Unsere einzige Hoffnung Gegen-Propaganda meint Bloggerin
Wissen Sie noch, wie das in den Hochzeiten des Kalten Krieges war? Der böse Russe lauerte überall, während der gute Westen seine Werte verteidigte. „Gut“ und „böse“ waren sauber verteilt. Orientierung kein Problem.
Ein Vierteljahrhundert später wurden die Dinge dann kompliziert: Entspannungspolitik, Abrüstung, Gorbatschows Perestroika, die deutsche Vereinigung, das Ende der Ost-West Konfrontation. Eine Riesenchance, gemeinsam statt gegeneinander über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken, unterschiedliche Erfahrungen in die Waagschale zu werfen und zu überlegen, wie man Völkerverständigung – immerhin eines der erklärten Ziele deutscher Außenpolitik – konkret umsetzen kann: jeder soll sich sicher fühlen, allen soll es besser gehen und strittige globale Fragen werden auf der Grundlage des entstandenen Vertrauens zwischen Ost und West behandelt. Was für eine Chance!
Genau zu dieser Zeit habe ich in Moskau gelebt. Wie groß waren die Hoffnungen, wie stark die Begeisterung und wie stabil die Motivation, gemeinsam an einer besseren Welt zu bauen.
Wieder ein Vierteljahrhundert später ist nichts mehr davon übrig geblieben. Warum? Wer oder was hat die Chancen vertan? Aus dem Partner Russland ist ein strategischer Partner geworden – mit anderen Worten, jemand, auf den man notgedrungen nicht verzichten kann, aber mit dem man lieber nichts zu tun hätte – und die NATO, die sich Ende der 80er Jahre bedauerlicherweise nicht aufgelöst oder wenigstens umgestaltet hat, sieht in Russland in ihrem neuesten Papier gar eine Bedrohung.
Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Der britische Philosoph John Stuart Mill fasste das Dilemma Ende des 19. Jahrhunderts in folgendem Satz zusammen: „Da keiner die Wahrheit besitzt, ist es gut um die Wahrheit zu streiten.“ Demokratische westliche Gesellschaften rühmen sich, genau das tun zu können und auch zu tun. Unsere Verfassung garantiert uns Presse- und Meinungsfreiheit (…dennoch sehen manche Arbeitsverträge verpflichtende Einschränkungen vor). Pluralismus gilt als Wert. Warum wird dann ohne genauere Prüfung alles, was nicht in die Mainstream-Argumentation passt, mit dem Etikett Propaganda versehen? Weil man sich dann nicht inhaltlich damit auseinandersetzen muss? Sobald jemand westlichen Mediennutzern Vorgänge aus russischer Perspektive schildert, gerät er in den Verdacht „im Auftrag“ zu handeln oder bestenfalls ein nützlicher Idiot einer Propagandamaschinerie zu sein, die er in seiner Naivität nicht durchschaut. Informationskrieg, hybride Kriegsführung und ähnliche martialische Begriffe bestimmen den Diskurs statt einer ernsthaften Auseinandersetzung um Inhalte.
Die Frage nach der Wahrheit treibt jeden Journalisten um. Meines Erachtens kommt man der Wahrheit am nächsten, wenn man erstens die Aussage von John Stuart Mill akzeptiert, dass niemand die Wahrheit besitzt und wenn man zweitens versucht Interessen auf den Grund zu gehen. Wem nützt das, was da passiert? Warum wird diese Information gerade jetzt verbreitet? Und es gilt noch einen Punkt zu beachten: sich und andere dafür zu sensibilisieren, nicht mit zweierlei Maß zu messen. Ob das absichtsvoll oder gedankenlos geschieht, macht für die Wirkung keinen Unterschied.
Natürlich gibt es Propaganda! Natürlich können gezielt gestreute Informationen als Waffe dienen. Natürlich funktioniert es, latent vorhandene Feindbilder zu beleben. Aber doch nicht nur von russischer Seite.
Heutzutage spricht man von Narrativ und meint die Strukturierung und Interpretierung von Ereignissen nach bestimmten Mustern. „Die russische Annexion der Krim hat die europäische Friedensordnung ins Wanken gebracht.“ So ist immer wieder zu hören und zu lesen. Das westliche Narrativ eben. Abgesehen von der legitimen Frage, welche Rolle der Krieg in Jugoslawien und die Bombardierung Serbiens 1999 bei der Erhaltung oder Beschädigung der europäischen Friedensordnung gespielt hat, ist die Sache mit der Krim nicht so eindeutig, wie es scheint. Aber „die völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ ist zur Standardformel geworden, die in keiner offiziellen Rede fehlen darf. Wenn doch, droht das politische und mediale Abseits. Alle Entscheidungen und Entwicklungen, die der Abspaltung der Krim vorangegangen waren, werden konsequent ausgeblendet. Wer spricht heute noch von dem unwürdigen Gezerre um die Ukraine im Vorfeld des EU-Assoziierungsabkommens? Wen interessiert heute noch, dass Russland im Vorfeld sehr wohl auf die heikle Situation der Krim hingewiesen hat, die sich wegen der dortigen Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte zwangsläufig abzeichnete? Da sei es sinnvoll, sich über einen speziellen Status der Halbinsel zu verständigen, hieß es. Aber der Gedanke, der vereinzelt auch in westlichen Kreisen geäußert wurde, Brüssel, Kiew und Moskau darüber ins Gespräch zu bringen, wurde von den Entscheidungsträgern als absurd vom Tisch gefegt; mit der ignoranten (oder arroganten?) Bemerkung: was hat Russland damit zu tun?
Eine Auseinandersetzung darüber, wie die Vorgänge auf der Krim völkerrechtlich zu behandeln und damit letztlich auch politisch zu beurteilen sind, findet nicht statt. Wer die vollzogene Sezession der Krim Schritt für Schritt erklärt ohne den Kampfbegriff Annexion zu verwenden, ist im besten Fall der Propaganda Moskaus auf den Leim gegangen.
Mediennutzer sind in ihrer Mehrheit keine auf Völkerrecht spezialisierten Juristen, aber sie haben ein Anrecht darauf, dass ihnen die Zusammenhänge so einfach wie möglich erklärt werden, damit sie politische Entscheidungen bewerten können. Anders macht Demokratie keinen Sinn.
Auf dieser Basis kann man darüber streiten, ob es sich um eine „gewaltsame räuberische Landnahme“ handelt – so lässt sich Annexion definieren – oder vielleicht doch um eine höchst komplizierte Angelegenheit, die zu allem Überfluss dem Willen der Mehrheit auf der Krim entsprach. Denn das räumen ja sogar diejenigen ein, die auf dem Begriff Annexion bestehen. Dazu könnte einem der im Völkerrecht verankerte Begriff „Selbstbestimmungsrecht“ einfallen. Also viel Stoff für Diskussion.
Wie soll es weitergehen? „Lasst uns die Probleme in Angriff nehmen, die uns lösbar erscheinen und andere mit gleicher Ernsthaftigkeit angehen, bei denen die Lösung möglicherweise unseren Kindern überlassen bleibt.“ So hat vor ein paar Tagen Rüdiger Freiherr von Fritsch, Deutscher Botschafter in Moskau, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zitiert. Was ist falsch daran? Zu guten deutsch-russischen Beziehungen – so der Botschafter weiter – gibt es keine Alternative. Diese guten Beziehungen müssen wir uns mühsam neu erarbeiten.
Und dazu gehört, Befindlichkeiten des jeweils anderen ernst zu nehmen und sich mit russischen Sichtweisen intensiv zu beschäftigen, bevor man sie mit dem Etikett Propaganda versieht.
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