Giftgas für die "Bolschies"
1919 Die Interventionskriege gegen Sowjetrussland haben gerade begonnen, als die britische Regierung Chemiewaffen gegen die Rote Armee erlaubt und dies auch für Indien erwägt
Ausgabe 38/2013 Freitag
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Foto: Hulton Archive/ Getty images
Auch wenn der Weltkrieg vorbei und gewonnen ist, genießt Geheimhaltung für das britische Heer 1919 weiter höchste Priorität. Die imperiale Generalität weiß, dass in London mit Empörung zu rechnen ist, sollte bekannt werden, dass man die Absicht hegt, jetzt erst recht den geheimen Vorrat an chemischen Waffen einzusetzen. Doch Winston Churchill wischt alle Bedenken generös beiseite. Der damalige Kriegsminister ist seit Langem ein Anhänger dieser Kampfstoffe und entschlossen, sie nun gegen Sowjetrussland und dessen Rote Armee einzusetzen. Die Interventionskriege gegen die neue Macht im Osten haben begonnen.
Briten und Franzosen wollen sich damit schadlos halten für den im März 1918 geschlossenen deutsch-sowjetischen Separatfrieden von Brest-Litowsk, der dem Krieg im Osten ein Ende setzt, ohne dass die Entente-Mächte darauf Einfluss haben. Wladimir I. Lenin verzichtet als Chef der Revolutionsregierung auf Hoheitsrechte in Polen, Litauen wie Kurland und gibt mit Teilen Weißrusslands zugleich enorme ökonomische Ressourcen auf. Doch beseelt ihn die Überzeugung, die Sowjetmacht kann nur überleben, wird sie nicht länger von deutschen und k.u.k.-Truppen bedroht.
Die Obristen des Zaren
Wer die Sowjetregierung stürzt, kann diese Territorien anders aufteilen, so die Überlegung in London und Paris – und der verhindert jede Annäherung oder gar Allianz zwischen Moskau und Berlin. So sind bereits im Juni 1918 – nur drei Monate nach Brest-Litowsk – etwa 600 britische Soldaten in Murmansk am Arktischen Ozean gelandet. Zwei Monate danach folgt in Archangelsk ein britisch-französisches Korps, verstärkt durch ein US-Aufgebot von 5.000 Mann, das die Waffendepots der einstigen Zaren-Armee am Weißen Meer sichern soll, bevor sie von den Bolschewiki übernommen werden. Außerdem kämpft in der Ukraine noch ein britisches Korps, das ab Sommer 1919 den Gegner in Bedrängnis bringen soll.
Wer von den Westmächten interveniert, kollaboriert in der Regel mit den alten Obristen von Zar Nikolaus II. und folgt dem strategischen Tableau: Sobald die regionale Gegenwehr gebrochen ist, wird aus allen vier Himmelsrichtungen konzentrisch auf Moskau marschiert. Im Norden weiß General Judenitsch die dort stehenden britischen Truppen an seiner Seite, im Süden lässt sich General Denikin eine ganze Armee von den Franzosen ausrüsten, im Osten kommandieren englische Militärberater die Gefolgschaft von Admiral Koltschak – im Westen schließlich steht eine neu aufgestellte polnische Armee unter General Józef Piłsudski.
Nirgends wird an den Einsatz von chemischen Waffen gedacht, davon ausgenommen ist der Raum Archangelsk am Weißen Meer, östlich von Karelien. Dort werden auf Drängen Churchills Abschussbasen für Giftgas-Granaten eingerichtet. Neu ist der Gebrauch dieser gefährlichen Waffen keineswegs. Während der dritten Schlacht von Gaza im November 1917 hatte General Edmund Allenby gut zehntausend Stickgas-Geschosse auf Stellungen des osmanischen Heeres abfeuern lassen, auch wenn sich die Wirkung in Grenzen hielt. Und auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges in Belgien und Frankreich hatte der britische Generalstab nach dem ersten deutschen Chlorgas-Angriff vom 22. April 1915 in Flandern umgehend reagiert. Der vom Waffenkonstrukteur William Stoke gebaute Werfer für das Verschießen von Gasminen ging noch im gleichen Jahr in Serie. Damit konnten Geschosse, die etwa 14 Kilogramm Kampfstoff enthielten, bis zu 1.100 Meter weiter geschleudert werden. Erste Stoke-Werfer wurden im Oktober 1916 bei Beaumont Hamel eingesetzt – und mehr als 1.000 davon Anfang April 1917 für die Schlacht bei Arras in Stellung gebracht. Ein derart konzentrierter Angriff konnte für die gegnerischen Verbände katastrophale Folgen haben. Die Soldaten kamen häufig gar nicht mehr dazu, ihre Schutzmasken aufzusetzen. Ohnehin waren die seinerzeit gebräuchlichen Filter den dichten Schwaden einer Phosgen-Wolke oder eines anderen Kampfstoffs nicht gewachsen.
