Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation am 22. Juli 2014
»Wir müssen wachsam sein«
Vor dem Hintergrund der aktuellen Zuspitzungen im Ukraine-Konflikt hielt Wladimir Putin am Dienstag im Kreml vor dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation – einem Gremium, in dem die wichtigsten Politiker Rußlands zur gemeinsamen Entscheidungsfindung zusammenkommen – eine Grundsatzrede. Darin befaßte sich der russische Präsident mit strategischen Fragen der Souveränität und territorialen Integrität des Landes. jW dokumentiert den Beitrag im vollen Wortlaut.
Wir werden uns heute mit der Schlüsselfrage der Aufrechterhaltung der Souveränität und territorialen Integrität dieses Landes befassen. Uns allen ist bewußt, wie viele politische, ethnische, rechtliche, soziale und andere Aspekte dieses Thema umfaßt.
Souveränität und territoriale Integrität sind, wie ich schon sagte, grundlegende Werte. Wir beziehen uns auf den Erhalt der Unabhängigkeit und Einheit unseres Staates, auf den verläßlichen Schutz unseres Territoriums, unseres Verfassungssystems und auf die frühzeitige Neutralisierung innerer wie äußerer Bedrohungen, von denen es in der heutigen Welt etliche gibt. Ich sollte gleich von Anfang an unterstreichen, daß, offenkundigerweise, keine unmittelbare militärische Bedrohung der Souveränität und territorialen Integrität dieses Landes existiert. Garantiert wird dies in erster Linie durch das weltweite strategische Gleichgewicht der Kräfte.
Wir für unseren Teil halten uns aufs Strengste an die Normen des internationalen Rechts, auch mit unseren Verpflichtungen gegenüber unseren Partnern, und wir erwarten, daß andere Länder, Staatenbündnisse und militärpolitische Allianzen dasselbe tun, während Rußland glücklicherweise keiner Allianz angehört. Auch das ist eine Garantie unserer Souveränität.
Jede Nation, die Mitglied einer Allianz ist, gibt ihre Souveränität teilweise auf. Das entspricht nicht immer den nationalen Interessen des betreffenden Landes, aber es ist dessen souveräne Entscheidung. Wir erwarten, daß unsere nationalen Interessen respektiert werden und daß Kontroversen, wie es sie immer gibt, ausschließlich auf dem Wege diplomatischer Bemühungen, durch Verhandlungen, gelöst werden. Niemand sollte sich in unsere inneren Angelegenheiten einmischen.
Nichtsdestoweniger hören wir heutzutage immer häufiger von Ultimaten und Sanktionen. Schon der Begriff staatliche Souveränität selbst wird ausgehöhlt. Unerwünschte Regimes, Länder, die eine unabhängige Politik verfolgen oder die irgend jemandes Interessen im Weg stehen, werden destabilisiert. Die Mittel für diesen Zweck sind sogenannte bunte Revolutionen, oder, klar formuliert, von außen angezettelte und finanzierte Machtübernahmen.
Der Fokus dabei liegt natürlich auf internen Problemen. Jedes Land hat selbstverständlich eine Menge Probleme, insbesondere die instabileren Staaten oder solche mit kompliziertem Regime. Es gibt Probleme – es fragt sich nur, weshalb sie dafür benutzt werden sollten, ein Land zu destabilisieren und zu spalten – so, wie wir es heute häufig in verschiedenen Teilen der Welt erleben.
Die Kräfte, die dabei zum Einsatz kommen, sind radikal, nationalistisch, oft auch neofaschistisch, wie es unglücklicherweise in vielen postsowjetischen Staaten der Fall war und in der Ukraine jetzt der Fall ist. Was wir dort sehen, ist praktisch dasselbe.
Leute kamen durch Waffengewalt und durch verfassungswidrige Mittel an die Macht. Zugestanden, sie hielten nach der Machtübernahme Wahlen ab, dennoch ging die Macht auf wundersame Weise wieder an diejenigen über, die diese Machtübernahme entweder finanziert oder durchgeführt hatten. Ohne jeden Versuch, Verhandlungen aufzunehmen, sind sie unterdessen bestrebt, jenen Bevölkerungsteil gewaltsam zu unterdrücken, der mit diesem Gang der Dinge nicht einverstanden ist. Gleichzeitig präsentieren sie Rußland ein Ultimatum: Entweder laßt ihr uns dabei gewähren, wie wir den Bevölkerungsteil zerstören, der ethnisch, kulturell und historisch Rußland nahesteht, oder wir leiten Sanktionen gegen euch ein. Das ist natürlich eine seltsame und völlig inakzeptable Logik.
