Keine Demokraten. Nirgends.
von Dagmar Henn – https://kenfm.de
Ach, was scheinen sie um die Demokratie zu ringen. Da wird verschworen, intrigiert, gekrönt, gestürzt, und alles mit einer dramatischen Hintergrundmusik von Gut gegen Böse, wie zum Angriff der Jedi-Ritter auf den Todesstern; auf jeden Fall, um Finsternis abzuwehren.
Alles wird mobilisiert, vom Liveticker zur Talkshow, selbst die Zombiedemonstration ‚Unteilbar‘ wird wieder einmal scheinbelebt(1), und das Publikum soll sich empört, erregt und dankbar in eines der angebotenen Lager finden. Schließlich, das ist der Tenor aller Darsteller, hier geht es um was, hier geht es um die Demokratie. Der DGB-Chef für Hessen und Thüringen behauptet gar, durch die Wahl Kemmrichs sei „der antifaschistische Konsens zerbrochen, der in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelebt worden sei“.
Die angestrebte Höhe Shakespearscher Dramen wird allerdings nicht erreicht; es ist eher ein misslungenes Erbauungsstück der Heilsarmee, das eine Mischung aus Verwirrung und Langeweile hinterlässt. Hier geht es um was? Um was geht es denn? Krieg oder Frieden? Links gegen Rechts? Demokraten gegen Antidemokraten?
Manchmal ist es hilfreich, einfache Definitionen hervorzukramen, um wieder etwas Ordnung in die politischen Begriffe zu bringen.
Links, so sah man das einmal, waren jene, die für die breite Masse der ökonomisch und politisch Benachteiligten eintraten, die davon überzeugt waren, dass die Menschen kollektiv im Stande wären, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, und für die die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen nicht das Ergebnis von Veranlagung oder gottgegebener Ordnung, sondern der menschengemachten, daher veränderbaren wirtschaftlichen Machtverhältnisse und Abhängigkeiten war. Rechts waren jene, die die Teilung in Reiche und Arme, Mächtige und Ohnmächtige für natürlich und begrüßenswert hielten und im Interesse der kleinen Zahl ökonomisch und wirtschaftlich Bevorteilter handelten.
Würde man anfangen, nach diesem Kriterium die bundesdeutsche Politik zu sortieren, würde man verblüfft feststellen, dass es sehr viele Rechte, aber so gut wie gar keine Linken gibt. Nachdem auch die Linkspartei weder gegen die CO2-Steuer noch gegen neuere Verarmungsideen wie eine Fleischsteuer Stellung bezieht, in der Friedensfrage sichtlich schwächelt und dem Kriegstreiberbündnis NATO keinen Widerstand mehr entgegensetzt, ist das gesamte Feld, das sich nach der klassischen Definition links von der Mitte befindet, leergeräumt wie ein Fußballfeld eine halbe Stunde nach dem Abpfiff. Fünf Geschmacksrichtungen Neoliberal, also mehr Geld für die Reichen oder noch mehr Geld für die Reichen, ein wenig Abbau demokratischer Rechte oder etwas mehr, ein anderes Angebot ist nicht vorhanden.
Allein der Verweis auf die Tatsache, dass über eineinhalb Millionen(2) Menschen sich Lebensmittel von den Tafeln holen müssen, sollte dazu führen, dass Verfechter einer Zusatzsteuer(3) auf so gut wie alle Proteinquellen (Fleisch, Eier und Milchprodukte) eine Runde ins Eck gehen, um sich für diesen Vorschlag zu schämen, und ihn dann in der Schublade verschwinden lassen, bis die letzte Tafel mangels Nachfrage geschlossen wird. Stattdessen gibt es breiten Konsens, dieser konzernfreundlichen Form der Müllentsorgung weitere Kundschaft zuzuführen, und niemand äußert den einfachen Gedanken, ordentliche Lohn- und Rentenerhöhungen würden von selbst dazu führen, dass die Menschen bessere Nahrungsmittel kaufen. Jedes Etikett ist recht, um die Schrauben noch ein Stück enger zu ziehen, alle sind sie klimafreundlich, tierfreundlich, nur menschenfreundlich nicht.
