“
berufen, ein Anspruch, der
laut der Theorie des gerechten Krieges und nach Artikel 51 der UN
Charta nur für Staaten gilt.
Sie beginnen bei ihrer Erklärung der Er-eignisse, die zum Angriff
auf Gasa führten, mit den einzelnen Aktionen der
„Terrororganisa-tion“, nämlich den Raketenangriffen auf Israel,
ohne Berücksichtigung der 47 Jahre Besat-zung, der 25 Jahre der
Einsperrung, der 7 Jahre eines von ihnen selbst so genannten Systems
des Halb-Verhungerns und der Angriffe auf Hamas, die dem
Raketenbeschuss vorausgingen – oder, um genau zu sein, dem Recht
der Palästinenser, sich „fremder Unterdrückung, Herrschaft und
Ausbeutung“ zu widersetzen.
Kasher und
Yadlin unterstellen auch, dass Staaten keine Terrorakte ausführen
können, weil sie ja Staaten sind und ein „legitimes Gewaltmonopol“
haben. Nicht-staatlicher „Terror von unten“, der sie so
beunruhigt, ist jedoch verschwindend klein wenn man ihn mit „Terror
von oben“ vergleicht, dem Staatsterrorismus. In seinem Buch „Tod
durch die Regierung“ weist R. J. Pummel darauf hin, dass im Laufe
des 20. Jahrhunderts ungefähr 170 000 unschuldige Zivilisten von
nicht-staatlichen Akteuren getötet wurden, sicher eine bedeutende
Summe. Aber, fährt er fort,
während der ersten 88 Jahre des (20sten) Jahrhunderts sind fast 170
Millionen Männer, Frauen und Kinder erschossen, geschlagen,
gefoltert, erdolcht worden, verbrannt, verhungert, erfroren,
zerdrückt oder zu Tode gearbeitet; lebend verbrannt, ertränkt,
bombardiert oder auf eine andere der tausendfachen Art getötet, mit
der Regierungen auf unbewaffnete, hilflose Bürger und
Aus-länder eingewirkt haben. Die Toten könnten ungefähr 360
Millionen Menschen ausmachen.
Und das –
geschrieben 1994 – schließt noch nicht Zaire, Bosnien, Somalia,
Ruanda, Sadam Husseins Herrschaft, die Folgen der UN Sanktionen auf
die irakische Zivilbevölkerung und andere staatlich gesponserte
Morde ein, die geschahen, nachdem Rummel seine Zahlen
zu-sammengestellt hatte. Es berücksichtigt auch nicht alle Arten von
Staatsterrorismus, der nicht den Tod zur Folge hat: Folter,
Inhaftierung, Unterdrückung, Hauszerstörungen, geplanter Hunger,
Einschüchterung und vieles mehr.
“Wir leugnen
nicht,” räumt Kasher ein, “dass ein Staat Maßnahmen zur Tötung
von Personen ergreifen kann, um die Bevölkerung zu terrorisieren mit
dem Ziel, ein politisches oder ideolo-gisches Ziel zu erreichen.”
Er fügt jedoch hinzu,
wenn solche Aktionen im Auftrag des Staates durchgeführt
werden oder von seinen Geheimdiensten, dann wenden wir auf den sich
daraus ergebenden moralischen Konflikt ethische und juristische
Prinzipien an, die allgemein auf normale international Konflikte
zwischen Staaten oder ähnlichen politischen Gebilden angewendet
werden. In einem solchen Kontext macht sich ein Staat, der
zahlreiche Bürger eines anderen Staates tötet, um die Bevölkerung
zu terrorisieren, eines Kriegsverbrechens schuldig.
Kashers
Vorbehalt – “ein Staat, der zahlreiche Bürger eines anderen
Staates tötet, um die Bevölkerung zu terrorisieren” – bezieht
sich nicht auf einen Staat, der seine eigenen Bürger terrorisiert
und nimmt Israel aus der Verantwortung, denn die terrorisierte
Bevölkerung Gazas ist nicht
Bürger eines anderen Landes.
