"Solidarität der Lemminge":
10.03.2019 • 07:15 Uhr
© Deutsch-Russisches Forum e.V.
Lüders, Braml und Rahr (von links) während der Diskussion
Die USA verlieren ihre Hegemonie, eine neue Weltordnung ist im Entstehen. Darüber herrschte bei einer vom Deutsch-Russischen Forum veranstalteten Diskussion Einigkeit. Kritisch bewerteten die Diskutanten vor allem die derzeitige Rolle Deutschlands und der EU.
Am Dienstagabend veranstaltete das Deutsch-Russische Forum in der Repräsentanz der Robert Bosch GmbH in Berlin-Charlottenburg eine Podiumsdiskussion zum Thema "Eine neue Weltordnung: Vom Ende amerikanischer Hegemonie". Mit dem Moderator Dr. Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) diskutierten der vor allem als Nahostexperte bekannte Michael Lüders und der Russlandspezialist Prof. Alexander Rahr.
Die Diskussion verlief alles andere als kontrovers und war dennoch spannend. Braml, der sich selbst als Transatlantiker outete, gab mit seinen einleitenden Bemerkungen die Richtung vor. Die bisherige Weltordnung sei am Zerfallen, das Ende der US-amerikanischen Hegemonie ein Problem, vor allem für die Deutschen.
Rahr erklärte, dass die Ordnung der Pariser Charta, in der die westlichen Werte von Demokratie und Liberalität als allgemeinverbindlich festgeschrieben wurden, an ihr Ende gelangt sei. Die Versuche des Westens, die eigene Ordnung auszubreiten, seien gescheitert. Ähnlich sah es Lüders, der insbesondere den Irakkrieg der USA 2003 und die Finanzkrise von 2008 als Zäsuren für das Ende der US-amerikanischen Hegemonie bezeichnete.
Die Diskutanten waren sich einig, dass sich eine neue, tatsächlich multipolare Welt bereits abzeichnet, in der China und Russland auf unterschiedliche Weise eine größere Rolle einfordern. Kritisch wurde in diesem Zusammenhang die Rolle der EU-Europäer bewertet, deren Reaktion auf den geopolitischen Wandel Lüders als hilflos beschrieb.
Lüders war es auch, der auf den Grund der gegenwärtigen Probleme in der internationalen Politik zu sprechen kam. Die USA setzten ausschließlich auf Druck, nicht auf Gespräche, um mit ihren Rivalen zu einem Übereinkommen zu gelangen. Die EU widersetze sich - wie im Iran-Konflikt - bestenfalls halbherzig, und spiele das Spiel der US-Amerikaner mit, anstatt souverän mit den Beteiligten nach Verständigungen zu suchen.
Rahr und Lüders gingen ausführlich auf die Rolle Russlands in der internationalen Politik ein. Rahr verwies auf die wiederholten Versuche der Russen, mit der EU zu einer Annäherung oder wenigstens Verständigung zu gelangen, die vom Westen allesamt herablassend zurückgewiesen worden seien. Er kritisierte dabei auch die Neigung der Russen, bisweilen die Welt wie im 19. Jahrhundert zu sehen. Den "Feind Russland" habe sich der Westen mit der NATO-Osterweiterung aber selbst geschaffen.
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Rahr wies auch daraufhin, dass die anhaltende Neigung des Westens, sich als moralisch höherstehend zu sehen, eine Verständigung mit Russland und China erschwert. Die EU-Staaten und vor allem die Deutschen täten gut daran, sich auf ihre Interessen zu besinnen und sich mit allen Seiten ins Benehmen zu setzen.
Es sei im Interesse Deutschlands, zwischen den verschiedenen Vorstellungen innerhalb der EU bezüglich des Verhältnisses zu Russland und zu Nordamerika Kompromisse zu finden. Diese Frage lasse sich nicht verdrängen. Deutschland müsse sich um Äquidistanz bemühen, es brauche ein vernünftiges Verhältnis zu allen Akteuren.
Die deutsche Wirtschaft sei auf die Ressourcen Russlands angewiesen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel habe auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit ihrer Bemerkung, ob man Russland in die Arme Chinas treiben wolle, "einen phantastischen Satz" gesagt. Man müsse überlegen, ob man hier alles richtig mache.
Rahr sprach auch die offene Frage eines neuen Wettrüstens an. Deutschland müsse sich viel mehr Gedanken machen, damit es nicht zur Stationierung von Atomraketen in Mitteleuropa komme. "Wenn wir diese Situation verschlafen, sind wir wirklich Vasallen", so Rahr.
Michael Lüders allerdings bezweifelte, dass Politik und Medien in Deutschland derartige Fragen überhaupt noch rational diskutieren können. Auf die Frage des früheren WDR-Radiojournalisten Thomas Nehls, wie man das Mit-Zweierlei-Maß-Messen in den deutschen Medien überwinden könne, konstatierte Lüders vor allem in der Diskussion um Russland "Meinungskorsette", die nicht verlassen werden.
Es gebe eine "Bereitschaft zur Denunziation", denn wer sich für Ausgleich mit Russland einsetze und Verständnis für russische Positionen zeige, werde schnell disqualifiziert. Lüders sprach von einer Paradoxie der westlichen Wahrnehmung: Man glaube immer noch, "für das Wahre, Gute und Schöne" zu stehen und verorte Russland als "Hort des Bösen". Selbstkritik finde nicht statt. Er verwendete dafür den Begriff einer "Solidarität der Lemminge", die sich kollektiv in Richtung Abgrund bewegten.
Es gebe keinen Raum für eine wirkliche Debatte. In Medien und Politik gehe es um Scheindebatten, emotionale Themen und hochgejazzte Nebensächlichkeiten. Die eigentlich relevanten Fragen blieben ausgespart - und das nicht nur in der Außenpolitik. Wie unter diesen von Lüders überzeugend skizzierten deutschen Verhältnissen eine vernünftige außenpolitische Debatte zustande kommen soll - auf diese Frage hatten die Teilnehmer dieser anregenden Diskussionsrunde letztlich auch keine Antwort.
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