Thursday, July 21, 2016

Hintergrund des Türkeiputsches: Erdogan frustriert Hoffnungen der USA

Zugeständnisse der westlichen Medien: der Feind ist nicht Erdogan, sondern die Türkei

Führende westliche Zeitungen bestätigen, dass der Imperialismus den Patriotismus der türkischen Führung mehr fürchtet als deren Islamismus.

Erdogan frustriert Hoffnungen der USA

In einem Artikel mit dem Titel Turkish Leader Erdogan Making New Enemies and Frustrating Old Friends gibt die New York Times (5. Juli) ihrer Frustration über die Politik des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan breiten Raum. 
Die Zeitung schildert, wie Erdogan die an ihn gestellten Erwartungen bezüglich der Islamisierung des laizistischen Landes enttäuscht habe. Mithilfe der (prowestlich-liberalen) Gülen-Bewegung habe er anfänglich die (laizistisch-patriotischen) Militärs als einziges Gegengewicht erfolgreich ausgeschaltet. Doch in der Folge habe er seine wachsende Popularität nicht für den Islam eingesetzt, sondern für die persönliche Macht, und sei deswegen eine Allianz mit der Armee eingegangen. Der Artikel versteigt sich zur reichlich weit hergeholten und konfusen Behauptung, Erdogan habe “begonnen, sich in einer Art Bolschewismus zu verhalten, indem er sich für die wahrhaftige Verkörperung des Volkes hält”. 
Aber was die NYT als “Probleme der Türkei” empfindet, sucht sie “ebenso gut im Lande selbst, als in Herrn Erdogan”. Denn Erdogan sei Ausdruck der autoritären türkischen Gesellschaft. Wenn auch mit Schmerzen, stimmt die NYT offenbar der von ihr zitierten Einschätzung von Doğu Perinçek zu: “Heute ist Erdogan von den patriotischen Kräften gefangen gesetzt worden.”

Frankfurter Allgemeine wagt den “Vater der Türken” als Vater der deutschen Faschisten hinzustellen

Am Tag nach der NYT schreibt auch die “Frankfurter Allgemeine” in ähnlichem Sinne und legt noch einiges obendrauf: Über die Ursprünge der türkischen Identität – Glücklich, wer ein Türke ist (FAZ, 6. Juli). “Noch heute … ist in der Türkei überall der Spruch in Stein gemeisselt: ‘Ne mutlu Türküm diyene.’ Wie glücklich ist, wer von sich sagen kann, er sei Türke. Dabei gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das Osmanische Reich zerfiel und sich Atatürk an den Aufbau des türkischen Nationalstaats machte, eine ‘türkische Rasse’ nicht mehr.” Völlig willkürlich und widersinnig stellt die FAZ damit den Begriff des “Türken”, der einfach die Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Nation bestimmen soll, als Ausgeburt des Rassismus hin.
Die FAZ liefert sodann eine Bevölkerungsgeschichte, in welcher der Türke als normadischer Eindringling erscheint, der erst im Mittelalter aus den mongolischen Steppen dahergeritten kam, um sich unter alten Kulturvölkern breit zu machen. Wie es Tradition geworden ist, bleiben die antiken Quellen von Herodot (je nach Lesart: tyrkoi oder jyrkoi [vgl. Yürük]), Strabo (Lesart tyragetes oder tyssagetes), Plinius dem Älteren (turcae) und Pomponius Mela (turcae) dabei ausgeblendet.
Der FAZ-Artikel, der in der Überschrift versprach, von türkischer Identität zu handeln, gipfelt im Bestreben, Atatürk, Hitler und Erdogan in eine geistige Ahnenreihe zu setzen. Dazu beruft sich die Zeitung auf den deutschen Historiker Stefan Ihrig, fellow der Polonsky Academy, Van Leer Jerusalem Institute. In seiner Schrift “Atatürk in the Nazi Imagination” (2014) habe Ihrig gezeigt, “wie sich Hitler in den 1920er Jahren vom Befreiungskampf Atatürks hat inspirieren lassen. So habe Hitler etwa 1939 an seinem Geburtstag gesagt: ‘Die Türkei ist unser Modell’.” Der FAZ-Autor wechselt da die indirekte Rede, womöglich aus Vorsicht, denn in Ermangelung von Beweismaterial wurde dabei auf ein unverbürgtes Zitat aus fünfter Hand zurückgegriffen. Die Art und Weise der Argumentation ist ebenso schäbig wie das schmutzige Opus des deutschen “Satyrikers” Böhmermann: Der Erfolg des – vom jungen Sowjetstaat unterstützen – türkischen Befreiungskriegs machte diesen objektiv zum Vorbild für andere unterdrückte Völker und natürlich auch für das durch den Versailler Vertrag geknechtete deutsche Volk. Selbst wenn Hitler den türkischen Befreiungskrieg wie durchaus verständlich als Vorbild erklärt haben sollte, ist es intellektuell zutiefst unredlich, daraus Schlussfolgerungen zu Lasten der Türkischen Republik ziehen und diese in die Nähe des Faschismus rücken zu wollen. Und was kann das türkische Volk dafür, wenn Berlin 1936 im Zusammenhang mit der Anwendung der Nürnberger Gesetze sich diplomatische Vorteile davon versprach, die Türken als artverwandte Rasse zu erklären? Fakt ist, dass das Dritte Reich vergeblich auf militärische Unterstützung aus der Türkei hoffte – abgesehen von den kurdischen und armenischen SS-Legionen.
Schliesslich mündet der FAZ-Artikel in die Klage: “In vielem folgt Erdogan … Atatürk. … Unter Erdogan wird das Land nicht islamisch, sondern noch nationalistischer, als es bereits war.”

