Lawrow im Interview zu US-Manöver Defender Europe 2020: Gewisse Kreise wollen Spannungen provozieren
„Wo sie einen vergleichbaren Feind gefunden haben wollen, weiß ich nicht.“ Der russische Außenminister Sergei Lawrow, erklärt im Interview, warum man den Erklärungen des Westens, das aktuelle Manöver „Defender Europe 2020“ sei nicht gegen Russland gerichtet, kein Vertrauen schenkt.
„Defender heißt ‚Verteidiger‘. Wir fragen nun: Vor wem verteidigen?“ Das fehlende Vertrauen Russlands in die Worte der US-Vertreter, das für dieses Frühjahr geplante Manöver „US Defender Europe 2020“ sei nicht gegen Russland gerichtet, ist laut Russlands Chefdiplomat Sergei Lawrow auf ganz einfacher Logik gegründet: Auf Seiten der USA heißt es, bei dem Manöver soll die Verteidigung gegen einen vergleichbar starken Gegner geübt werden – doch allein die konventionellen Kräfte der NATO in Europa ohne die USA übertreffen die der nächstkleineren benachbarten Militärmacht außerhalb des Bündnisses, nämlich die des Russlands, um das Doppelte.
„Eine Art Märchenstunde“ nannte er auch das Hin und Her der USA um die anstehende Verlängerung des START-III-Abkommens zur Rüstungskontrolle (und um die schließlich ausgebliebene INF-Verlängerung), um eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland im an den Haaren herbeigezogenen Zusammenhang mit den Minsker Abkommen, um eine dringend notwendige Behebung der Missstände auf Seiten der USA, wobei die russische Diplomatie an ihrer Arbeit gehindert wird und sogar Russen entführt werden, und um die Wiederherstellung von Kooperation zum Beispiel bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. „So führt man keine ernsthaften Geschäfte“, wertete der russische Außenminister. Doch noch steht zumindest den Europäern der Weg zur Kooperation mit Russland und seinen Partnern, und letztlich zur von Charles de Gaulle seinerzeit umrissenen Vision eines Europa von Lissabon bis an den Ural über die EU hinaus, frei – dafür allerdings müssten die Staaten der besagten EU die so oft erklärten Prinzipien des Konsens und der Solidarität aber tatsächlich leben.
Es gibt viele Medienberichte über die Vorbereitung der größten Übungen des US-Militärs im letzten Vierteljahrhundert in einer Reihe von osteuropäischen Ländern. Wir sprechen über das bevorstehende Manöver „Defender Europe 2020“ im Mai. Werden wir heute im Zusammenhang mit der Abkühlung der Beziehungen zwischen Russland und der NATO Entstehungszeugen eines neuen Kalten Krieges?
Während des Kalten Krieges gab es große Operationen zum Ausbau der Streitkräfte in Europa, einschließlich der Verstärkung der US-Präsenz. Es gab sogar eine Operation namens ReForGer – „Rückkehr der Streitkräfte nach Deutschland“, als die US-Amerikaner dabei waren, sich in Deutschland „einzuleben“, wo es heute Dutzende [ihrer] militärischer Einrichtungen gibt. Im heutigen Deutschland gibt es eine enorme Präsenz ausländischer Streitkräfte. Aber das ist Sache der NATO.
„Defender“ heißt „Verteidiger“. Wir fragen nun: Vor wem verteidigen? Sie erklären, dass es um eine Verteidigung nicht vor Russland gehe, sondern vor einem – das militärische Potential der NATO betreffend – vergleichbaren Feind. Hier ist es schwierig, den richtigen Gegenstand dieser Bemühungen zu finden, der dieses Kriterium der Vergleichbarkeit erfüllen würde. Betrachtet man die offiziellen Daten (nicht unsere, sondern ausländische) zu den Militärausgaben, zur militärischen Ausrüstung – ausnahmslos zu allen Waffentypen (Panzer, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Schützenpanzer und gepanzerte Mannschaftstransportwagen, Kriegsschiffe, U-Boote) – so sind allein schon die europäischen NATO-Mitglieder, ohne Berücksichtigung der Zahlen der US-Amerikaner, übertreffen unsere Streitkräfte sie mehr als um das Doppelte. Wo sie einen vergleichbaren Feind gefunden haben wollen, weiß ich nicht.
