ИДИОТ
„Ihr könnt nicht zweier Herren
dienen.... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ 1
„Alles ist jetzt verkehrt. Alles
stellen sich auf den Kopf und strampeln mit den Beinen in der Luft.“2
„Der Idiot“ (1869) ist natürlich keiner. Der Titelheld ist ein
junger Aristokrat, der an Epilsepsie erkrankt, nach 5 Jahren
Schweizer Behandlung fast geheilt nach Russland zurückkehrt, wo ihn
die Erfahrung mit einer todkranken Gesellschaft wieder erkranken
lässt. Die Charakterfigur hat nur entfernt etwas vom „tumben
Toren“, vom Naivling 'Parzival'. Er ist ein völlig zu unrrecht
für närrisch gehaltener Mensch, der der Gesellschaft seiner Zeit
ihren Spiegel vorhält. Der gläubig orthodoxe Christ Dostojewski,
der selbst ein hoch dramatisches Leben geführt hat, Epileptiker,
Offizier, Journalist, nach Sibirien verbannt, einem Todesurteil knapp
in letzter Sekunde entkommen, später in Wiesbaden dem Spiel und
schließlich dem Alkohol verfallen, wie eine Romanfigur, das Vermögen
seiner Frau verzockt hat, erschafft mit dem fürstlichen „Idioten“
Myschkin einen 'modernen' Christus. Lew Nikolajewitsch Myschkin
verarmter, doch durch Erbschaft wieder zu Vermögen gekommene
Adelssproß, der letzte seines Geschlechts, ist eine überirdisch
gute Seele, ein äußerst warmherziger Mensch, dabei keineswegs naiv,
sondern sich stets dessen bewusst, was er da tut. Hochgebildet,
überrascht er immer wieder und konfrontiert die anderen Mitglieder
der gehobenen Gesellschaft dermaßen durch sein bloßes Auftreten mit
ihren Schwächen, dass sie es nicht ertragen, sondern ihn am Ende
alle hassen, trotz seiner Liebe für fast alle, die seine Wege
kreuzen, mit all ihren Schwächen.
Ein ganzer Abschnitt ist den jung-dynamischen Rebellen, den
Nihilisten, den angeblich für Gerechtigkeit eintretenden Halbstarken
gewidmet. Da wird mittels einer ihrer Pamphlete die ganze
wahrheitsverdrehende, pseudoaufklärerische, pseudofortschrittliche
Demagogie vorweggenommen, die unsere Zeit so sehr kennzeichnet:
Menschenrechtsnihilismus. Unter dem Vorwand der Verteidigung von
Menschenrecht und Demokratie, unter dem Vorwand dem Volke dienen zu
wollen, ist den Anarchisten kein Verbrechen zu barbarisch, um es
nicht zu begehen und es dann mit einem Mäntelchen der Redlichkeit
und der Menschenliebe zu umhüllen. Eine Vorwegnahme des viel
Schlimmeren, das noch kommen sollte und hochmodern.
Obwohl Dostojewski etwa die damals schon moderne „Frauenfrage“
im pseudo-progressiven Sinne ablehnt, nichts von Frauenemanzipation
hält, so schafft er doch Frauenfiguren wie die Kurtisane Nastassja
Fillipowna Baraschkoff, die in ihrer Komplexität ganz großartige
Menschen sind. Ob als Opfer und/oder als Mittäterinnen – sie
bleiben nicht ewig unschuldig. Sie demonstrieren aber wie etwa die
Generalsgattin Lisaweta Prokofjewna Jepantschin, dass sie die
Verhältnisse, so wie sind nicht akzeptieren können, weil sie daran
zugrunde gehen. Wenngleich sie sich meist in hilfloser, ja
hysterischer, kranker Weise dagegen aufbäumen.
Dostojewski ist einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur.
Sein Vermächtnis ist uneingelöst. Ich verstehe erst heute die
unheimliche Faszination, die besonders dieser russische Autor schon
auf mich als Schulmädchen ausgeübt hat, obwohl ich seine
philosophische und psychologische Tiefe nicht annähernd zu erfassen
wusste. Für das Studium der menschlichen Seele ist Dostojewski eine
wahre Fundgrube.
____________
1
Matthäus 6/24
2
Jepantschin S. 439, der Idiot
No comments:
Post a Comment