Wednesday, January 27, 2016

 Fassbomben-Vorwurf als Mittel der Kriegsführung 

von Joachim Guilliard

Junge Welt Aus: Ausgabe vom 26.01.2016, Seite 12 / Thema 

Quelle: http://www.jungewelt.de/2016/01-26/001.php
Eine Fassbombe? Ein Hubschrauber der syrischen Armee wirft am 1. Februar 2014 einen Gegenstand über Aleppo ab, von dem Regierungsgegner ­später sagen, es sei einer der berüchtigten Sprengsätze
US-Präsident Barack Obama behauptete in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 28.9.2015, sein syrischer Amtskollege würde »Fassbomben abwerfen, um unschuldige Kinder zu massakrieren«, ohne die unterstellte Absicht irgendwie zu belegen. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnte Anfang Dezember die von der französischen Regierung ins Auge gefasste Zusammenarbeit mit der syrischen Armee im Kampf gegen die dschihadistische Miliz »Islamischer Staat« (IS) mit der Begründung ab, Assad »werfe nach wie vor Fassbomben auf sein eigenes Volk«. 
Gary Leupp, Professor für Geschichte an der Tufts University, setzte daher an die erste Stelle der »Stichpunkte des Außenministeriums für Nachrichtensprecher« die Anweisung, immer wieder »Fassbomben, Fassbomben« zu wiederholen und dabei zu betonen, dass sie »vom Regime gegen das eigene Volk« eingesetzt würden. 