Aber es geht doch gegen Nazis, das war ein Tabubruch, der Gründungskonsens der Bundesrepublik ist gefährdet… Nein, gerade dieser Gründungskonsens ist es nicht. Der war nämlich niemals antifaschistisch, eher das Gegenteil. Schon im Jahr 1950 wurde das Grundgesetz um den berüchtigten Artikel 131(4) ergänzt, der jedem Staatsbediensteten der Nazizeit einen Rechtsanspruch auf Wiederbeschäftigung verlieh; zeitgleich mit dem Adenauer-Erlass(5), der für die Entlassung aller Kommunisten oder der Sympathie für Kommunisten Verdächtigen aus allen öffentlichen Stellungen sorgte, in die sie oft durch die Alliierten gebracht worden waren. Gründungskonsens der Westrepublik war, und zwar klar gegen den Willen der Bevölkerung, eine innige Umarmung der Nazikader und eine Wiederaufnahme des Goebbelsschen Antikommunismus; das Ganze gekoppelt mit einer Wiedereinführung eines Gesinnungsstrafrechts, dessen Paragrafen pikanterweise von exakt dem Juristen formuliert wurden, der sie bereits für die Nazis verfasst hatte(6).
Die BRD war immer nur eingeschränkt demokratisch, vieles durfte nicht gesagt, ja nicht einmal gedacht werden, was andernorts zur gewöhnlichen politischen Debatte gehörte, und das gesamte Spektrum der angebotenen Parteien lag deutlich rechts von jenem der Nachbarländer.
Für die ‚Wiedervereinigung‘ gab es kein Referendum, weshalb es besonders lustig klingt, wenn deutsche Politiker von einer Annektion der Krim schwadronieren…Als es 1990 geboten gewesen wäre, über eine neue Verfassung zu entscheiden, wurde das Thema schnell unter den Tisch gekehrt; die Mehrheit der Deutschen hätte sich Neutralität gewünscht, nicht weitere Mitgliedschaft in der NATO. Über den EU-Vertrag durften die Deutschen nicht abstimmen. Wenn man betrachtet, in wie vielen Wellen in dieser Republik die Bandbreite des Akzeptablen immer weiter eingeengt wurde, dann wird klar, es handelte sich immer um die Sparausgabe einer bürgerlichen Demokratie.
Wenn ein (CDU) erklärt(7), ‚Teile meiner Partei haben für Hitler gestimmt‚, und daraus dann die Verpflichtung ableitet, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann ist diese Aussage ausgesprochen verharmlosend. Denn in der CDU fanden sich nicht nur ehemalige Abgeordnete des Zentrums, die tatsächlich für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatten; es fanden sich auch viele ehemalige Angehörige der NSDAP, und es war der CDU-Kanzler Adenauer, der mit Artikel 131 und dem Erlass die neugeborene Republik sogleich verstümmelte und die Kontinuität mit der Nazizeit herstellte. Der Gründungskonsens der Westrepublik war nichts als der Antikommunismus, und dafür konnte man Nazikader bestens gebrauchen, die hatten schließlich Erfahrung. Antifaschistisch? Nicht die Bohne. Im Gegenteil.
