Wednesday, July 29, 2020

Stalin-Begeisterung greift in Russland um sich - für Putin könnte das gefährlich werden Teilen Russland Präsident Wladimir Putin APRussland Präsident Wladimir Putin FOCUS-Online-Autor Boris Reitschuster Dienstag, 23.04.2019, 08:19 66 Jahre nach seinem Tod ist der Sowjet-Diktator und Massenmörder so beliebt wie nie im postkommunistischen Russland. Die Hälfte der Jugendlichen weiß nichts von seinen Gräueltaten. Diese Wissenslücken und die Stalin-Nostalgie sind Folgen von Putins Politik – und könnten für ihn gefährlich werden. Moskau-Besucher, die kein Russisch können, bleibt in der Buchhandlung „Biblio-Globus“ im Herzen der russischen Hauptstadt ein Schock erspart: Wenn sie an dem prall gefüllten Regal voller Stalin-Bücher vorbeigehen, sehen sie nur das Portrait des Diktators – und können nicht ahnen, dass die Titel teilweise sehr nostalgisch und positiv klingen: „Stalin ist nie Vergangenheit geworden“, heißt eines der Werke. „Stalin – erinnern wir uns zusammen“ ein anderes. Nicht weit davon steht: „So sprach Stalin - Artikel und Reden“. Daneben ist „Stalins Testament“ zu finden. Und ein Buch über einen der grausamsten Schergen und Massenmörder unter Stalins Komplizen: „Beria – der effektivste Manager des 20. Jahrhunderts.“ Stalin ist in Russland beliebter als je Die Stalin-Nostalgie beschränkt sich keinesfalls auf die russlandweit bekannte Buchhandlung, die nur einen Steinwurf von der Zentrale des FSB, des früheren KGB, an der Moskauer Lubjanka steht. Stalin ist 66 Jahre nach seinem Tod beliebter denn je im postsowjetischen Russland – wie jetzt eine Umfrage des Moskauer Lewada-Zentrums ergab, des letzten noch halbwegs unabhängigen Meinungsforschungsinstituts im Lande. Anzeige 70 Prozent der Russen sind demnach der Meinung, der Diktator, der Abermillionen Landsleute ermorden ließ und den „großen Terror“ gegen die eigenen Landsleute initiierte, habe eine positive Rolle für das Land gespielt. 2016 waren es noch deutlich weniger: 54 Prozent. Jeder vierte Russe bewundert den Massenmörder der Umfrage zufolge sogar. Nur fünf Prozent gaben an, Angst vor ihm zu haben. Ein massiver Rückgang gegenüber 2001 – damals fürchteten noch 16 Prozent den längst toten Diktator. Sagten noch 2008 rund 60 Prozent der Russen, Stalins Verbrechen seien nicht zu entschuldigen, so sank diese Zahl 2019 auf 45 Prozent. Todestag von Josef Stalin Alexander Zemlianichenko/AP/dpaEine Frau küsst ein Porträt von Josef Stalin. Unterstützer der kommunistischen Partei versammelten sich anlässlich des 66. Todestags auf dem Roten Platz um Blumen auf Stalins Grab zu legen. Beliebtheit ist Folge des Kurses von Putin Fast jeder Zweite glaubt, Stalins Verbrechen seien durch die „großen Ziele und Ergebnisse seiner Zeit“ gerechtfertigt. Schon 2017 war der Diktator von den Russen in einer Umfrage als wichtigste Person in ihrer Geschichte gewählt worden. Die Plätze hinter ihm belegten Wladimir Putin sowie der Nationaldichter Alexander Puschkin. Im Kreml wollte man die Umfrage damals nicht kommentieren. Die neue Beliebtheit Stalins ist Folge des Kurses von Präsident Wladimir Putin. Wie in den meisten Politik-Bereichen legt sich der Kreml-Chef selbst nicht fest und sendet unterschiedliche Signale, was den Massenmörder unter seinen Vorgängern angeht. Fakt ist: Unter dem Ex-KGB-Offizier gibt es wieder Stalin-Statuen im Land, an den Denkmälern längs der Kremlmauer wurde der Städtenamen Wolgograd herausgemeißelt und durch Stalingrad ersetzt, in einer Moskauer U-Bahn-Station ist die Zeile „Uns erzog Stalin – zur Treue zum Volk, zu Arbeit und Heldentaten regte er uns an“ aus der alten Sowjethymne zu sehen, und beim jährlichen „Tag des Sieges“ über Hitler-Deutschland werden Stalin-Portraits durch die Straßen getragen. Ohne Putins zumindest stillschweigende Zustimmung wäre das in seiner „gelenkten Demokratie“ nicht möglich. Putin-Vertrauter bezeichnet Stalin als „herausragenden Mann“ Boris Gryslow, ein Vertrauter des Präsidenten und früher Parlamentspräsident, bezeichnete Stalin als „herausragenden Mann“, der „viel für den Sieg der UdSSR im Großen Vaterländischen Krieg“ geleistet habe. „Es ist gut, dass es Stalin in der Geschichte gab“, sagte Kulturminister Wladimir Medinski 2015 bei der Eröffnung eines Stalin-Museums im Gebiet Twer. In einem Artikel in der Iswestija, einer der größten Zeitungen des Landes, forderte der Minister, die Kritik an Stalin einzustellen. Er befand ebenso, die Sehnsucht, das „Know-how