Primitive Waffe 

Als »Fassbomben« werden improvisierte Explosionswaffen aus Metallfässern oder anderen größeren Gefäßen wie Heizkessel bezeichnet, die mit Sprengstoff und Metallteilen gefüllt werden. Sie sind billiger zu produzieren als herkömmliche Waffen und können auch aus nicht-militärischen Hubschraubern und Flugzeugen abgeworfen werden. Erstmals 1948 vom israelischen Militär eingesetzt und später in den 1970er Jahren von der US-Luftwaffe im Vietnamkrieg, machen vor allem rüstungstechnisch weniger entwickelte Länder in militärischen Konflikten Gebrauch von ihnen. 
Ob tatsächlich »Fassbomben« in dem behaupteten Umfang zum Einsatz kommen, ist äußerst zweifelhaft. Die syrische Regierung bestreitet das. Die Armee würde richtige Bomben einsetzen, keine »Fässer«, so Präsident Bashar Al-Assad am 10. Februar 2015 in einem Interview mit der BBC. Auch ausgewiesene Kritiker der syrischen Luftangriffe räumen ein, dass die Aktivisten und Anwohner betroffener Gebiete nahezu jede aus der Luft abgeworfene Bombe als »Fassbombe« bezeichnen. Häufig hätten die Medien über den Abwurf solcher Sprengkörper berichtet, wo es sich in Wirklichkeit um konventionelle Bomben aus russischer Fertigung handelte, stellt auch Waffenexperte Richard M. Lloyd in einem Beitrag auf dem der syrischen Opposition nahestehenden »Brown Moses Blog« fest, der zu den Hauptquellen der Medien für deren Berichte über den angeblichen Einsatz der primitiven Waffe zählt. »Diese falschen Behauptungen haben Fassbomben einen falschen Ruhm beschert, indem ihr Zerstörungspotential größer dargestellt wurde, als es tatsächlich ist.« 
Angesichts des langen Krieges ist es natürlich durchaus denkbar, dass Syrien, nachdem die Vorräte an importierten Waffen zur Neige gingen, begann, Bomben einfacher Bauart selbst herzustellen, wenn auch nicht unbedingt improvisiert aus Ölfässern. Im Grunde ist dies aber unerheblich, da Sprengkraft und Splitterwirkung solcher einfachen Bomben so oder so wesentlich geringer sind als die von Sprengkörpern konventioneller Bauart aus westlichen oder russischen Rüstungsschmieden, ganz zu schweigen von den Hightech-Bomben, die NATO-Staaten aus ihren Kampfflugzeugen und Drohnen werfen. Bei diesen wurden Sprengstoffart, Form, und Splittermantel aufwendig optimiert, damit ihre feinen rasierklingenscharfen Schrapnells noch auf Dutzende Meter Entfernung tödlich sind. Werden tatsächlich einfache Fässer oder ähnliches als Behälter verwendet, verpufft hingegen ein guter Teil des Sprengstoffs schon durch die geringe Dämmung. Technisch weniger ausgeklügelte Bomben kommen zudem aufgrund der simpleren Zündvorrichtungen häufig gar nicht zur Explosion. 
Die Primitivität der »Fassbomben« ist bei den Berichten ohnehin nur Beiwerk. Der Hauptvorwurf gegen ihre Verwendung leitet sich daraus ab, dass sie nicht lenkbar und daher sehr ungenaue Waffen sind. Ihr Einsatz sei »mit hoher Wahrscheinlichkeit wahllos im Sinne des Kriegsrechts« – d.h. nicht überwiegend auf ein militärisches Ziel wirkend – »und damit unzulässig«, so die zentrale Kritik der New Yorker Organisation Human Rights Watch (HRW). Da sie nicht präzise genug treffen, seien sie als Mittel gegen militärische Ziele prinzipiell ungeeignet. »Es handelt sich also um eine klassische Waffe gegen Zivilbevölkerungen«, schreibt die taz in einem Beitrag vom 19.12.2013. Von einem »Kriegsverbrechen« spricht HRW. 
Die im Vergleich zu modernen, sogenannten präzisionsgelenkten Waffen geringe Treffergenauigkeit gilt allerdings auch für klassische, nicht lenkbare »Freifall«-Bomben. Sie hängt stark von Höhe und Geschwindigkeit ab. Sprengsätze, aus relativ geringer Distanz aus einem langsam fliegenden Hubschrauber abgeworfen, können durchaus mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Ziel treffen. Zweifellos sind solche Bomben fürchterliche Waffen. Wie der US-amerikanische Investigativjournalist Robert Parry anmerkt, sind sie letztlich aber weniger gefährlich für Menschen als modernere Versionen. Anwohner betroffener Gebiete haben viel größere Chancen, Schutz zu suchen, sobald sie angreifende Hubschrauber oder Flugzeuge hören, als bei den aus großer Entfernung abgefeuerten lenkbaren Bomben und Raketen der NATO, die praktisch ohne Vorwarnung einschlagen.1 
Anfänglich hätten die syrischen Streitkräfte die Bomben aus niedriger Höhe abgeworfen und recht genau getroffen, so der erwähnte Waffenexperte Lloyd. Dann wurden die islamistischen Milizen jedoch mit modernen Luftabwehrraketen aus US-Produktion (sogenannten Man Portable Air Defense Systems, Ein-Mann-Boden-Luft-Raketen) ausgerüstet, die die syrische Luftwaffe seither zwingen, in Höhen von über 2.000 Metern zu fliegen. Der Vorwurf, dass die Einschläge recht weit streuen und die Gefahr von Opfern unter unbeteiligten Zivilisten dadurch groß wird, ist daher sicherlich gerechtfertigt. In welchem Maße dadurch Nichtkombattanten betroffen sind, hängt vom Einsatzgebiet ab und davon, wie viele Zivilisten sich dort noch aufhalten. 

