Erklärung von Sevilla "Gewalt ist kein Naturgesetz"
Veröffentlicht in UNESCO heute, 1-3/1991; Im November 1986 hat die 25. Generalkonferenz der UNESCO mit ihrer Resolution 25C/Res.7.1 beschlossen, die am 16. Mai 1986 von 20 Wissenschaftlern als Beitrag zum Internationalen Friedensjahr 1986 formulierte Erklärung zur Gewaltfrage weltweit zu verbreiten und als Grundlage eigener Expertentagungen zu verwenden. Die "Erklärung von Sevilla", an der auch der Ende 1987 zum UNESCO-Generaldirektor gewählte spanische Biochemiker Federico Mayor beteiligt war, ist eine intellektuelle Ermunterung der Bemühungen der UNESCO um internationale Verständigung, friedliche Zusammenarbeit und die Achtung der Menschenrechte. Die UNESCO hat mittlerweile den Text dieser Erklärung in ihren sechs Amtssprachen verbreitet, die UNESCO-Nationalkommissionen Finnlands, Schwedens, Griechenlands und Italiens in vier weiteren Sprachen. In einer Situation, die vielen die Sprache verschlägt, will die UNESCO heute als Informationsdienst der Deutschen UNESCO-Kommission die "Erklärung von Sevilla" erstmals auch in deutscher Sprache zur Diskussion stellen. Sie wendet sich energisch gegen das fatalistische Festhalten an der Meinung, Gewalt und Aggression seien eine Art "Naturgesetz", und auch noch so gut gemeinte Aktionen könnten nichts daran ändern. Die Erklärung von Sevilla wurde mittlerweile von mehr als 100 nationalen und internationalen wissenschaftlichen Verbänden und Vereinigungen gebilligt, unter ihnen der Internationale Rat für Psychologie (International Council of Psychologists) und in den USA die nationalen Fachverbände für Psychologie, Sozialpsychologie und Anthropologie (American Psychological Association; Society for the Psychological Study of Social Issues; American Anthropological Association).
Wir halten es für unsere Pflicht, uns aus der Sicht unserer verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen mit der gefährlichsten und zerstörerischsten Aktivität des Menschen zu befassen: mit Krieg und Gewalt.
Wir wissen, daß Wissenschaft ein Produkt des Menschen ist und deshalb weder letztgültige noch umfassende Wahrheiten formulieren kann.
(...) Unsere Meinung haben wir in der nachstehenden "Erklärung zur Gewaltfrage" formuliert. Wir wenden uns gegen den Mißbrauch von Ergebnissen biologischer Forschung zur Legitimation von Krieg und Gewalt. Einige dieser Forschungsergebnisse, die wir als solche nicht bestreiten, haben beigetragen zur Schaffung einer pessimistischen Stimmung in der öffentlichen Meinung. Wir glauben, daß die öffentliche und gut begründete Zurückweisung falscher Interpretationen von Forschungsergebnissen einen wirksamen Beitrag zum internationalen Friedensjahr 1986 und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.
Der Mißbrauch wissenschaftlicher Theorien und Forschungsergebnisse zur Rechtfertigung von Gewalt ist nicht neu; er begleitet die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften. So wurde beispielsweise die Evolutionstheorie herangezogen zur Legitimation von Krieg, Völkermord, Kolonialismus und Unterdrückung der Schwächeren.
Unsere Position ist in fünf Thesen formuliert. Wir sind uns dessen bewußt, daß vom Standpunkt unserer wissenschaftlichen Fachrichtungen noch weit mehr zur Frage von Krieg und Gewalt zu sagen wäre. Wir beschränken uns jedoch auf fünf Kernaussagen, die wir für einen wichtigen ersten Schritt (zur Erarbeitung einer umfassenden wissenschaftlichen Position) halten.
(1) Verhaltensforschung (Ethologie):
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, der Mensch habe das Kriegführen von seinen tierischen Vorfahren ererbt. Zwar gibt es Kampf im ganzen Tierreich: doch gibt es nur einige wenige Berichte von Kämpfen zwischen organisierten Gruppen von Tieren, und in keinem von ihnen ist die Rede vom Gebrauch von Waffen. Die normalen Verhaltensweisen von Raubtieren haben nichts zu tun mit Gewalt innerhalb derselben Spezies (Gattung). Kriegführung ist ein spezifisch menschliches Phänomen, das sich bei anderen Lebewesen nicht findet.