Es geht gegen Erdogans Patriotismus, gegen die Türkei selbst und gegen das hohe antiimperialistische Bewusstsein des türkischen Volkes

Diese Artikel von zwei internationalen Leitmedien bestätigen verklausuliert, was bisher nur wenige offen ausgesprochen haben, darunter die Kommunistische Partei der Italienischen Schweiz unter Leitung von Massimiliano Ay und die ihr nahestehenden Internet-Portale1: die fortdauernde und Schlag auf Schlag intensivierte Propagandakampagne gegen die türkische Staatsführung richtet sich hauptsächlich gegen deren zunehmend patriotische Orientierung und gegen die Öffnung der Türkei für die Entwicklung der Kooperation mit den Nachbarn in Eurasien, darunter Russland, China und Iran; und sie richtet sich potentiell gegen den territorialen Bestand und die Existenz der Türkei.
Die Verbesserung der russisch-türkischen Beziehungen wird von beiden Seiten ersehnt und im Eiltempo vorangetrieben. Sie dürfte kurzfristig die Aussichten für den Kampf um Frieden und Stabilität in Vorderasien verbessern und insofern die US-amerikanischen und zionistischen Pläne in der Region durchkreuzen. Mit dem Abgang von Premier Ahmet Davutoğlu hat Washington seinen wichtigsten Mann in Ankara verloren. Dieser hatte sich letztes Jahr gerühmt, er höchstpersönlich habe den Befehl zum Abschuss einer russischen Maschine an der türkisch-syrischen Grenze erteilt. Inzwischen wird der Abschuss vom November 2015 als Panne dargestellt und bedauert; aber viele vermuten dahinter eine gut vorbereitete Falle, welche der Türkei von Agenten der frustrierten “old friends” gestellt wurde.
Bessere Beziehungen mit Moskau sind auch Voraussetzung, damit sich Ankara aus der anderen Falle befreien kann, in die es sich durch Unterstützung und Einschleusung von Terroristen in Syrien manövriert hat. Der Präsident der Syrischen Arabischen Republik, Baschar al-Assad hatte die Türkei wiederholt vor einem Eingreifen in Syrien gewarnt. Er gebrauchte 2013 deutliche Worte in Richtung des damaligen türkischen Regierungschefs Davutoglu: “Terrorismus kann man nicht wie eine Spielkarte in der Tasche bereithalten, denn der Terrorismus ist ein Skorpion, der bei erster Gelegenheit zusticht.” Nach einer Serie von Terroranschlägen in der Türkei hat diese ihre bisherige Politik der Förderung oder Duldung von Terroristen teilweise korrigiert und im Sommer 2015 eine Offensive gegen IS und PKKeingeleitet. Diese Korrektur wurde von Damaskus mit gemischten Gefühlen der Erleichterung, aber auch Skepsis aufgenommen. Die patriotischen Kräfte der Türkei drängen auf echten Frieden und Freundschaft mit dem Nachbarland Syrien. An vorderster Front steht dabei die Patriotische Partei (Vatan Partisi), die über sehr gute Beziehungen mit der syrischen Linken verfügt und deren Parteiführer in Damaskus ein- und ausgehen.2 Erdogan wird voraussichtlich auch in diesem Fall über seinen Schatten springen und die völkerrechtswidrige Forderung auf Regimewechsel in Syrien aufgeben müssen. Er wird zur Einsicht gezwungen, dass der Angriff auf die Integrität Syriens, an dem sich die Türkei beteiligt (hat), sich wie ein Bumerang gegen die Türkei kehrt und zur Balkanisierung der Grossregion zu führen droht.
Umfragen in der Türkei belegen eine sehr hohe Zustimmung der Bevölkerung für die Neuorientierung der Aussenpolitik, welche sich in der Ernennung des neuen Premierministers Binali Yıldırım und besonders in den Bemühungen Ankaras zur Normalisierung und Intensivierung der Beziehungen mit Russland äussert. Laut einer Erhebung des Objective Research Center (ORC), das im Juni/Juli 37’180 Personen in 30 Provinzen zu aktuellen politischen Themen befragte, gaben 79,3% an, dass sie die Normalisierung der Beziehungen mit Russland begrüssen. Demgegenüber würden im Falle eines Referendums derzeit höchstens 40% einem EU-Beitritt zustimmen. 80% finden, es sei unwichtig, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht. In kaum einem anderen NATO-Land ist die kulturelle Hegemonie des Anti-Imperialismus derzeit so ausgeprägt wie in der türkischen Gesellschaft.
Die FAZ mag den edlen Charakter des türkischen Volkes in Zweifel ziehen. Einer, der die türkische Volksmasse studiert hatte, lernte “den türkischen Bauern … als unbedingt einen der tüchtigsten und sittlichsten Repräsentanten des Bauerntums in Europa” kennen. Es ist dies die Einschätzung von Karl Marx in seinem Brief an Wilhelm Liebknecht vom 4. Februar 1878. (MEW 34, 317) Auch heute sehen wir eine Reihe von Faktoren, welche uns dazu berechtigen, nicht geringe Hoffnungen in die türkischen Volkskräfte zu setzen: darunter das ausgeprägte patriotische und antiimperialistische Bewusstsein, die Widerstandskraft der türkischen Jugend gegen die kulturelle Amerikanisierung, die Solidarität der Türkei, deren humanitäre Hilfe in absoluten Zahlen die zweithöchste aller Länder der Erde ist und gemessen am BIP alle anderen übertrifft.3
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3 Global Humanitarian Assistance Report 2016; Development Initiatives

(mh/14.07.2016)

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