Die meisten kommunistischen Opfer der Nazidiktatur erhielten nicht einmal Opferrenten, weil sie, die ihre Überzeugung selbst im KZ nicht preisgegeben hatten, weiter zu ihr standen und daher – häufig von den selben Richtern wie in den düsteren zwölf Jahren – nach den Adenauerschen Gesinnungsparagrafen verurteilt wurden und ihnen in der Folge der Anspruch auf die Opferrente gestrichen wurde. Für sowas reichte das Verteilen eines Flugblattes gegen die Remilitarisierung…
Wenn man wissen will, wie eine wirklich demokratische deutsche Republik aussehen könnte – und ich spreche hier nur von einer vollständigen bürgerlichen Demokratie, nicht von einer sozialistischen Republik -, dann muss man einen Blick auf die Jahre vor der BRD werfen, auf den Sommer 1947 etwa, als beispielsweise ein Theodor Heuss noch eine Rede beim Kulturbund in Berlin hielt, der von Johannes R. Becher, dem Dichter der späteren DDR-Nationalhymne, gegründet wurde. Damals sagte er:
„Denn Kriege sind nicht mehr Angelegenheit der Tapferkeit, der heroischen Haltung oder der Auseinandersetzung zwischen Soldaten, Kriege sind heute – wenn sie schon geführt werden – technisch-wirtschaftliche Großunternehmen. Man kann Bombengeschwader nicht irgendwo in beschränkten Werkstätten bauen. Wir wollen das auch nicht und sind deshalb bereit, die Garantie zu übernehmen, dass die deutsche Militärgeschichte zu Ende ist.“(8)
Zehn Jahre später begleitete er als Präsident der Westrepublik die Wiederbewaffnung.
Der Kulturbund war eine tatsächlich antifaschistische Organisation. Es gab ihn ursprünglich in allen vier Zonen; er veranstaltete Konzerte, Bildungsabende zu allerlei wissenschaftlichen Themen, Diskussionsrunden; er sah es als seine Aufgabe, eine demokratische Kultur zu entwickeln.
Der Göttinger Kulturbund beschrieb das 1947 so: er „möchte dadurch seinen Teil dazu beitragen, den Deutschen wieder daran zu gewöhnen, auch im politischen oder weltanschaulichen Gegner den Menschen zu achten und Gegensätze nicht mit Knüppel oder Schlagring, Verdächtigung oder Denunziation auszutragen, sondern durch eine echte geistige Auseinandersetzung.“(9)
Im Gegner den Menschen achten? Gegensätze nicht mit Verdächtigung oder Denunziation austragen? Das klingt so gar nicht nach ‚Kampf gegen Rrrächts‘. Immerhin, man hatte genug mit den blutbesudelten Originalen zu tun, dass man sich nicht aus Indizien Nazis basteln musste. Eine wirkliche Demokratie, das war die Konsequenz, die der Kulturbund zog, braucht wechselseitigen Respekt und eine offene Debatte; die Grenze kann nur in der Handlung liegen, nicht im Wort.
Mit Beginn des Kalten Kriegs wurde im Westen gegen den Kulturbund vorgegangen. Das war nur der erste Schritt, dem viele weitere folgen sollten, bis zum Verbot der KPD 1956. Zehntausende politische Prozesse in den 1950er Jahren hämmerten die Lektion in die bundesdeutschen Köpfe. Der Anwalt Dieter Posser, der viele damals Angeklagte vertrat, fasste das so zusammen: „So wie in der griechischen Sage der phrygische König Midas alles, was er berührte, in (lebensfeindliches) Gold verwandelte, so wurde alles, was Kommunisten unterstützen, sofort verfassungsfeindlich. Das war die Faustregel der Urteilsfindung.“(10)
Kontaktschuld war der Schlüsselbegriff der Adenauerschen Gesinnungsjustiz, letztlich eine Art ‚Volksgerichtshof light‘. Weil diese Vorgehensweise so tief in die bundesdeutsche Geschichte eingeschrieben ist, fällt es auch heute kaum jemandem auf, wie weit sie erneut die politische Landschaft beherrscht. Der Sozialdemokrat Ramelow kann gar nicht tief genug kriechen, um das Etikett ‚Kommunist‘ loszuwerden, selbst wenn die meisten Mitglieder der heutigen Linkspartei mit Kommunisten allerhöchstens mal ein Bier getrunken haben. Die AfD, Fleisch vom Fleische der CDU und der FDP, steht nicht mehr und nicht weniger in der Nachfolge der Nazipartei als ihre Quellparteien selbst. Wozu also dieses ganze Theater?
