Wednesday, May 25, 2016

Roman des Nahost-Experten Michael Lüders «Never say anything – NSA»


Abgründe, die in der Realität verortet sind

mk/wvb. Spätestens seit Edward Snowden umfangreiche Dokumente der US-Geheimdienste ins Netz gestellt und sich selbst unter den Schutz der russischen Föderation begeben hat, kann jedes Schulkind nachvollziehen, dass es so etwas wie Vorratsdatenspeicherung gibt, dass jede Finanztransaktion aufgezeichnet wird, Flug- und andere persönliche Daten registriert und wenn nötig, auch ohne gesetzliche Grundlage, irgendwo von irgendwem verwendet werden können.

Flüchtlingsströme aus Nahost und Afrika, medienwirksam in Szene gesetzt, erinnern uns täglich daran, dass Krieg als Mittel der Politik schon fast selbstverständlich geworden ist. Wir können die Augen verschliessen, wegschauen oder aber, wenn das nicht mehr funktioniert, die Frage stellen, was man selber gegen das Elend tun möchte.
Michael Lüders zeigt uns in seinem Roman «Never say anything – NSA» meisterlich auf, dass auch wir in dieser Welt leben und dass es auch für jeden einzelnen von uns so etwas wie Verantwortung gegenüber der Geschichte und den nachfolgenden Generationen gibt.
Sophie, die Hauptdarstellerin seines Romans, wird als Journalistin unvermittelt Zeugin und um ein Haar Opfer eines Massakers, das in einem marokkanischen Dorf verübt wird. Mit dem Leben davongekommen recherchiert sie die Hintergründe dieses brutalen Angriffs und kommt brisanten weltpolitischen Machtverflechtungen auf die Spur. Als sie versucht, die Ergebnisse ihrer Recherchen in ihrer Zeitung zu veröffentlichen, beginnt ein Wechselbad: Höchste Aufmerksamkeit der Weltmedien wird ihr zuteil, doch als die Sache zu heiss wird, versucht ihre an Amerika ausgerichtete Chefredaktion die Sache unter den Teppich zu kehren und Sophie dazu zu bringen, das Thema fallen zu lassen.
Lüders deckt an diesem Beispiel realistisch auf, wie Medien manipuliert werden, wie versucht wird, Journalisten auf eine politisch gewollte Linie zu bringen, und wie diese, wenn sie an der Wahrheit festhalten, langsam aber sicher kaltgestellt und ins Abseits geschoben werden. Sophie lässt sich aber nicht beirren, sie sucht und findet Wege, zu recherchieren und ihre Ergebnisse zu veröffentlichen, auch wenn die Mainstreammedien sie boykottieren. Die Sache spitzt sich zu und wird immer gefährlicher für Sophie, sie wird verfolgt, es passieren merkwürdige «Unfälle», Sophie ist Ziel geheimdienstlicher Aktionen und Attacken.
Der Nahost-Experte Lüders bringt hier Kenntnisse in der Form des Romans ein, die er als Journalist in Tatsachenform vermutlich nicht schreiben könnte. Dabei arbeitet er gekonnt mit Mitteln der literarischen Gestaltung, so dass sich der Leser mit Sophie identifiziert. Er empfindet und leidet mit, vor allem auch deshalb, weil Sophie sich selber und ihrer journalistischen Aufgabe, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, treu bleibt. Das macht – bei allen Abgründen, die der Roman aufdeckt und die erkennbar in der Realität verortet sind – auch Hoffnung: So lange es noch Menschen gibt wie Sophie und auch solche, die ihr auch in scheinbar aussichtslosen Situationen immer weiterhelfen, ist die Welt noch nicht verloren. Selbst dann nicht, als alle Raffinessen moderner Überwachungs- und Verfolgungstechniken eingesetzt werden, um Sophie zu verfolgen, zu Fall zu bringen und aus dem Weg zu räumen. 
Der Leser hält den Atem an, wenn Lüders realistisch und deutlich erzählt, was heute bereits technisch möglich ist. Niemand wird nach der Lektüre dieses Romans noch sagen können, staatliche oder geheimdienstliche Überwachung fände er kein Problem, weil er nichts zu verbergen habe. Das, was Lüders aufdeckt, geht an die Substanz des Bürgers und des freien Menschen. Umso deutlicher, als sich der Hauptteil des Romans in Berlin abspielt, in einer uns vertrauten Umgebung, nicht etwa irgendwo «hinter der Türkei». Spätestens, wenn dem Leser bewusst wird, dass er mit den hauseigenen Handys und den Computern jederzeit überwachbar ist, merkt er, dass auch er sich dem Beschriebenen nicht entziehen kann, dass er bereits vollkommen in das Geschehen eingetaucht ist und eine bewusste Entscheidung treffen muss. Spätestens jetzt ahnt er auch, dass sich die Augen, trotz aller Propaganda auf allen Kanälen nicht mehr verschliessen lassen wollen. Das Buch fordert den Leser dazu heraus, selber nach Lösungen zu suchen, nach Lösungen, die aus der Logik des Krieges herausführen. Es deutet sogar einen Ausweg an: Wäre es nicht denkbar, dass wir mit denen, die wir bisher bekriegen, auf wirtschaftliche Art, mit Sanktionen und mit Waffen, dass wir mit denen, statt Krieg zu führen, zusammenarbeiten? Wäre es nicht denkbar, den Osten in diesem Sinne in den Blick zu nehmen? So weiterzumachen wie bisher, daran lässt das Buch keinen Zweifel, das ist jedenfalls eine absolute Sackgasse.Kurz, das Buch ist sehr lesenswert, es zwingt den Leser geradezu, Position zu beziehen. Besonders darum ist Lüders Buch ein Beitrag gegen das Wegsehen. Und nicht zuletzt ist es atemberaubend spannend.    •

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