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, der Mensch habe das Kriegführen von seinen tierischen Vorfahren ererbt. Zwar gibt es Kampf im ganzen Tierreich: doch gibt es nur einige wenige Berichte von Kämpfen zwischen organisierten Gruppen von Tieren, und in keinem von ihnen ist die Rede vom Gebrauch von Waffen. Die normalen Verhaltensweisen von Raubtieren haben nichts zu tun mit Gewalt innerhalb derselben Spezies (Gattung). Kriegführung ist ein spezifisch menschliches Phänomen, das sich bei anderen Lebewesen nicht findet.
Die Tatsache, daß sich die Kriegführung im Lauf der Geschichte so radikal verändert hat, zeigt, daß Kriege Produkte kultureller Entwicklung sind. Biologisch hat Krieg mit Sprache zu tun, die es möglich macht, Gruppen zu koordinieren, Technologien zu vermitteln und Werkzeuge zu gebrauchen. Aus der Sicht der Verhaltensforschung und Biologie sind Kriege möglich, aber nicht unausweichlich, wie ihre unterschiedlichen Formen in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt sowohl Kulturen, in denen über Jahrhunderte Kriege geführt wurde, als auch solche, die zu bestimmten Zeiten regelmäßig geführt haben, zu anderen wieder nicht.
(2) Biogenetik (biologische Verhaltensforschung):
Wisssenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, Krieg oder anderes gewalttätiges Verhalten sei beim Menschen genetisch vorprogrammiert. Gene sind beteiligt an allen Funktionen unseres Nervensystems; sie stellen ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit seinem ökologischen und sozialen Umfeld realisiert werden kann. Individuen haben sehr unterschiedliche genetische Vorgaben, mit denen sie ihre Erfahrungen machen; es ist die Wechselwirkung zwischen der genetischen Ausstattung des Menschen und seiner Umwelt, in der sich die Persönlichkeit ausbildet. Abgesehen von seltenen krankhaften Fällen gibt es keine zwanghafte genetische Prädisposition für Gewalt; für das Gegenteil (die Gewaltlosigkeit) gilt dasselbe. Alle Gene gemeinsam sind bei der Entwicklung unserer Verhaltensmuster und -möglichkeiten beteiligt; doch determinieren sie allein noch nicht das Ergebnis.
Wisssenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, Krieg oder anderes gewalttätiges Verhalten sei beim Menschen genetisch vorprogrammiert. Gene sind beteiligt an allen Funktionen unseres Nervensystems; sie stellen ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit seinem ökologischen und sozialen Umfeld realisiert werden kann. Individuen haben sehr unterschiedliche genetische Vorgaben, mit denen sie ihre Erfahrungen machen; es ist die Wechselwirkung zwischen der genetischen Ausstattung des Menschen und seiner Umwelt, in der sich die Persönlichkeit ausbildet. Abgesehen von seltenen krankhaften Fällen gibt es keine zwanghafte genetische Prädisposition für Gewalt; für das Gegenteil (die Gewaltlosigkeit) gilt dasselbe. Alle Gene gemeinsam sind bei der Entwicklung unserer Verhaltensmuster und -möglichkeiten beteiligt; doch determinieren sie allein noch nicht das Ergebnis.
(3) Evolutionsforschung:
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, im Lauf der menschlichen Evolution habe sich aggressives Verhalten gegenüber anderen Verhaltensweisen durchgesetzt. In allen Gattungen von Lebewesen, die man erforscht hat, wird die Position innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Bewältigung der für die Gruppe wichtigen sozialen Aufgaben erworben. "Herrschaft" setzt soziale Bindungen und Vereinbarungen voraus; auch wo sie sich auf aggressives Verhalten stützt, ist sie nicht einfach gebunden an den Besitz und Gebrauch überlegener physischer Kraft. Überall dort, wo bei Tieren künstlich die Selektion aggressiven Verhaltens gefördert wurde, führte das sehr schnell zu hyper-aggressiven Verhaltensweisen der Individuen.
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, im Lauf der menschlichen Evolution habe sich aggressives Verhalten gegenüber anderen Verhaltensweisen durchgesetzt. In allen Gattungen von Lebewesen, die man erforscht hat, wird die Position innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Bewältigung der für die Gruppe wichtigen sozialen Aufgaben erworben. "Herrschaft" setzt soziale Bindungen und Vereinbarungen voraus; auch wo sie sich auf aggressives Verhalten stützt, ist sie nicht einfach gebunden an den Besitz und Gebrauch überlegener physischer Kraft. Überall dort, wo bei Tieren künstlich die Selektion aggressiven Verhaltens gefördert wurde, führte das sehr schnell zu hyper-aggressiven Verhaltensweisen der Individuen.