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Russland ist sicherlich nicht die dominierende militärische Kraft in Europa. Eine solche Kraft ist die NATO. Trotz der Tatsache, dass das gesamte Theater hier bereits mit militärischen Einrichtungen und Waffen übersättigt ist, obwohl das Vordringen des Nordatlantischen Bündnisses nach Osten bereits recht ernsthafte Probleme im Bereich der strategischen Stabilität in Europa geschaffen hat, geht die Fusion der NATO mit der Europäischen Union weiter.
Die NATO versucht, gemeinsame Übungen durchzuführen, um unter dem Vorwand der EU-Mitgliedschaft neutrale Staaten wie Finnland und Schweden mit hineinzuziehen. Sie erfand den Begriff „Militär-Schengen“ im Zusammenhang mit der militärischen Zusammenarbeit der NATO mit der EU. Das sieht eine Modernisierung aller Verkehrsadern bis zur Ostgrenze des Bündnisses vor – dergestalt, dass alles wichtige Militärgerät ungehindert nach Osten gelangen kann. Ich denke, das allein reicht schon aus, um die Gefahr solcher Spiele zu verstehen.
Die Übung „Defender Europe 2020“, die für April bis Mai dieses Jahres geplant ist (die Vorbereitungen dafür haben bereits vor längerer Zeit begonnen), beinhaltet zusätzlich zu den bereits hier eingesetzten militärischen Kontingenten, die ich schon erwähnt habe, die Verlegung vieler tausend US-amerikanischer Militärfahrzeuge und mehr als 20.000 US-Truppen. Formal wurde die Übung übrigens als US-amerikanische Übung angekündigt, allerdings mit einer Einladung für andere NATO-Mitglieder und -Partner. Das ist ein interessanter Punkt. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber einer der möglichen Gründe ist, dass es für die US-Amerikaner viel einfacher ist, alles selbst zu planen und umzusetzen, anstatt sich irgendwie durch NATO-Disziplin binden zu lassen, und sei dies auch nur symbolisch.
Obwohl der Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa auch der Befehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa ist. Insgesamt nehmen mehr als 40.000 Personen an dieser Übung teil. Natürlich werden wir antworten. Wir können solche Prozesse, die uns große Sorgen bereiten, nicht ignorieren. Aber wir werden so reagieren, dass keine unnötigen Risiken entstehen. Es ist unvermeidlich. Ich hoffe, dass jeder vernünftige Militär und Politiker dies versteht. Die Kreise, von denen diese Art von absolut ungerechtfertigten Übungen heraus provoziert wird, wollen, dass Antwortmaßnahmen folgen, die zu weiteren Spannungen führen. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch, dass alles, was wir als Reaktion auf die von der NATO ausgehenden Gefahren für die Sicherheit Russlands tun, ausschließlich auf unserem eigenen Territorium geschieht. Genauso wie alle russischen Atomwaffen auf unserem Territorium sind, im Gegensatz zu den US-amerikanischen.
Fragen der strategischen Stabilität waren eine lange Zeit eine tragende Säule der US-amerikanisch-russischen Beziehungen und in gewissem Maße eine Garantie für Stabilität in der ganzen Welt. Aber in den letzten Jahren ergriff die US-Regierung Maßnahmen, die diese Fortschritte der Vergangenheit teilweise wieder rückgängig gemacht haben. Insbesondere torpedieren die Amerikaner offen die Möglichkeit, den Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen zu verlängern, START 3. Kann sich Ihrer Meinung nach die Situation nach den Präsidentschaftswahlen in den USA ändern? Gibt es eine Gruppe, die sich mit der Frage der Verlängerung von START-3 befasst, deren Erschaffung Sie mit R. Tillerson vereinbart haben, als er noch US-Außenminister war?