»Systematisch gegen Zivilisten« 

Liest man die Berichte westlicher Medien und Menschenrechtsgruppen, so scheint es, als richteten sich die Angriffe fast nur gegen Wohngebiete und zivile Einrichtungen. Die »verwerflichen kontinuierlichen Luftschläge auf Wohngebiete« würden, so Amnesty International (AI) in der Pressemitteilung zu ihrem diesbezüglichen Report vom Mai 2015, auf »eine Politik hindeuten, vorsätzlich und systematisch Zivilisten zu attackieren, mit Angriffen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.« 
Auch HRW behauptet in seinem Bericht vom Februar 2015, die »gesamte Verteilung der Orte mit größeren Zerstörungen« ließe darauf schließen, dass die Regierungskräfte die »Gesamtheit der Bevölkerung« der betroffenen Städte »mit Explosivwaffen angreifen« würden. Das Gros der Berichte der beiden Organisationen konzentriert sich dabei auf das seit Juli 2012 umkämpfte Aleppo. Indem die syrische Regierung dort »schonungslos und vorsätzlich Zivilisten« angreife, scheine sie, so AI weiter, »eine brutale Politik kollektiver Bestrafung gegen die Zivilbevölkerung« der Stadt zu betreiben. 
Angesichts der schwierigen Lage der syrischen Armee, die an Hunderten Fronten kämpft, klingt die Behauptung, sie fände Zeit zu umfangreichen Bestrafungsaktionen, reichlich absurd. Es liegt wesentlich näher, dass sich dort, wo die Luftwaffe eingesetzt wird, auch militärisch bedeutende Stellungen der gegnerischen Milizen befinden. Diese halten sich häufig in den Städten auf. 
Tatsächlich kann man dies auch auf den von HRW und AI erstellten Karten, mit den angeblich in Aleppo von »Fassbomben« getroffenen Orten (»major damage sites«) erkennen.2 Demnach liegen die meisten Ziele, auf die die syrische Luftwaffe ihren Berichten zufolge Angriffe flog, in Gebieten, die summarisch als »von der Opposition kontrolliert« bezeichnet werden. (Nur das vom IS beherrschte Territorium wird separat ausgewiesen.) Diese »Opposition« besteht jedoch zum größten Teil aus radikalen islamistischen und dschihadistischen Milizen. Die stärksten der mindestens 18 in Aleppo aktiven militärischen Verbände sind der Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front, die, von der ideologisch verwandten Ahrar Al-Sham dominierte Levante-Front und die Ansar-Al-Din-Front. Mittlerweile sind nahezu alle im Bündnis Fatah Halab (»Eroberung von Allepo«) vereint, einschließlich der von den USA ausgerüsteten, angeblich »moderaten« Kampfgruppen.
In Aleppo hatte es 2011 keine nennenswerten Proteste gegen die Regierung gegeben, und die zweitgrößte Stadt Syriens blieb über ein Jahr lang auch von Unruhen verschont. Gut versorgt über die nahe türkische Grenze rückten aber im Juli 2012 regierungsfeindliche Milizen bis Aleppo vor und konnten nach schweren Kämpfen die östliche Hälfte der Innenstadt unter ihre Kontrolle bringen. In zwei nördlichen Distrikten konnten sich kurdische Kräfte gegen die Islamisten behaupten. 
Die meisten Bürger Aleppos, die unter die brutale Herrschaft der Milizen fielen, hegten keinerlei Sympathien für die neuen Herren. Viele flohen in die von der Regierung gehaltenen Teile der Stadt oder in sichere Gebiete an der Küste. Ein Anlass zu Strafaktionen gegen die »gesamte Bevölkerung« ist daher nicht zu erkennen. Auch die Behauptung, in Aleppo seien die meisten Ziele zu weit von der Front entfernt, als dass sie militärisch relevant gewesen sein könnten, überzeugt nicht: Keine Stelle, des von den Milizen kontrollierten Streifens liegt, wie die Karten von HRW und AI zeigen, mehr als 2,5 Kilometer von den Frontlinien entfernt. Zudem verließen bei aufflammenden Kämpfen offenbar auch die meisten noch verbliebenen Bewohner die umkämpften Zonen. So flohen Anfang 2014 bis zu 500.000 Menschen aus den von den Milizen gehaltenen Stadtteilen, als die syrische Armee eine neue Offensive startete. Ganze Viertel leerten sich daraufhin.3 Von gezielten Attacken, die ausschließlich die Zivilbevölkerung treffen sollten, wie es HRW für die für diesen Zeitraum in die Karte eingetragene Angriffe behauptet, kann somit kaum die Rede sein.4 
Das gleiche gilt auch für andere Städte. Im Januar 2015 zeigte z. B. Reuters ein Video von der umfassenden Evakuierung Doumas durch die syrische Armee. Einige Monate später verbreitete dieselbe Agentur, gestützt auf Angaben oppositioneller Aktivisten, die Nachricht, in der Stadt sei ein »Massaker an Zivilisten« begangen worden. »Wiederholungen solcher gefakten Vorwürfe durch Islamisten, die mit ihnen verbündeten ›Aktivisten‹ und ihre westlichen Unterstützer«, so Tim Anderson, Professor an der Universität Sydney, »führten zu Schlagzeilen wie ›Die Fassbomben des syrischen Regimes töten mehr Zivilisten als ISIL und Al-Qaida zusammen‹« und stützten so die Forderung nach einem militärischen Eingreifen. 
Am 26. Februar 2015 zeigte HRW via Twitter das Foto eines weitgehend zerstörten Stadtviertels mit der Beschreibung »Syrien wirft Fassbomben trotz Bann«. Das Foto war allerdings bereits am 13. Februar von der New York Times veröffentlicht worden. Zu sehen war die kurdische Stadt Kobani, die, so die Unterschrift, durch »islamistische Kräfte und die Luftangriffe der US-geführten Koalition zerstört« worden war. Am 8. Mai verbreitete HRW-Chef Kenneth Roth ein weiteres Luftbild eines zerstörten Viertels, das zeigen würde, »was Assads Fassbomben Aleppo angetan haben«. Tatsächlich war es jedoch ein Bild von Gaza aus dem Jahr zuvor.5 

