Merkel zittert, Deutschland wankt: Ein Zittern als Sinnbild für die Krise des Landes
29.06.2019 • 16:56 Uhr
Quelle: Reuters
Angela Merkels Zitteranfälle beschäftigen die Medien. Dabei weist dieses Phänomen auch über die Person Merkel hinaus – es kann als Sinnbild für die Krise verstanden werden, auf die sich Deutschland nach 14 Jahren Merkel-Regierung mit großen Schritten zubewegt.
von Andreas Richter
Die Medien berichteten am Donnerstag über einen erneuten Zitteranfall von Angela Merkel. An dieser Stelle soll nicht über die Gesundheit der Kanzlerin spekuliert werden oder darüber, ob "wir Angst haben müssen". Es ist aber festzuhalten, dass dieses Zittern nach 14 Jahren Merkel-Regierung geradezu sinnbildlich den Zustand des Landes beschreibt, das sich zügig auf eine tiefe gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Krise zubewegt.
Außenpolitisch haben die Regierungen Merkels das Land weiter in die Irre geführt: Unbeirrbar stehen sie an der Seite des absteigenden und immer unberechenbarer agierenden transatlantischen Hegemons, gegen Russland, vielleicht auch bald gegen China, solidarisch bei dessen Abenteuer in Venezuela, im Iran-Konflikt höchstens rhetorisch aufmuckend. Diese transatlantische Nibelungentreue führt Deutschland ins Nirgendwo und widerspricht den grundlegenden strategischen Interessen des Landes.
Die EU hat die angeblich "pro-europäische" Kanzlerin praktisch im Alleingang an die Wand gefahren. Zuerst mit ihrem Austeritätsdiktat, das nicht nur Griechenland ins Elend geführt hat, dann mit ihrem moralisch daherkommenden Diktaten in der Flüchtlingspolitik. Als Profiteur der Eurokrise und als überheblicher und egoistischer Besserwisser ist Deutschland heute in der EU so unbeliebt wie nie. Das gegenwärtige Postengeschacher verdeutlicht, dass sich die EU in offener Auflösung befindet. Das absehbare Ende der Gemeinschaftswährung dürfte für Deutschland besonders teuer werden.
Innenpolitisch sieht es nicht besser aus. Die inhaltlich nie wirklich begründete Energiewende hat Milliarden verschlungen und macht die Energieversorgung immer teurer und unsicherer, ohne dass damit der Umwelt geholfen wäre. Es sollte nicht vergessen werden, dass der angebliche Ausstieg aus Atom und Kohle nur ein Ausstieg aus diesen Formen der Stromerzeugung ist – aber Atom- und Kohlestrom künftig in größeren Mengen importiert werden dürften.
Der deutschen Wirtschaft kommt gerade das Geschäftsmodell abhanden. Die gewaltigen Exportüberschüsse werden von den Handelspartnern immer weniger hingenommen, die Neuordnung des Welthandels erfolgt zu ihren Lasten. Neue Ideen sind nicht in Sicht. Der ausufernde Niedriglohnsektor verhindert Innovation, gleichzeitig verfällt die Infrastruktur. Mit einem Ende der Währungsunion hätten die europäischen Nachbarn wieder die Möglichkeit, sich mit einer Abwertung der eigenen Währung wettbewerbsfähig zu machen.
Die soziale Frage stellt sich in Deutschland in immer größerer Dringlichkeit. Denn obwohl die wirtschaftlich relativ sorgenfrei lebende Mittelschicht hier größer ist als in anderen EU-Ländern, ist das Leben des Großteils der abhängig Beschäftigten und der Arbeitslosen härter geworden. Nie hat man so viele Menschen Pfandflaschen aus dem Müll fischen gesehen wie heute, nie gab es so viele Obdachlose wie im angeblich "besten Deutschland aller Zeiten". Das Bildungssystem verfällt, das Gesundheitssystem ist immer weniger auf das Wohl des Patienten ausgerichtet.
Die sozialen Probleme werden verschärft durch Merkels Migrations- und Flüchtlingspolitik, die Wladimir Putin zu Recht als ihren Kardinalfehler bezeichnet hat. Deren Folgen auch für die innere Sicherheit zeichnen sich immer deutlicher ab und werden nicht mehr lange unter dem Teppich gehalten werden können. Und die Kosten sind bereits heute gewaltig.
Der gravierendste und giftigste Teil von Merkels Erbe ist allerdings die Vergiftung der politischen Kultur des Landes durch die zur Norm gewordene moralische Argumentation bei der Begründung politischer Entscheidungen. Keine der erwähnten Grundsatzentscheidungen wurde inhaltlich begründet und diskutiert, sondern nur moralisch; die Entscheidungen erfolgten dabei völlig intransparent.
Das ist nicht nur scheinheilig, es hatte auch die handfeste Konsequenz, dass abweichende Meinungen als unmoralisch diskreditiert wurden. Kritiker der Flüchtlingspolitik wurden und werden so ganz unabhängig von Art und Richtung ihrer Argumentation als "Nazis" beschimpft – ein Geschenk für die wirklichen Rechtsextremen. Gegner der Russlandsanktionen sind "Putin-Versteher", wer der allgegenwärtigen Klimawandel-Hysterie skeptisch gegenübersteht und differenziert zu argumentieren versucht, wird schnell zum "Klimaleugner". Nicht umsonst haben viele Deutsche den Eindruck, dass die Meinungsfreiheit faktisch längst von der politischen Korrektheit eingeschränkt wird.
Abgesehen davon, dass die hier nur erwähnten Debatten eher Scheindebatten sind, bei denen es wohl vor allem darum geht, die wirklich relevanten Themen zu überdecken, spaltet die Art des Debattierens nach dem Muster Gut gegen Böse die Gesellschaft immer tiefer. Noch gibt das linksliberale, urbane, postmodern geprägte Bürgertum in diesen Diskussionen den Ton an; es spricht aber vieles dafür, dass die Verschärfung der hier nur skizzierten Krisen dazu führt, dass sich die Realität gegenüber ideologisch induzierten Sichtweisen wieder stärker Geltung verschafft.
Nach 14 Jahren unter Angela Merkel fährt dieses Land in einer ganzen Reihe von Themenfeldern ungebremst gegen die Wand. Das Ausmaß der Misere ist im Moment eher zu erahnen als zu erkennen, doch ein Unbehagen ist schon länger spürbar. Das Zittern der Kanzlerin lässt sich dabei als Sinnbild für die innere Unsicherheit einer Gesellschaft verstehen, die sich vor dem Kommenden fürchtet und dabei unfähig wirkt, die bestehenden Probleme rational zu erfassen, um sie so lösen zu können.
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