Ich beginne mit dem Letzten. Die Gruppe arbeitet, aber bislang ohne großen Erfolg. In den letzten Jahren gab es 12 bis 13 Treffen. (Ich kann mich nicht an die genaue Zahl erinnern.) Schon vor Tillerson lief bei diesen Treffen alles darauf hinaus, dass der russische Vertreter seinem US-amerikanischen Kollegen eine Liste von Problemen und inakzeptablen Handlungen der US-Regierung vorlas, Beispiele nannte und Memoranden überreichte. Die Liste beinhaltete alles – von der Beschlagnahme russischen diplomatischen Eigentums und der willkürlichen Reduzierung des russischen diplomatischen Personals bis zur Entführung von Russen – Viktor But, Konstantin Jaroschenko, Roman Selesnjow und vielen anderen. Eines der Probleme war auch, wie Russen in US-amerikanischen Gefängnissen behandelt wurden, ob sie unter normalen Bedingungen untergebracht wurden und so weiter.
Die US-amerikanische Seite erklärte uns, man würde sich darum kümmern, dass Russland aber aufhören solle, sich in US-amerikanische Angelegenheiten einzumischen, weil alles miteinander verbunden sei und es keine Strafe ohne Verbrechen gebe. Eine Art Märchenstunde.
Als ich im vergangenen Dezember in Washington war, vereinbarten Außenminister Mike Pompeo und ich, dem russisch-US-amerikanischen Dialog einen neuen Impuls zu geben, damit zumindest irgendwelche Fortschritte erzielt werden können. US-Präsident Trump meint ebenfalls, dass wir „miteinander auskommen“ müssen.
Ein neuer US-Botschafter, J. Sullivan, ist in Moskau eingetroffen. Er versichert, dass er zumindest in einigen Fragen handfest mithelfen möchte, vorwärts zu kommen, aber zunächst müssen wir die Beziehungen zwischen den Ländern normalisieren. Die Aussichten auf konkrete Schritte sind sehr vage. Es scheint, dass der Dialog über die Terrorismusbekämpfung im vergangenen Jahr mehr schlecht als recht, halbherzig wieder aufgenommen wurde – künstliche Hindernisse sollte man zumindest in diesen Fragen ganz sicher nicht errichten. Die US-Amerikaner haben uns in den letzten Jahren einige Male Informationen übermittelt, mithilfe derer Terroranschläge in Russland verhindert werden konnten.
Auch wir haben schon seit dem Boston-Marathon relevante Informationen an sie weitergegeben. Und es schien, dass wir wieder Kontakt hatten. Als im Oktober 2019. Washington anbot, Beratungsgespräche fortzusetzen, vereinbarten wir, dass eine eine gemeinsame Erklärung zur Terrorismusbekämpfung an meinen Besuch knüpfen würden, um ein positives Signal zu setzen – denn es gibt Themen, bei denen Russland und die Vereinigten Staaten von gemeinsamen Standpunkten aus handeln können und gemeinsam[e Erklärungen] unterschreiben können. Doch als ich ankam, stellte sich heraus, dass sie „wieder irgendetwas nicht rechtzeitig absprechen konnten“. Es ist jetzt schwierig, mit unseren US-amerikanischen Partnern sachbezogen zu arbeiten.
Kehren wir zur strategischen Stabilität zurück. Dieses Thema betrifft nicht nur Russland und die Vereinigten Staaten, sondern auch den Rest der Welt. Das Gerüst der entsprechenden Architektur wird zerstört. Nach der Auflösung des ABM-Vertrags verschwand der Vertrag über Mittel- und Kurzstreckenraketen, der INF. Unser Vorschlag für ein Moratorium für die Herstellung und den Einsatz dieser Raketen ist abgelehnt worden. Bezogen auf den INF-Vertrag wirft man uns Gerissenheit vor. Ihrer Ansicht nach bedeutet unser Moratorium Folgendes: Wir haben bereits Iskander-Systeme mit Raketen ausgerüstet, die nach dem Vertrag verboten sind, während die USA nicht über Mittelstreckensysteme verfügen. Und wir wollen die Amerikaner der Möglichkeit berauben, Mittelstreckenraketen anzuschaffen, während wir selbst unsere Raketen behalten.