Das ist ein Beleg dafür, daß Aggression unter natürlichen Bedingungen nicht das einzige evolutionäre Selektionsmerkmal ist. Wenn man solche im Experiment geschaffenen hyper-aggressiven Tiere in eine soziale Gruppe einführt, zerstören sie entweder deren soziale Struktur oder sie werden verjagt. Gewalt ist weder ein Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.
(4) Neurophysiologie (z.B. Erforschung der Hirnfunktionen):
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, das menschliche Gehirn sei "gewalttätig". Zwar enthält es alle Funktionen, die zur Anwendung von Gewalt benötigt werden, doch werden diese nicht automatisch durch innere oder äußere Reize aktiviert. Anders als andere Lebewesen, aber durchaus ähnlich den höheren Primaten, werden solche Reize beim Menschen zuerst durch die höheren Hirnfunktionen gefiltert, bevor sie Handlungen auslösen. Unser Verhalten ist geformt durch die Erfahrung in unserer Umwelt und im Verlauf unserer Sozialisation. Nichts in der Neurophysiologie des Menschen zwingt zu gewalttätigen Reaktionen.
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, das menschliche Gehirn sei "gewalttätig". Zwar enthält es alle Funktionen, die zur Anwendung von Gewalt benötigt werden, doch werden diese nicht automatisch durch innere oder äußere Reize aktiviert. Anders als andere Lebewesen, aber durchaus ähnlich den höheren Primaten, werden solche Reize beim Menschen zuerst durch die höheren Hirnfunktionen gefiltert, bevor sie Handlungen auslösen. Unser Verhalten ist geformt durch die Erfahrung in unserer Umwelt und im Verlauf unserer Sozialisation. Nichts in der Neurophysiologie des Menschen zwingt zu gewalttätigen Reaktionen.
(5) Psychologie:
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, Krieg sei verursacht durch einen "Trieb" oder "Instinkt" oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegführung kennt sowohl den Vorrang emotionaler Faktoren, die manche "Triebe" oder "Instinkte" nennen, als auch rationaler Überlegungen.
Wissenschaftlich nicht haltbar ist die Annahme, Krieg sei verursacht durch einen "Trieb" oder "Instinkt" oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegführung kennt sowohl den Vorrang emotionaler Faktoren, die manche "Triebe" oder "Instinkte" nennen, als auch rationaler Überlegungen.
Kriege basieren heute auf einer Vielzahl von Faktoren: der systematischen Nutzung individueller Eigenschaften wie Gehorsam, Suggestion und Idealismus, sozialer Fähigkeiten wie der Sprache und rationaler Überlegungen von Kosten-Nutzen-Rechnung, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegführung hat besonderes Gewicht gelegt auf die Förderung "gewalttätiger" Persönlichkeitsmerkmale sowohl bei der Ausbildung von Kampftruppen wie auch beim Werben um die Unterstützung der Bevölkerung. So kommt es, daß solche Verhaltensmerkmale oft fälschlicherweise als Ursachen und nicht als Folgen des gesamten Prozesses angesehen werden.
Schlußfolgerungen:
Wir ziehen aus allen diesen Feststellungen einen Schluß: Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann von falsch verstandenem biologischen Pessimismus befreit und in die Lage versetzt werden, mit Selbstvertrauen im internationalen Friedensjahr 1986 und in den kommenden Jahren an die notwendige Umgestaltung der Verhältnisse zu gehen. Zwar hat es diese Aufgabe vorwiegend mit der Umgestaltung von Institutionen und des Verhaltens der Gemeinschaft zu tun; doch stützt sie sich auch auf das Bewußtsein der einzelnen Akteure, das entweder von Pessimismus oder von Optimierung gesteuert sein kann. Ebenso wie "Kriege im Geiste des Menschen entstehen", so entsteht auch der Frieden in unserem Denken. Dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür mit verantwortlich."
Wir ziehen aus allen diesen Feststellungen einen Schluß: Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann von falsch verstandenem biologischen Pessimismus befreit und in die Lage versetzt werden, mit Selbstvertrauen im internationalen Friedensjahr 1986 und in den kommenden Jahren an die notwendige Umgestaltung der Verhältnisse zu gehen. Zwar hat es diese Aufgabe vorwiegend mit der Umgestaltung von Institutionen und des Verhaltens der Gemeinschaft zu tun; doch stützt sie sich auch auf das Bewußtsein der einzelnen Akteure, das entweder von Pessimismus oder von Optimierung gesteuert sein kann. Ebenso wie "Kriege im Geiste des Menschen entstehen", so entsteht auch der Frieden in unserem Denken. Dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür mit verantwortlich."
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