Das IKRK spricht Klartext
Deutliche Worte zum Palästinakonflikt
Auslandnachrichten Dossier: Konflikt im Nahen Osten
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat im Palästinakonflikt seine übliche Zurückhaltung abgelegt und von Israel die Einhaltung internationalen Rechts gefordert. Der Aufruf löste bisher wenig Echo aus.
Martin Woker
Sie ist sehr lang, die Reihe jener Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), die seit 1967 in den israelisch besetzten Gebieten einen Einsatz leisteten und von dort einigermassen ernüchtert zurückkehrten. Ernüchtert darum, weil sie im Gazastreifen, in Ostjerusalem und in Cisjordanien mit einer Realität konfrontiert wurden, die sie ihre Aufgabe höchstens teilweise wahrnehmen liess. Denn das Überprüfen des Einhaltens der Genfer Konventionen, worin die Mission des IKRK primär besteht, ist seit bald fünf Jahrzehnten eine höchst frustrierende Tätigkeit.
Juristisches Schattenboxen
Das IKRK und die israelischen Behörden sind seit dem Sechstagekrieg und der folgenden Besetzung in ein juristisches Schattenboxen verwickelt. Aus Sicht der Genfer Organisation wird die Vierte Genfer Konvention (Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten) durch Israel chronisch verletzt. Israel bestreitet die Anwendbarkeit der Konvention mit dem Argument, es könne sich um keine Besetzung handeln, da die Eigentümerschaft des Gebiets 1967, also zum Zeitpunkt des Vormarsches israelischer Truppen, nicht geregelt war.
Trotzdem willigte Israel darin ein, die Vorgaben der Konvention aus humanitären Gründen zu befolgen. Aus diesem Grund wird den IKRK-Delegierten in den besetzten Gebieten ein gewisser Operationsspielraum gewährt wie etwa die Besuche von palästinensischen Gefangenen in israelischen Haftanstalten. Dies allein ist allerdings nach Genfer Lesart eine Verletzung der Konvention, da eine Besetzungsmacht Gefangene aus besetztem Gebiet nicht in ihr Territorium transferieren darf. Von den Delegierten wird ein hohes Mass an Zurückhaltung gefordert, weil, wie es intern heisst, Israel nicht allzu sehr brüskiert werden dürfe und das Prinzip der Vertraulichkeit auch in diesem Konflikt gelte. Öffentliche Rügen sind daher unüblich. Es obliegt ohnehin den Unterzeichnern der Genfer Konventionen, und damit faktisch der gesamten Staatenwelt, einen unbotmässigen Mitunterzeichner zum Einhalten des Vertragswerks aufzurufen.
Im vorliegenden Fall war es der Krieg in Syrien, der den IKRK-Präsidenten Peter Maurer zur Feder greifen liess. In der jüngsten Ausgabe der Internationalen Rote-Kreuz-Revue äusserte Maurer seine Besorgnis über die Katastrophe in Syrien und die generell verschärfte Lage hinsichtlich der menschlichen Not im gesamten Nahen Osten. Die Anwendung von internationalem Recht sei daher wichtiger denn je. Als die wohl langwierigste und verfahrenste humanitär ungünstige Lage bezeichnet Maurer die fortgesetzte Entfremdung der palästinensischen Bevölkerung unter Besatzung in Cisjordanien und im Gazastreifen sowie in den Flüchtlingslagern der Region. Die spezifischen Herausforderungen für die humanitäre Arbeit erforderten einen ehrlichen Blick auf die Schlüsselfaktoren der Besetzung.
Parteinahme für eine Seite
An erster Stelle nennt Maurer die Siedlungspolitik der israelischen Regierung. Damit erreicht worden sei eine tiefgreifende Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Cisjordanien. Die Entwicklung zu einer lebensfähigen Nation werde verhindert; dies torpediere die Aussichten auf eine Aussöhnung. An zweiter Stelle rangiert die von Israel errichtete Sperranlage. Deren projektierte Länge von 315 Kilometern entspreche mehr als dem Doppelten der Grünen Linie (der Grenze zwischen Israel und Cisjordanien). Das Bauwerk erschwere in hohem Masse die Bewegungsfreiheit in Teilen des Westjordanlands und zerschneide das Land in kleine isolierte Teile. Die gleichzeitige Erweiterung der Siedlungen mit einem eigenen Strassennetz verschärfe die Isolation der palästinensischen Gemeinden.
An dritter Stelle genannt wird die Lage der Palästinenser in Ostjerusalem, das von Israel 1980 annektiert wurde. Maurer schreibt, diese nach internationalem Recht verbotene Massnahme verhindere nicht, dass die Palästinenser Ostjerusalems weiterhin dem Schutz der Vierten Genfer Konvention unterstünden. Deren natürlicher Lebensraum stehe wegen diverser stadtplanerischer Massnahmen Israels unter konstantem Druck. Und als letzten Punkt wird in dem Artikel auf die deprimierende soziale und wirtschaftliche Lage des Gazastreifens hingewiesen. Trotz dem 2005 erfolgten Rückzug israelischer Truppen und Siedler aus dem Streifen übe Israel seit 1967 die Kontrolle über das Gebiet und dessen Grenzen aus und habe verschiedene Massnahmen getroffen, welche für dessen Entwicklung hinderlich seien. Aus Sicht des IKRK stehe Israel deshalb zumindest teilweise weiterhin in der Verantwortung einer Besetzungsmacht.
Dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz sei es nicht gelungen, so drückt sich Maurer aus, mit den zuständigen israelischen Behörden über die Siedlungspolitik, die Folgen der Sperranlage und die Situation in Ostjerusalem einen «ernsthaften Dialog» zu führen. Dabei sei sich das IKRK des israelischen Bedürfnisses nach Sicherheit für seine Bevölkerung und sein Territorium sehr wohl bewusst. Doch bei allem Verständnis dafür müssten entsprechende Massnahmen zur Gewährung nationaler Sicherheit in Einklang mit der Vorgabe des internationalen Rechts sein. Dass dem nicht so sei, beweise etwa die Sperranlage, welche eindeutig auch dem Schutz der illegalen Siedlungen diene.
Angesichts der festgefahrenen Lage kündigt Maurer an, künftig in Kontakt mit der israelischen Zivilgesellschaft, in akademischen Kreisen und in der Öffentlichkeit, auf die Widersprüche zwischen der Regierungspolitik Israels und internationalem Recht hinzuweisen. Diese Abkehr vom Prinzip der Vertraulichkeit liege in der Verantwortung des IKRK, denn «es ist unhaltbar gegenüber wichtigen Diskrepanzen zwischen Staatstätigkeit und rechtlichem Regelwerk weiterhin zu schweigen».
Das sind ungewöhnliche Töne aus dem Genfer Hauptsitz. Folgt auf die bisherige Leisetreterei im Palästinakonflikt eine grundsätzlich neue Strategie? Eine Rückfrage unter Kennern des Dossiers IKRK/Israel ergibt einen widersprüchlichen Befund. Es scheint, als sei man in der Institution selbst ein wenig erschrocken über die neue Offenheit im Palästinakonflikt. Der angekündete «Dialog mit der israelischen Zivilgesellschaft» wird relativiert. Im regionalen Vergleich verfügt Israel über eine Vielzahl an hochprofessionellen Nichtregierungsorganisationen, die sich mit viel Elan der Folgen der Besetzung hinsichtlich der menschlichen Not annehmen. Ihrem Wirken allerdings wird so lange nur beschränkter Erfolg zuteil werden, wie die Besatzungspolitik in Israel kollektiver Verdrängung unterliegt und, wichtiger noch, das gesamte Palästinaproblem politisch ungelöst bleibt.
Mit humanitär begründeten Forderungen eine grundlegende Veränderung oder gar ein Ende der Besatzung herbeiführen zu wollen, ist daher Wunschdenken. Hingegen bestünden für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sehr konkrete Möglichkeiten, auf der Basis seines Mandats mehr und vor allem sinnvollere Hilfe für die Bewohner unter Besatzung zu leisten. Ein offensichtliches Beispiel ist die seit 1967 im Falle der Tausenden von Hauszerstörungen geleistete Hilfe. Sie besteht seit eh und je darin, dass Delegierte den betroffenen Familien jeweils ein Zelt, Wolldecken und Kochutensilien und gegebenenfalls bescheidene Unterstützungsleistungen für einen wirtschaftlichen Neuanfang zur Verfügung stellen. Die Hilfe erfolgt unbesehen der von Israel geltend gemachten Gründe für die laut Genfer Konventionen verbotene Massnahme, die einer Kollektivstrafe gleichkommt. In solcher Situation den Betroffenen mehr als nur Nothilfe zu bieten, stünde der Genfer Organisation gut an. Angemessen wären provisorische Behausungen, wie sie von jüdischen Siedlern auf besetztem Gebiet laufend errichtet werden.
Widerspruch aus Jerusalem
Ob das IKRK zu solch couragierterem Vorgehen bereit ist, bleibt offen. Maurers Vorstoss provozierte in derselben Rote-Kreuz-Revue eine Replik des ehemaligen Rechtsberaters des israelischen Aussenministeriums, Alan Baker . Seine Argumentation bekräftigt die Unanwendbarkeit der Vierten Konvention, unbesehen davon, dass diese Position völkerrechtlich auf schwachen Füssen steht. Bezüglich Ostjerusalem verweist Baker auf die laufenden israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Die Sperranlage wird von ihm mit Sicherheitsgründen legitimiert, die Notlage in Gaza auf den innerpalästinensischen Machtkampf zurückgeführt, und in der Siedlungsfrage bestreitet Baker glattweg jegliche israelische Absicht zur Kolonisierung der Region. Dem IKRK rät er zu weiterhin striktem Einhalten des Neutralitätsprinzips.
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