Tuesday, February 2, 2016

Dostojewski und die moderne Demagogie

Der Idiot“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewski / Федор Достоевский
ИДИОТ

Ihr könnt nicht zweier Herren dienen.... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ 1
Alles ist jetzt verkehrt. Alles stellen sich auf den Kopf und strampeln mit den Beinen in der Luft.“2

„Der Idiot“ (1869) ist natürlich keiner. Der Titelheld ist ein junger Aristokrat, der an Epilsepsie erkrankt, nach 5 Jahren Schweizer Behandlung fast geheilt nach Russland zurückkehrt, wo ihn die Erfahrung mit einer todkranken Gesellschaft wieder erkranken lässt. Die Charakterfigur hat nur entfernt etwas vom „tumben Toren“, vom Naivling 'Parzival'. Er ist ein völlig zu unrrecht für närrisch gehaltener Mensch, der der Gesellschaft seiner Zeit ihren Spiegel vorhält. Der gläubig orthodoxe Christ Dostojewski, der selbst ein hoch dramatisches Leben geführt hat, Epileptiker, Offizier, Journalist, nach Sibirien verbannt, einem Todesurteil knapp in letzter Sekunde entkommen, später in Wiesbaden dem Spiel und schließlich dem Alkohol verfallen, wie eine Romanfigur, das Vermögen seiner Frau verzockt hat, erschafft mit dem fürstlichen „Idioten“ Myschkin einen 'modernen' Christus. Lew Nikolajewitsch Myschkin verarmter, doch durch Erbschaft wieder zu Vermögen gekommene Adelssproß, der letzte seines Geschlechts, ist eine überirdisch gute Seele, ein äußerst warmherziger Mensch, dabei keineswegs naiv, sondern sich stets dessen bewusst, was er da tut. Hochgebildet, überrascht er immer wieder und konfrontiert die anderen Mitglieder der gehobenen Gesellschaft dermaßen durch sein bloßes Auftreten mit ihren Schwächen, dass sie es nicht ertragen, sondern ihn am Ende alle hassen, trotz seiner Liebe für fast alle, die seine Wege kreuzen, mit all ihren Schwächen.

Ein ganzer Abschnitt ist den jung-dynamischen Rebellen, den Nihilisten, den angeblich für Gerechtigkeit eintretenden Halbstarken gewidmet. Da wird mittels einer ihrer Pamphlete die ganze wahrheitsverdrehende, pseudoaufklärerische, pseudofortschrittliche Demagogie vorweggenommen, die unsere Zeit so sehr kennzeichnet: Menschenrechtsnihilismus. Unter dem Vorwand der Verteidigung von Menschenrecht und Demokratie, unter dem Vorwand dem Volke dienen zu wollen, ist den Anarchisten kein Verbrechen zu barbarisch, um es nicht zu begehen und es dann mit einem Mäntelchen der Redlichkeit und der Menschenliebe zu umhüllen. Eine Vorwegnahme des viel Schlimmeren, das noch kommen sollte und hochmodern.

Obwohl Dostojewski etwa die damals schon moderne „Frauenfrage“ im pseudo-progressiven Sinne ablehnt, nichts von Frauenemanzipation hält, so schafft er doch Frauenfiguren wie die Kurtisane Nastassja Fillipowna Baraschkoff, die in ihrer Komplexität ganz großartige Menschen sind. Ob als Opfer und/oder als Mittäterinnen – sie bleiben nicht ewig unschuldig. Sie demonstrieren aber wie etwa die Generalsgattin Lisaweta Prokofjewna Jepantschin, dass sie die Verhältnisse, so wie sind nicht akzeptieren können, weil sie daran zugrunde gehen. Wenngleich sie sich meist in hilfloser, ja hysterischer, kranker Weise dagegen aufbäumen.

Dostojewski ist einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur. Sein Vermächtnis ist uneingelöst. Ich verstehe erst heute die unheimliche Faszination, die besonders dieser russische Autor schon auf mich als Schulmädchen ausgeübt hat, obwohl ich seine philosophische und psychologische Tiefe nicht annähernd zu erfassen wusste. Für das Studium der menschlichen Seele ist Dostojewski eine wahre Fundgrube.
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1 Matthäus 6/24

2 Jepantschin S. 439, der Idiot

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