Die wirklichen politischen Fragen, jene von Brot und Butter statt von Moral, werden so gut wie gar nicht behandelt. Eine Million Wohnungslose, und die politische Klasse liefert ein Erbauungsdrama mit Scheingefechten, in denen so getan wird, als sei Gehorsam gegenüber den Parteiführungen Demokratie und als sei ein Herumschleudern von Worthülsen Politik. Tatsächlich geht es nur darum, zu verschleiern, dass die Unterschiede der tatsächlichen Positionen denkbar gering sind; im besetzten Gebiet kann man sehen, wie tief sich selbst die Linkspartei auf Privatisierungen einlässt, öffentliche Aufgaben Kirchenkonzernen zuschanzt oder genauso gründlich vom alltäglichen Elend wegschaut wie alle anderen.
Die AfD wird es nicht anders halten, wenn man sie lässt.
Die Demokratie ist tatsächlich gefährdet. Aber nicht, weil die CDU hinterhältige Machtspielchen spielt. Das ist normal in dieser politischen Landschaft. Nicht nur die laut Ramelow gegebene Zusicherung(11), im dritten Wahlgang würden einige CDU-Abgeordnete auf die Toilette verschwinden, um seine Wahl mit einfacher Mehrheit zu ermöglichen, auch der Bruch dieser Zusicherung. Dass ein FDPler nach dem dünnsten Faden zur Macht greift und dabei wenig Skrupel kennt, steht nicht im Widerspruch zur Geschichte dieser Partei (auch wenn sie trotzdem einige der wenigen respektablen Politiker der bundesdeutschen Geschichte hervorgebracht hat).
Nein, was die Demokratie gefährdet, ist dieses Freund-Feind-Geschrei in allen Tonlagen, diese spiritistische Sitzung, in der Nazis und Kommunisten beschworen werden, diese Vorführung, die mit den wirklichen Problemen nichts, aber rein gar nichts zu tun hat (zu denen, das kann man nicht oft genug wiederholen, ein US-Großmanöver mit deutscher Beteiligung an der russischen Grenze gehört).
Was die Demokratie gefährdet, das sind Kontaktschuldvorwürfe und Sprechverbote, Gesinnungsjustiz und hysterische Emotionalisierung einzelner Themen. Sie ist gefährdet durch das Schweigen zu großen Teilen der Wirklichkeit, das auf einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Verachtung und Inkompetenz beruht. Sie ist gefährdet, weil die gesamte handelnde Kaste nicht weiter davon entfernt sein könnte, ‚auch im politischen oder weltanschaulichen Gegner den Menschen zu achten‚.
Wir haben abermals eine Demokratie ohne Demokraten.
Quellen:
- https://www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/erfurt/demo-nichtmituns-erfurt-domplatz-100.html
- https://www.welt.de/politik/deutschland/article200523900/Zehn-Prozent-Anstieg-bei-den-Nutzern-der-Tafeln-in-Not.html
- https://fimico.de/2020/02/10/sozialverbaende-gegen-steueraufschlag-fuer-fleisch/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_zur_Regelung_der_Rechtsverhältnisse_der_unter_Artikel_131_des_Grundgesetzes_fallenden_Personen
- https://de.wikipedia.org/wiki/Adenauer-Erlass
- Helmut Kramer: Josef Schafheutle; in: Zwischen Recht und Unrecht, Lebensläufe deutscher Juristen, Düsseldorf 2004
- https://www.bild.de/politik/talk-kritik/talk-kritk/altmaier-blackout-teile-meiner-partei-haben-fuer-hitler-gestimmt-68705926.bild.html
- Zitiert nach: Thüringische Landeszeitung vom 09.07.1947; diese Rede war einige Tage später, aber identisch mit jener beim Kulturbund
- Quelle: Bundesarchiv
- Dieter Posser, Anwalt im Kalten Krieg, München 1991, S. 253
- https://www.merkur.de/politik/thueringen-wahl-merkel-hoecke-ministerpraesident-kanzlerin-strafanzeige-cdu-afd-fdp-kemmerich-mohring-akk-zr-13533852.html
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