Was die furchtbare Tragödie betrifft, die sich im Himmel über Donezk ereignet hat, so möchten wir den Familien der Opfer erneut unser Mitgefühl aussprechen; es ist eine furchtbare Tragödie. Rußland wird alles in seiner Kraft Stehende tun, um sicherzustellen, daß es zu einer exakten, umfassenden und transparenten Untersuchung kommt. Wir sind aufgefordert, Einfluß auf die Milizen im Südosten (der Ukraine, jW) zu nehmen. Wie ich sagte, werden wir alles in unserer Kraft Stehende tun, aber das ist längst nicht genug.
Während die Kräfte der Miliz gestern die sogenannten Blackboxes übergaben, starteten die Streitkräfte der Ukraine einen Panzerangriff auf die Stadt Donezk. Die Panzer kämpften sich bis zum Bahnhof vor und eröffneten das Feuer auf ihn. Internationale Experten, die den Ort des Desasters untersuchen wollten, konnten nicht aus der Deckung kommen. Offensichtlich waren es nicht die Kräfte der Miliz, die auf sich selbst schossen.
Wir sollten endlich die Kiewer Behörden auffordern, sich an elementare Normen menschlichen Anstands zu halten und einen zumindest kurzzeitigen Waffenstillstand zu erklären, damit die Untersuchung stattfinden kann. Wir werden natürlich alles tun, um sicherzustellen, daß diese Untersuchung gründlich ist.
Das genau ist der Grund, weshalb Rußland die von Australien eingebrachte Resolution des (UN-, jW) Sicherheitsrates unterstützt hat. Wir werden fortfahren, mit allen Partnern zusammenzuarbeiten, um eine vollständige und umfassende Untersuchung zu garantieren. Wenn solche Szenarien jedoch zur generellen Praxis werden, ist das, wie ich schon sagte, absolut inakzeptabel und kontraproduktiv. Sie destabilisieren die bestehende Weltordnung. Dergleichen Methoden werden bei Rußland zweifellos nicht verfangen. Die Rezepte, die bei schwächeren Staaten voller innerer Konflikte angewandt werden, funktionieren bei uns nicht. Unser Volk, die Bürger Rußlands, werden das nicht geschehen lassen und dies niemals akzeptieren.
Dennoch werden offenkundig Versuche unternommen, die soziale und ökonomische Situation zu destabilisieren, Rußland auf die ein oder andere Art zu schwächen oder unsere Schwachstellen anzugreifen, und man wird in erster Linie fortfahren, uns mit Blick auf die Lösung internationaler Probleme gefälliger zu machen.
Sogenannte internationale Wettbewerbsmechanismen werden ebenfalls benutzt (das gilt sowohl für die Politik wie für die Wirtschaft). Zu diesem Zweck werden die Fähigkeiten zu »besonderen Dienstleistungen« angewandt, in Verbindung mit moderner Informations- und Kommunikationstechnologie und abhängige, marionettenhafte Nichtregierungsorganisationen benutzt – sogenannte weiche Zwangsmittel. Das offensichtlich ist es, was manche Länder unter Demokratie verstehen.
Wir müssen diesen Herausforderungen angemessen begegnen und, am wichtigsten, nicht nachlassen, diejenigen Probleme systematisch zu lösen, die eine potentielle Gefahr für die Einheit unseres Landes und unserer Gesellschaft darstellen.
In den letzten Jahren haben wir unseren Staat und unsere öffentlichen Institutionen, die Grundlagen des russischen Föderalismus, gestärkt, und wir haben Fortschritte in der regionalen Entwicklung, in der Lösung ökonomischer und sozialer Aufgaben gemacht. Unsere Exekutivorgane und Dienste stehen im Kampf gegen Terrorismus und Extremismus; wir stellen unsere Nationalitätenpolitik auf eine modernere Grundlage und passen die Ausgaben für Bildung an; wir bekämpfen unablässig die Korruption – all dies garantiert unsere Sicherheit und Souveränität.
Zugleich sollten wir diese Themen im Auge behalten. Falls nötig, müssen wir zusätzliche Mittel entwickeln und einsetzen. Wir brauchen auf diesen Gebieten einen langfristigen Aktionsplan, strategische Dokumente und Entschließungen. Mit Blick darauf möchte ich auf verschiedene primäre Herausforderungen hinweisen.
Die erste besteht darin, interethnische Harmonie zu stärken, für eine kompetente Migrationspolitik zu sorgen und unnachgiebig auf Untätigkeit von Amtspersonen zu reagieren wie auch auf Straftaten, die eventuell auf interethnische Konflikte zurückzuführen sind.
Es sind dies Herausforderungen für alle Regierungsebenen, von der föderalen bis zur kommunalen. Und selbstverständlich ist es für unsere Zivilgesellschaft extrem wichtig, eine aktive Rolle zu spielen und auf Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten zu reagieren und so Radikalismus und Extremismus vorzubeugen.