Stalins“ zu erlernen, sei groß im Lande. Bildungsministerin Olga Wassiljewa sieht in Stalin einen «Segen für unser Land». Kein Wunder, dass die 2017 erschienene britisch-französische Kino-Komödie „Stalins Tod“ in Russlands Kino faktisch verboten war – eine humorvolle Auseinandersetzung mit der Diktatur und ihren Folgen war für die Herrschenden zu starker Tobak. Die Stalin-Nostalgie hat auch damit zu tun, dass unter Putin der Sieg im Zweiten Weltkrieg zu einer Art Ersatzreligion wurde. Mit der Erinnerung an die Heldentaten von damals versucht der Kreml-Chef, das schwer gespaltene Land um sich zu einen. Gorbatschow indes wird vielfach als Verräter dargestellt, der die Errungenschaften Stalins vernichtet habe. Schon als die baltischen Staaten und Polen zum Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland im Mai 2005 darauf verwiesen, dass mit der Niederlage des Dritten Reiches für sie eine neue Okkupation durch die Rote Armee begonnen habe, lösen diese Worte in Moskau einen Sturm der Entrüstung aus. Junge Russen wissen nichts von Stalins Gräueltaten Schon 1994 verließ Putin als Vizebürgermeister von Sankt Petersburg mit einem lautstarken Türknall eine internationale Konferenz, als Estlands Präsident die Russen als »Okkupanten« bezeichnete. Im Mai 2005 empfahl der Kreml-Chef, dessen Großvater einst Lenin und Stalin als Leibkoch auf deren Datschen diente, „Historikern, die die Geschichte umschreiben wollen, erst mal Bücher lesen zu lernen“. Es wurde eine Regierungskommission gebildet für den Kampf gegen „falsche Auslegung der Geschichte“ – gemeint ist damit auch Kritik an Stalin und etwa dessen Pakt mit Hitler. Den hat Putin wiederholt gelobt – 2015 sogar im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim gemeinsamen Andenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Moskau. Dass die Hälfte der jungen Russen nach der Umfrage heute nichts mehr von Stalins Gräueltaten weiß, hat damit zu tun, dass auf Anregung Putins in den Unterrichtswerken der Massenmörder wieder als „großer Feldherr“ gepriesen wird. Ein Schulbuch, das über Stalins Säuberungen berichtete und die Rolle des Diktators im Krieg ohne falschen Patriotismus hinterfragte, wurde schon 2003 aus den Schulen verbannt. Man müsse zwar Fehler zugestehen, aber, um die Autorität des Staates neu aufzubauen, auch die Erfolge sehen - die von Stalin eingeschlossen, mahnte Putin 2007 auf einer Konferenz mit Geschichtslehrern: "Man darf nicht erlauben, dass sie uns Schuldgefühle anhängen“. Mit „sie“ meinte er den Westen. Zwischenfall am Todestag des Diktators Schritt für Schritt wurde, von Lehrbüchern für Hochschulen oder Schulen bis hin zu Gedenktagsreden, eine tragikfreie Version der sowjetischen Geschichte verbreitet, in der Menschenleben, Freiheit und persönliche Würde kaum eine Rolle spielen. Stattdessen werden Heimtücke, Verrat, Niedertracht und Grausamkeit erneut gerechtfertigt, solange sie im Namen des Imperiums geschehen. Wie weit die Nostalgie geht und die gespalten die Gesellschaft ist, was Stalin angeht, zeigt ein Zwischenfall am 66. Todestag des Diktators am 5. März 2019: Verehrer des gebürtigen Georgiers huldigten ihm feierlich, an seinem Grab an der Kremlmauer. Als ein junger Mann die Idylle sprengte, und schrie: "Brenne in der Hölle, Du Mörder von Männern, Frauen und Kindern" wurde er sofort überwältigt, und unter Schreien wie "Scheißkerl" und "Schande" von der Polizei abgeführt. Das bittere Fazit: Verehrung Stalins wird gefördert und von der Polizei geschützt, Kritik an ihm verhindert, ja kriminalisiert. Stalin-Nostalgie könnte für Putin gefährlich werden Dabei könnte die Stalin-Nostalgie für Putin durchaus gefährlich werden. „Stalin wird in der Gesellschaft als Verteidiger der Unterdrückten wahrgenommen, als Symbol der Gerechtigkeit und Alternative zur gegenwärtigen Regierung, die als unfair, grausam und nicht für die Menschen angesehen wird“, warnt Leonty Byzow, Leitender Forscher am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften: „Dies ist ein rein mythologisches Bild von Stalin, weit entfernt von einer echten historischen Figur. Stalin wird als ein Zar wahrgenommen, der die Köpfe der verhassten Bojaren (Adeligen) abschneidet, und nur wenige Unschuldige mit erwischt", erklärt Byzov. Daran knüpfen auch Losungen an, wie sie inzwischen von manchem Putin-Kritiker zu hören sind: “Wir bräuchten wieder einen Stalin, der im Kreml ausmistet“.

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