Wir antworten darauf recht konkret. Im vergangenen Herbst, nachdem sich die USA aus dem INF-Vertrag zurückgezogen hatten, sandte der russische Präsident Wladimir Putin eine Botschaft an die Chefs von mehr als 50 Staaten und Regierungen – die US-Amerikaner, alle NATO-Staaten, die übrigen nicht neutralen Länder Europas sowie die Staaten des asiatisch-pazifischen Raums (weil die USA die Absicht haben, Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite in diesem Teil der Welt einzusetzen). Wir haben den Text der Nachricht nicht veröffentlicht. Doch darin legten wir den Problemhergang dar – und betonten, dass es keine einzige Tatsache gibt, die die US-Vorwürfe gegen uns rechtfertigen würde, wir hätten die Rakete 9M729 auf eine vom INF-Vertrag verbotene Reichweite getestet. Die USA mit ihren Satellitenbild-Kapazitäten hätten wenigstens ein Bild zeigen können, das bestätigen würde, dass sie Recht haben, um damit die russischen Argumente zu widerlegen.
Aber sie haben keinen Beweis dafür, dass Russland den Vertrag verletzt haben soll. Die US-Amerikaner weigerten sich, der Demonstration des neuen Marschflugkörpers beizuwohnen, die das russische Verteidigungsministerium zusammen mit dem russischen Außenministerium im Januar letzten Jahres abgehalten hatten, und verbaten dem Rest der NATO die Teilnahme an der Veranstaltung. Sie nannten das alles „eine Show und eine Inszenierung“. Aber so führt man doch keine ernsthaften Geschäfte. Willst du beweisen, dass es sich um eine „Show“ handelt – dann komm und beweis es. Es gab auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Kommentare abzugeben. Russische Vertreter verbrachten zwei Stunden damit, ein Briefing abzuhalten und Fragen zu beantworten. Aber von allen NATO-Vertretern kamen nur Griechen, Bulgaren und Türken zu der Präsentation. Und sie verfügen dann doch nicht über die Art von Expertise, die die US-Amerikaner haben. Die Anwesenheit von US-Experten bei der Präsentation hätte es ihnen ermöglicht, selbst herauszufinden, womit sie es zu tun haben.
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In Putins Botschaft hieß es: Wir fordern die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten auf, sich unserem Moratorium für die Stationierung von Mittel- und Kurzstreckenraketen anzuschließen, einschließlich der Schaffung eines möglichen Verifikationsmechanismus. Dies versucht man nun, gänzlich zu ignorieren, man erwähnt es prinzipiell nicht. Sie sagen uns: Nein, ihr betrügt, ihr habt bereits solche Raketen, sie stehen in Kampfbereitschaft, sie wurden vor langer Zeit geschaffen und unter Verletzung des damals noch geltenden Vertrags in Bereitschaft genommen. Und den Vorschlag für ein Moratorium mit Verifizierungsmaßnahmen versuchen sie totzureden. Nur der französische Präsident Emmanuelle Macron sprach sich öffentlich in dem Sinne aus, dass er noch immer Probleme mit der Art und Weise habe, wie Russland den Vertrag umgesetzt hat, aber er bereit sei, auf Putins Botschaft zu reagieren. Alle anderen NATO-Staaten (anscheinend wurden sie aus Washington angewiesen) schweigen.