Israels
Strategie der juristischen Kriegsführung beruht darauf, illegale
Handlungen zu wieder-holen und sie jeweils mit der “neuen
Militärethik” zu begründen. “Wenn man etwas lange genug tut”,
sagt der Oberst der Reserve Daniel Reisner, der frühere Chef der
Rechtsabteilung der IDF, “wird die Welt das akzeptieren. Das ganze
international Recht basiert auf der Idee, dass eine Maßnahme, die
heute verboten ist, zulässig wird, wenn sie von genug Staaten
durch-geführt wird…. Das Internationale Recht kommt voran durch
Rechtsverletzungen. Wir erfan-den die These der extra-legalen
Hinrichtung (dass außergerichtliche Hinrichtungen erlaubt sind, wenn
es nötig ist, eine Operation gegen die Bürger Israels zu stoppen
und wenn die Rolle, die das Zielobjekt spielt für die Operation
wesentlich ist) und wir mussten auf ihre Anerkennung drängen. Acht
Jahre später ist sie anerkannt als innerhalb der Grenzen des Rechts.
“Je öfter westliche Staaten Prinzipien, die ihren Ursprung in
Israel haben, auf ihre nicht-traditionellen Konflikte in Orten wie
Afghanistan oder Irak anwenden,” sagt Kasher, “desto größer ist
die Chance, dass diese Prinzipien ein wertvoller Teil des
Internationalen Rechts werden.”
Vor einigen
Jahren (2005) veröffentlichte die Jerusalem Post einen
aufschlussreichen Artikel eines israelischen “Experten des
Internationalen Rechts”, der, auch wenn er es vorzog, ano-nym zu
bleiben, erklärte:
Das Internationale Recht ist die Sprache der Welt und es ist
mehr oder weni-ger die Messlatte, an der wir uns heute messen. Es ist
die Lingua Franca der internationalen Organisationen. Also must Du
dort mitspielen, wenn du Mit-glied der Weltgemeinschaft sein willst.
Und das Spiel geht so: Solange Du
behauptest, Du arbeitest innerhalb des internationalen Rechts und
vernünftige Argumente bereit hältst, dass das, was Du tust,
innerhalb des internationalen Rechts ist, solange ist alles in
Ordnung. So geht das. Das ist eine sehr zynische Sichtweise
darüber, wie die Welt funktioniert. Also, wenn Du ein bisschen
erfindungsreich oder sogar ein bisschen radikal bist, solange Du das
in diesem Kontext erklären kannst, werden die meisten Staaten nicht
sagen, dass Du ein Kriegsverbrecher bist.
Dies ist eine
ernste Sache. Genauso wie Israel die Besatzung – die Waffen und
Taktiken der Unterdrückung – an willige Kunden wie die US- und
EU-Militärs, Sicherheitsdienste und Polizeitruppen exportiert, so
exportiert Israel auch seine juristische Sachkompetenz zur
Manipulation der IDF und seine wirkungsvollen PR(Hasbara)–Techniken.
Gaza stellt dabei nicht
mehr dar als ein Versuchslabor für diese unterschiedlichen Werkzeuge
der Unter-drückung. Es ist die Globalisierung Gasas, die ein
wichtiger israelischer Exportfaktor ist. Exporte brauchen
jedoch lokale Vertreter, um das Produkt zu verpacken und einen Markt
in der lokalen Wirtschaft zu erzeugen. So hat B’nai Brith in den
USA das “Lawfare Projekt” unter dem Slogan “Schutz vor der
Politisierung der Menschenrechte”
<http://www.thelawfareproject.org>, hervorgebracht,
dessen Hauptstrategie darin besteht, prominente Rechtsexperten zu
gewinnen, um Versuche zu delegitimieren, Israel für seine Verbrechen
gegenüber dem Internationalen Humanitärem Recht zur Verantwortung
zu ziehen.
Diese
Globalisierung Gasas in militärischer wie juristischer Hinsicht
macht den Slogan “wir sind alle
Palästinenser”, der Ausdruck politischer Solidarität ist,
auf uns alle anwendbar. Als Nebeneffekt wird noch ein Element
hervorgehoben, dessen wir uns alle bewusst sein müssen: unsere
Regierungen sind alle Israel.
(Jeff Halper
ist Vorsitzender des Israeli Committee Against House Demolitions
(ICAHD). Er ist zu erreichen unter: jeff@icahd.org)
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