Im Spätsommer 1918 – kurz vor dem Zusammenbruch der deutschen Westfront und dem Waffenstillstand zwischen dem Kaiserreich und der Entente am 11. November 1918 – vermeldeten die Chemiker in den Regierungslabors von Porton (Grafschaft Wiltshire) eine aus ihrer Sicht kriegsentscheidende Neuentwicklung. Sie trug den Namen M Device und enthielt das hochgiftige Diphenylaminchlorarsin – bekannt als Adamsit. Generalmajor Charles Foulkes, der für die Forschungen verantwortlich zeichnete, sprach von der „effektivsten Chemiewaffe, die jemals zum Einsatz kommen“ werde. Erste Versuchsreihen in Porton bestätigten die verheerende Wirkung – heftiges Erbrechen, Atemnot, Bluthusten und eine plötzliche, lähmende Müdigkeit gehörten zu den häufigsten Folgen auf dem Schlachtfeld.
Gnädiger Kampfstoff
Zurück nach Sowjetrussland. Sir Keith Price, der im Auftrag der British Army die Produktion chemischer Waffen koordiniert, ist Anfang 1919 überzeugt, der Einsatz von Adamsit werde zum raschen Kollaps von Lenins Regierung führen. „Würde man es mit diesem Gas nur einmal versuchen, fände man diesseits der Wolga keine Bolschies mehr“, prophezeit er in aufgeräumter Stimmung. Das Kabinett von Premier Lloyd George widersetzt sich zunächst dem Verschießen von M-Device-Granaten, was bei Winston Churchill zu einem Wutausbruch führt. Er will das Giftgas unbedingt gegen die Rote Armee testen, um es anschließend gegen rebellische Volksgruppen in Nordindien einzusetzen. In der britischen Kolonie soll ein Präzedenzfall geschaffen werden. „Ich bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme zu gebrauchen“, erklärt Churchill in einem Memorandum, in dem er seine Kabinettskollegen für ihre „Zimperlichkeit“ kritisiert: „Die Einwände des India Office bezüglich des Einsatzes von Gas gegen Ureinwohner sind unvernünftig. Gas ist ein gnädigerer Kampfstoff als hochexplosive Artilleriegranaten. Es zwingt den Feind, eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld bei einem geringen Verlust an Menschenleben zu akzeptieren. Es ist damit wirksamer als irgendein anderes Kriegsmittel.“ Die Denkschrift endet mit der nicht unbedingt gelungenen schwarzhumorigen Frage: „Warum ist es unfair, wenn ein britischer Artillerist eine Granate abfeuert, die den Eingeborenen zum Niesen bringt?“. Das sei doch nun „wirklich zu albern.“
Gut 50.000 M-Device-Granaten werden nach Russland verschifft. Am 27. August 1919 kommt ein Teil davon bei einem Angriff auf den 200 Kilometer südlich von Archangelsk gelegenen Ort Emtsa zum Einsatz. Berichten zufolge ergreifen die Soldaten der Roten Armee panisch die Flucht vor den auf sie zu wabernden grünen Wolken. Diejenigen, die sich nicht retten können und vom Gas eingeholt werden, erbrechen Blut und bleiben bewusstlos in ihren Schützengräben liegen. Den September über folgen weitere Gas-Attacken auf die von sowjetrussischen Verbänden gehaltenen Dörfer Chunowa, Vichtowa, Pocha, Chorga, Tavoigor und Zapolki. Doch erweisen sich die verschossenen Granaten als nicht so effektiv, wie von Churchill erhofft. Drehender Wind macht sich nachteilig bemerkbar, teilweise liegt es am klammen, nebligen Herbstwetter. Schließlich fällt Anfang Oktober die Entscheidung, die Angriffe zu reduzieren. Bald werden sie ganz eingestellt und noch nicht verbrauchte Bestände an M-Device-Granaten im Weißen Meer versenkt (vermutlich liegen sie dort bis heute in einer Tiefe von 60 Metern).
Ende 1919 verlassen letzte ausländische Einheiten – ohne dass es den Sturm auf Moskau gab – Nordrussland in Richtung Heimat. In den Entente-Ländern kennt man zwischenzeitlich die schier unglaublichen Opferzahlen des Weltkrieges. Der Öffentlichkeit gilt der Interventionskrieg im Osten längst als so verstiegenes wie sinnloses Unterfangen.
Giles Milton ist Autor des Guardian und Verfasser historischer Sachbücher
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