Die Amerikaner haben Pläne, Mittel- und Kurzstreckenraketen in der Region Asien-Südpazifik einzusetzen. Japan und Südkorea werden ebenfalls erwähnt. Beide Länder erklärten, dass sie nicht die Absicht haben, solche Raketen zu stationieren. Aber wenn die US-Amerikaner dort ernsthaft Raketen stationieren wollen, halte ich es nicht für unmöglich. Erwähnt werden auch exotische Inseln im mittleren Pazifik. Ich sehe – und sie machen keinen Hehl daraus –, dass diese Maßnahmen darauf abzielen, China einzuzäunen. Aber die geografischen Entfernungen sind so, dass, wenn dort US-Mittel- und Kurzstreckenraketen stationiert werden, ein erheblicher Teil des russischen Territoriums einem Angriff ausgesetzt wäre – im Falle Japans und Koreas sogar unser gesamtes Territorium bis zum Ural. Natürlich werden wir reagieren müssen. Deshalb führen wir mit den Ländern der ASEAN, der asiatisch-pazifischen Region, einschließlich Japan und Südkorea, ein sehr sachbezogenes Gespräch darüber, welche Risiken all diese „Spiele“ mit sich bringen.
Apropos START 3: Wir haben mehrfach eine Verlängerung vorgeschlagen. Auf dem G20-Gipfel in Osaka im Juni vergangenen Jahres machte Putin seinem US-amerikanischen Kollegen die Bedeutung einer Vertragsverlängerung deutlich. Und es ist wünschenswert, so schnell wie möglich eine Entscheidung in dieser Frage zu treffen. Im Mai letzten Jahres machte der russische Präsident auch den US-Außenminister Pompeo bei dessen Besuch in Sotschi darauf aufmerksam.
Die US-Amerikaner versuchen, es ständig aufzudrängen, dass auch China sich in die Diskussion über Mittel- und Kurzstreckenraketen und den START-Vertrag einbringt. Es gibt jedoch wiederholte öffentliche Erklärungen Pekings, dass es sich nicht an solchen Verhandlungen beteiligen werde, weil sich Chinas Atomwaffenstruktur grundlegend von der Russlands und der USA unterscheidet. Und was die quantitativen Merkmale betrifft, so sind sie weit davon entfernt, sich Verhandlungen über irgendwelches Gleichgewicht anzuschließen. Sollte China plötzlich seine Meinung ändern – bitteschön, dann werden wir auch an multilateralen Verhandlungen teilnehmen. Aber wir werden nicht versuchen, Peking zu überreden. Wenn die US-Amerikaner davon überzeugt sind, dass jede weitere Aktion im Rahmen des START-Vertrages ohne die Beteiligung Chinas sinnlos sei, dann sollen sie sich auch damit befassen.
Wir aber befinden, dass es sinnvoll ist, den START-3-Vertrag zu verlängern, der in einem Jahr abläuft. Nach dem 5. Februar 2021 wird dieses Abkommen nicht mehr bestehen, wenn es nicht verlängert wird. Selbst wenn ein multilateraler Prozess beginnen würde, wäre er sehr lang – es gibt keine Verhandlungen über ein so ernstes Thema, die in wenigen Monaten abgeschlossen wären. Deshalb sollten wir auch unter dem Gesichtspunkt des politischen Ansehens Russlands und der Vereinigten Staaten ein Sicherheitsnetz in Form eines erweiterten START-3 haben, damit uns niemand den Zusammenbruch eines rechtsverbindlichen Instruments im Bereich der strategischen Stabilität vorwerfen kann.
All das haben wir den US-Amerikanern verdeutlicht. Immer noch schweigen sie. Hatten sie Befürchtungen, dass wir ihnen Vorbedingungen für die Verlängerung dieses Vertrags stellen würden? Nichts dergleichen. Wladimir Putin erklärte wiederholt öffentlich, dass wir vorschlagen, START-3 zu verlängern – unverzüglich und ohne Vorbedingungen. Aber die US-Amerikaner werfen ständig die Frage des Beitritts Chinas zu diesem Abkommen in den medialen Raum.
