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Es erstaunt immer wieder, wie einsichtsvoll, geradezu weise, einige israelische Stimmen «aus dem Innern des Landes» die Lage ihres Staates analysieren. Es ist erfreulich, dass die NZZ Carlo Strenger, der Lesern von «Haaretz» bereits durch seinen erfrischenden Blog bekannt ist, zu Wort kommen lässt. Wenn Strenger die «Blase» beklagt, in der sich (auch) liberale Geister in Israel befinden, so könnte er vielleicht diese Blase zum Platzen bringen, indem er das Übel nicht erst mit dem Jahr der Besetzung, 1967, benennt, sondern weiter zurückgeht. Ist die nach dem Junikrieg 1967 beginnende Besetzung und Besiedelung der eroberten Gebiete nicht eine geradlinige Fortsetzung des zionistischen Projektes, von Beginn an? War es für die Staatsgründer nicht schon 1948 klar, dass das ganze Land, vom Meer bis zum Jordan, eigentliches Ziel sein müsse? Es scheint, dass es sich beim Juni 1967 keineswegs um eine «Stunde null» handelt, wie selbst der einsichtsvolle Carlo Strenger und seine liberalen Freunde vermuten, sondern dass es eine gerade, nur zeitweilig unterbrochene Linie zu Grossisrael gibt, die nun der von Strenger so sehr beklagte Netanyahu zu vollenden im Begriff ist.
Günter Schenk, F-Strassburg
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MORGENLAND
Israels liberale Seifenblase
Carlo Strenger
Vor einigen Tagen kam der israelische Schriftsteller Nir Baram für einen Drink vorbei. Wir kennen uns seit vielen Jahren, hatten aber ziemlich lange nicht Gelegenheit für ein intensiveres Gespräch gehabt. Fast unumgänglich ist, dass wir über die kommenden Wahlen sprechen. Wir sehen beide ziemlich schwarz: Netanyahu wird wieder Premierminister sein; höchstwahrscheinlich wird er weiter behaupten, dass die Palästinenser für wirkliche Friedensverhandlungen nicht bereit sind. Er wird die Siedlungen in Cisjordanien weiterentwickeln und damit eine Zweistaatenlösung des Israel-Palästina-Konfliktes wohl endgültig begraben. Nir ist ein guter Beobachter der israelischen Gesellschaft und ist auch in einer sehr politischen Familie aufgewachsen: Sein Vater, Usi Baram, war während Jahrzehnten ein Spitzenpolitiker der Arbeitspartei. Nir hat auch ein ausgeprägtes historisches Gespür, das in seinem letzten Roman, der vor kurzem auch auf Deutsch unter dem Titel «Gute Leute» erschienen ist, sehr zum Tragen gekommen ist.
Viele Leser und Kritiker haben gefragt, warum denn ein junger israelischer Schriftsteller über die Nazizeit so empathisch schreibe, aber er hat immer klargemacht, dass er keinen Vergleich zwischen Israel und den Nazis machen wolle. Es gehe ihm vielmehr darum, den politischen Gebrauch, den die israelische Rechte von der Shoah mache, zu hinterfragen. Ohne einen Vergleich mit Nazideutschland zu machen, kommen Nir und ich beim zweiten Whisky aber nicht umhin, uns zu fragen, was fünfundvierzig Jahre Besetzung der israelischen Gesellschaft antun. Kein Land kann auf die Dauer eine solche Politik führen, ohne dass dies seine Moralmassstäbe beeinflusst. Wir haben Angst: Sollte der Konflikt weiter ungelöst bleiben, wird Israels immer nationalistischer werdende Kultur noch extremer werden. Dieses Gespräch widerspiegelt Konversationen, die in der letzten Zeit unter israelischen Liberalen sehr häufig sind. Einige Tage vorher war ich mit meiner Frau bei Freunden für eine Hanukka-Feier eingeladen, und das Gesprächsthema war dasselbe, die Stimmung ähnlich. Liberal denkende Israeli lebten in den letzten Jahren mit einem wachsenden Gefühl, dass Israels Geschichte eine katastrophale Wendung genommen hat. Jahrzehnte haben wir geglaubt, die Besetzung des Westjordanlandes sei noch rückgängig zu machen und der liberal-zionistische Traum von Israel als demokratischer Heimstätte des jüdischen Volkes sei noch zu retten. Wir sind uns alle sehr dessen bewusst, wie stark die Shoah die israelische Mentalität und Politik prägt, und versuchen alles, um zu verhindern, dass dieses schreckliche Trauma nicht zu Israels Ruin wird. Das Erstaunliche ist ja immer wieder, dass wir in unserem täglichen Leben fast nur liberal denkende Israeli treffen: ob an der Universität, in der Medienwelt oder in Israels florierender Hightech-Industrie, ob in Restaurants oder im Theater: Die meisten Israeli scheinen aufgeklärte Mitglieder der freien Welt zu sein. Wie kann es denn kommen, dass unser Einfluss so klein ist?
Dies zeigt nur, wie zersplittert Israels Gesellschaft ist. Alle Sektoren treffen fast nur gleichgesinnte. Die Ultraorthodoxen haben kaum Kontakt mit dem Rest des Landes; die meisten Einwanderer aus der früheren Sowjetunion lesen Zeitungen in russischer Sprache; die nationalreligiösen Siedler leben meist nur mit gleichgesinnten. Auch wir liberal denkenden Israeli sind zu einem Sektor geworden; einer Minorität, die gesellschaftlich vom Rest des Landes isoliert ist. Nicht umsonst werden wir oft beschuldigt, in einer abgekapselten Seifenblase zu leben und den Rest Israels nicht zu verstehen. Deswegen betrachten wir Israels Entwicklungsrichtung mit Angst, Bedrücken, aber auch oft mit Zorn: Es kann doch einfach nicht sein, dass das Land unseren Grundwerten so feindlich gegenübersteht. Ich schenke Nir und mir noch einen letzten Whisky ein und frage ihn: «Kannst du auch nicht wirklich glauben, dass, was heute geschieht, Israels Realität endgültig bestimmen wird? Glaubst auch du, der Albtraum werde irgendwann zu Ende kommen und dass alles in Ordnung kommen wird?» Er lächelt traurig: «Glauben wir nicht alle oft an etwas, von dem wir wissen, dass es unrealistisch ist?»
Carlo Strenger lebt als Professor für Psychoanalyse und als Publizist in Tel Aviv.
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