Wir sind in besonderer Weise auf die tätige Mithilfe der Zivilgesellschaft angewiesen, um das staatliche System mit Blick auf die Nationalitätenpolitik zu verbessern und junge Leute im Geist des Patriotismus und der Verantwortung für ihr Heimatland zu erziehen, was besonders wichtig ist. Wir haben das jüngst in aller Ausführlichkeit bei einem Treffen des Rates für interethnische Beziehungen erörtert.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich deutlich erklären, daß wir – mit Hilfe der Zivilgesellschaft – niemals dem Gedanken anhängen werden, gleichsam mit hartem Durchgreifen allein unsere Arbeit auf den genannten Gebieten verbessern zu können. Das werden wir unter keinen Umständen tun; wir werden uns zunächst und vor allem auf die Zivilgesellschaft stützen.
Unsere zweite große Herausforderung ist der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung. Der Vorrang der Verfassung und die ökonomische und rechtliche Einheit müssen in ganz Rußland gewährleistet sein. Föderale Standards, wie sie in der Verfassung definiert sind, sind unverletzlich, und niemand hat das Recht, das Gesetz zu brechen und Rechte der Bürger zu verletzen.
Es ist wichtig für alle Bürger der Russischen Föderation, daß sie, ungeachtet ihres Wohnortes, die gleichen Rechte und die gleichen Chancen haben. Das ist die Grundlage eines demokratischen Systems. Wir müssen die Verwirklichung dieser verfassungsmäßigen Grundsätze aufmerksam verfolgen, und zu diesem Zweck ist es erforderlich, ein klares System staatlicher Ordnung aufzubauen, danach strebend, daß alle seine Teile als Gesamtheit funktionieren, präzise und systematisch. Das sollte eine wachsende Rolle der lokalen Behörden im Rahmen des Regierungsmechanismus der Russischen Föderation einschließen. Und selbstverständlich sollte eine Stärkung der Effizienz des Rechtssystems, der Arbeit der Strafverfolger und die der Aufsichts- und Kontrollbehörden die Staatlichkeit der gesamten Föderation stärken.
Die dritte Hauptherausforderung ist eine nachhaltige und ausgeglichene ökonomische und soziale Entwicklung. Gleichzeitig ist es von fundamentaler Bedeutung, territoriale und regionale Faktoren zu berücksichtigen. Ich will damit sagen, daß wir eine vorrangige Entwicklung strategisch wichtiger Regionen, einschließlich des Fernen Ostens und anderer Gebiete, gewährleisten müssen; und wir müssen gleichzeitig die drastischen Unterschiede zwischen den Regionen verkleinern, die hinsichtlich der ökonomischen Situation und dem Lebensstandard der Menschen bestehen. All dies gilt es bei der Entwicklung von föderalen und Regionalprogrammen zu berücksichtigen, bei der Verbesserung des Finanzausgleichs und dem Entwurf von Plänen für Infrastrukturentwicklung, der Auswahl von Flächen für neue Fabriken und der Schaffung moderner Arbeitsplätze.
Ich bin auch der Meinung, daß wir über zusätzliche Schritte nachdenken müssen, wie wir die Abhängigkeit unserer Wirtschaft und unseres Finanzsystems von negativ wirkenden externen Faktoren reduzieren können. Ich beziehe mich hier nicht nur auf die Instabilität der globalen Märkte, sondern auch auf mögliche politische Risiken.
Viertens bleiben unsere Streitkräfte der wichtigste Garant unserer Souveränität und Rußlands territorialer Integrität. Wir werden angemessen auf das Verschieben der militärischen Infrastruktur der NATO an unsere Grenzen reagieren, und die Ausweitung des globalen Raketenabwehrschirms (ABM, jW) wie die Zunahme der strategischen nichtnuklearen Präzisionsbewaffnung werden uns nicht verborgen bleiben.
Man sagt uns immer wieder, daß das ABM-System rein defensiv sei. Aber das ist nicht der Fall. Es ist ein Offensivsystem, es ist Teil des offensiven Verteidigungssystems der Vereinigten Staaten an der Peripherie. Unabhängig davon, was unsere ausländischen Kollegen sagen, können wir klar sehen, was tatsächlich vor sich geht: Eindeutig werden Kampfeinheiten der NATO in osteuropäischen Staaten verstärkt, ebenso an der Ostsee und im Schwarzen Meer. Und der Umfang und die Intensität von operativem und Kampftraining nehmen zu. In dieser Hinsicht ist es unerläßlich, alle geplanten Maßnahmen zur Stärkung der nationalen Verteidigungsfähigkeit in vollem Umfang und entsprechend der Zeitvorgaben umzusetzen, die Krim und Sewastopol natürlich eingeschlossen, wo es gilt, die militärische Infrastruktur in vollem Umfang wiederherzustellen.
Aus dem Englischen auf Grundlage der offiziellen Übersetzung: Stefan Huth
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