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Ich wiederhole: Wenn es zu multilateralen Verhandlungen über START-3 kommt und sich alle bereit erklären, daran teilzunehmen, dann wird natürlich auch Russland Teil dieses Prozesses sein. Aber Multilateralismus beinhaltet nicht einfach nur irgendwelche dreiseitigen Gespräche: Es gibt noch zwei weitere offizielle Atommächte, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Es gibt Indien und Pakistan, die de facto Atommächte sind, obwohl sie dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten sind. Es gibt noch ein paar weitere Länder, die über Atomwaffen verfügen. Wir sind bereit, an Verhandlungen über weitere Reduzierungen und Beschränkungen von Atomwaffen in jeder beliebigen Konfiguration teilzunehmen. Wir glauben, dass die Verlängerung von START III absolut notwendig ist, um wenigstens irgendeine Grundlage für unsere nachfolgenden Gespräche und praktischen Aktionen zu erhalten.
Die US-Amerikaner sind an unseren neuen Waffen interessiert. Wir haben bereits erwähnt, dass unser Militär bereit ist, einige dieser neuen Waffen, zumindest „Avantgarde“ und „Sarmat“, im Zusammenhang mit den Kriterien des Vertrags zu betrachten. Alles andere fällt nicht unter die Beschränkungen des Vertrags von 2010, aber wir sind bereit, auch darüber zu sprechen – dies allerdings dann im Zusammenhang mit den Umständen, die eigentlich ursprünglich zur Arbeit an der Schaffung solcher Waffen geführt haben.
Und diese Umstände standen im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des ABM-Vertrags (Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketensystemen). Jetzt, Jahrzehnte nach dem Ende dieses Vertrags, ist es notwendig, alle Fragen im Zusammenhang mit neuen Waffentypen ausschließlich im Zusammenhang mit allen Faktoren zu erörtern, die die strategische Stabilität beeinflussen.
Neben der Raketenabwehr ist dies das amerikanische Konzept des „Rapid Global Strike“, das an Dynamik gewonnen hat und den Einsatz nicht-nuklearer strategischer Waffen beinhaltet. Das Ziel ist es, jeden Punkt der Erde in maximal einer Stunde zu erreichen. Natürlich ist dies ein neuer destabilisierender Faktor. Die Weigerung, dem Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) beizutreten, was von den Vereinigten Staaten bereits offiziell angekündigt wurde, ist dem ebenfalls hinzuzurechnen – sowie die Pläne zur Stationierung von Waffen im Weltraum. Das Letztere wurde übrigens nicht nur von den US-Amerikanern, sondern auch von den Franzosen angekündigt. Sie taten dies auf eine eher aalglatte Weise, aber wir versuchen, durch unseren Dialog zu verstehen, was mit der neuen französischen Weltraumdoktrin gemeint ist. Außerdem hat die NATO öffentlich erklärt, dass der Weltraum und der Cyberspace jetzt die offizielle Operationsbereiche für die Streitkräfte des Bündnisses sind, einschließlich, soweit ich weiß, der Aktivierung von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags.
Dort ist eine Menge los. Natürlich sind wir bereit, über unsere neuen Waffensysteme sowie über die neuen Waffensysteme anderer Länder zu diskutieren, und zwar im Lichte aller Faktoren, die die strategische Stabilität beeinflussen. Und wenn man uns anbietet, unsere Bewaffnung einzuschränken – aber selber grenzenlos all das weiterentwickelt, wovon denen ich Ihnen gerade erzählt habe, dann wird uns ein solches Gespräch natürlich nirgendwo hinführen.
Als wir über „Defender Europe 2020“ sprachen, habe ich Deutschland erwähnt. Wir verstehen, dass es in der NATO, in der Europäischen Union, eine kleine Gruppe von Ländern gibt, die historische Phobien gegen Russland schüren. Sie drängen alle ständig, Russland in Schach zu halten, nicht den Sanktionsdruck zu lockern, der unter dem völlig unbegründeten Vorwand der Nichteinhaltung der Minsker Abkommen aufrechterhalten wird – dies ist ein anderes Thema. Doch plötzlich begannen die Phobien und das Thema eines möglichen Angriffs auf Europa von hochrangigen Beamten eines Landes wie Deutschland öffentlich diskutiert zu werden. Vor einiger Zeit erklärte der französische Präsident Emmanuelle Macron die Notwendigkeit einer radikalen Reform der NATO sowie, dass das Bündnis einen „Hirntod“ erlitten hat und etwas getan werden müsse.
Erinnern Sie sich, wie Berlin dieser Schlussfolgerung öffentlich widersprach? Mein Kollege, der deutsche Außenminister Heiko Maas, erklärte, man sei mit Paris nicht einverstanden. Laut Berlin brauche man – auch Deutschland – die NATO, weil niemand außer dem Bündnis Deutschland verteidigen werde. Wir haben sofort Berlin gefragt, vor wem sie sich mit Hilfe der NATO verteidigen wollen? Sie haben nichts geantwortet. Und dann gab es eine ähnliche Erklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und unsere deutschen Kollegen konnten uns bislang immer noch nicht erklären, vor wem sich Deutschland fürchtet.
Kann man sagen, dass mit dem Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union die Ära des vereinten Europas zu Ende geht? Wird die Europäische Union jemals in der Lage sein, zu einer einheitlichen Stimme zu finden?
Der Begriff „vereintes Europa“ oder „Großes Europa“ wird von Journalisten und Politikwissenschaftlern bereits jetzt als Synonym für die Europäische Union wahrgenommen. Dennoch würden wir es vorziehen, unter „großes Europa“, unter „vereintes Europa“ das zu verstehen, was Charles de Gaulle als einen vereinten Raum vom Atlantik bis zum Ural voraussagte. Danach sagten auch andere große Menschen, dass sich ein vereintes Europa vom Atlantik bis zum Pazifik erstrecken sollte.
Im Zusammenhang mit dem, was jetzt an Integrationsprozessen in Eurasien geschieht, im Zusammenhang mit der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion, ihren Kontakten mit der ASEAN, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, können wir bereits von einem einzigen eurasischen Raum sprechen – sagen wir, von Lissabon bis Jakarta. Warum denn eigentlich nicht?
Russlands Präsident Wladimir Putin legte eine Initiative für eine große eurasische Partnerschaft vor. Es war auf dem Russland-ASEAN-Gipfel in Sotschi im Jahr 2016. Er bemerkte, dass wir vom Leben ausgehen wollen, indem wir die Existenz von Integrationsprozessen anerkennen und Verbindungen zwischen ihnen nicht durch irgendwelche künstlichen, von oben auferlegten Vereinbarungen herstellen, sondern indem wir gemeinsame, praktisch umzusetzende Projekte sowohl durch die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und die ASEAN als auch durch die SOZ identifizieren.
Deshalb ist ein großes Europa, ein vereintes Europa für uns unser gemeinsamer Raum. Übrigens hat die Europäische Union dieses Konzept im Dezember 2010 auf dem OSZE-Gipfel in Astana unterzeichnet: Dort wurde zum ersten Mal seit vielen Jahren eine politische Erklärung verabschiedet. Wir müssen den kasachischen Gastgebern dieses Gipfels unsere Anerkennung aussprechen, denn seither sind auf den OSZE-Gipfeln keine politischen Erklärungen mehr verabschiedet worden. In der angenommenen Erklärung wurde die Notwendigkeit des Aufbaus und der Stärkung eines einheitlichen Raums der Sicherheit und Zusammenarbeit im euro-atlantischen und eurasischen Raum erklärt – und das ist der Raum der OSZE.
Natürlich ist Eurasien breiter als das Gebiet der eurasischen Mitglieder der OSZE, aber dennoch. Dieses Konzept besagt, dass wir einen gemeinsamen Raum haben, und dieser sollte das gesamte Gebiet einnehmen, auf das die europäische Zivilisation vor allem von unseren Vorgängern ausgedehnt wurde. Dies verlief nicht gänzlich unblutig, aber es ist dennoch eine Tatsache.
Als wir einen der Russland-EU-Gipfel in Chabarowsk abhielten, war der damalige Chef der Europäischen Kommission José Manuel Barroso völlig verblüfft, als er am Kai entlang in Richtung Innenstadt ging – er sagte, dass sie zwölf Stunden von Brüssel nach Chabarowsk geflogen sind, sich aber immer noch in der europäischen Umgebung befinden. Es war erstaunlich für sie. Ich denke, dass auch die heutigen jüngeren Politiker aus der Europäischen Union versuchen könnten, die Bedeutung dieser zivilisatorischen Eroberung, des Zivilisationsprozesses, zu verstehen. Dabei wurden hier die europäischen Zivilisationsnormen „vorangetrieben“, ohne die Rechte der indigenen Völker zu untergraben – deren Wohlergehen wir ständig, auch im Rahmen internationaler Organisationen, betonen.
Nun zur Einheit der Europäischen Union. Ich habe bereits erwähnt, dass es eine kleine, aber sehr aggressive Gruppe von Staaten gibt, die alle und jeden auf die Konfrontation mit Russland einstimmen, um Sanktionen fortzusetzen, bis „die Minsker Vereinbarungen von Moskau umgesetzt wurden“. Dies wurde vom ehemaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko verwendet und wird nun von den neuen ukrainischen Behörden eingesetzt. Sie selber werden nichts tun, denn ohne ihr Handeln werden die Minsker Abkommen nicht erfüllt, doch die EU wird gemäß ihrer Logik die Sanktionen gegen Moskau aufrechterhalten. Und die Ukraine wird irgendwelche Subventionen über die Linie der westlichen Hilfen erhalten. Dies ist keine praktische Politik mehr, sondern eine gewisse Besessenheit von Sanktionen. Obwohl jeder weiß, dass die europäische Wirtschaft durch sie Verluste in Höhe von vielen Dutzend, wenn nicht gar Hunderten von Milliarden Euro zu tragen hat.
So spekuliert die russophobe Minderheit in der Europäischen Union eindeutig auf das Konsensprinzip. Viele Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten sagen uns von Angesicht zu Angesicht, dass sie gegen Sanktionen sind, dass Sanktionen schädlich sind. Aber sie haben das Prinzip der Solidarität, das Prinzip des Konsenses. Nach meinem Verständnis ist der Konsens die Zustimmung aller. Und wenn jemand gegen Sanktionen ist – und das sind viele, wie uns in bilateralen Kontakten gesagt wird –, dann sollte es doch keinen Konsens geben. In der Zwischenzeit sieht es so aus, dass diese russophobe Minderheit die Konsensregel aktiv missbraucht, um allen anderen die Aufrechterhaltung einer völlig künstlichen und absurden Verbindung zwischen dem Sanktionsregime und der Umsetzung der Minsker Abkommen aufzuzwingen.
Nun zum „Brexit“. Wie die Briten selbst sagen: Die Demokratie hat funktioniert. 51 Prozent der Einwohner des Königreichs sprachen sich für einen Austritt aus der EU aus. Dann gab es Zweifel, innere Qualen und Zögern. In der Folge gab es Veränderungen in der Konservativen Partei Großbritanniens, Menschen sind an die Macht gekommen, die alle Zögerungen abschmetterten. Die Briten hielten sich in der Europäischen Union immer gesondert und versuchten immer, ihr eigenes Spiel zu spielen – auch das ist eine Tatsache. Sie genossen wirtschaftliche und handelspolitische Vorteile, aber politisch hielten sie stets Abstand und versuchten, ihre Interessen in der Europäischen Union und in Washington durchzusetzen (da gibt es nichts zu verbergen).
Daher waren sie nicht umsonst Teilnehmer vieler Prozesse, die in der EU stattfanden. Dieser Sonderweg war schon zu Zeiten der Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union sichtbar. Deshalb glaube ich nicht, dass die EU unter dem „Brexit“ viel leiden wird. Wenn er dazu beiträgt, dass die Union einen stärkeren Zusammenhalt aufbaut, ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit nicht auf der Grundlage von Russophobie (bei der London eine große Rolle spielte) stärken kann, so werden wir diese Tendenz nur begrüßen.
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