Kriegspartei als Quelle 

Auch da, wo es keine ersichtlichen Fälschungen sind, sind die Belege für die angeblich große Zahl von »Fassbomben« (oder auch andere »Freifall«-Bomben) auf zivile Ziele dürftig und wenig belastbar. Auf Wikipedia führen Anhänger der syrischen Opposition eine Liste aller vorgeblichen »Fassbomben«-Angriffe von 2012 bis heute.6 Geht man die angegebenen Quellen durch, so findet man nur wenige Videos, auf denen die Abwürfe selbst gezeigt werden. Dabei lässt sich weder die Art der Bombe noch die des Zieles erkennen. Die übrigen Videos und Bilder zeigen nur zerstörte Gebäude. Sowohl die Ersteller der Videos und Bilder wie auch die Autoren der Berichte und zitierte Zeugen sind oppositionelle Aktivisten – meist als »Dissidenten«, »Anti-Regime-Aktivisten«, »Aktivisten-Gruppe« oder »Kämpfer« bezeichnet – und Mitarbeiter regierungsfeindlicher Gruppen und Netzwerke. Das sind in erster Linie die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« (Syrian Observatory for Human Rights SOHR) aus dem britischen Coventry, die Lokalen Koordinationskomitees und die Shahba Press Agency. Die Medien, die darüber berichteten, haben deren Angaben, wie es scheint, ohne nachzuprüfen übernommen, obwohl sie offensichtlich von einer beteiligten Kriegspartei stammen. Das gilt im Grunde auch für die zahlreichen Berichte von Amnesty International und HRW, denen aufgrund der guten Reputation beider Menschenrechtsorganisationen besonderes Gewicht bei diesem Thema zukommt. Auch deren Berichte beruhen im wesentlichen auf den Angaben derselben Quellen – das sind neben den oben genannten vor allem das Violations Documentation Center (VDC) in Istanbul und das Syrian Network for Human Rights (SNHR) in Großbritannien. Alle diese Organisationen sind eng mit oppositionellen Gruppierungen in und außerhalb Syriens verbunden, haben ihren Sitz in den Ländern, die sich für den »Regime Change« in Syrien engagieren, und werden teilweise von ihnen finanziert. 
Die bedeutendste Quelle, die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« wird nach außen im wesentlichen vom syrisch-stämmigen Kleiderhändler Rami Abdelrahman aus seiner Wohnung im englischen Coventry betrieben. Seinen Angaben zufolge sammelt sie die, von einem Netz aus rund 200 oppositionellen Aktivisten übermittelten Informationen, bereitet sie auf und verbreitet sie weiter. Persönlich kennt er, wie er zugeben musste, seine Informanten nicht.7 Finanziert wird die obskure Initiative u. a. vom britischen Staat, der EU und einigen britischen Medien.8 Wem ihre Sympathien gehören, zeigt sie bereits mit der Fahne der »Freien Syrischen Armee«, die in ihrem Logo weht. Obwohl hie und da Zweifel an der »Beobachtungsstelle« geäußert wurden – die Süddeutsche Zeitung schrieb einmal vom »Ominösen Protokollanten des Todes« (26.11.2012) – ist sie die in westlichen Medien am häufigsten zitierte Quelle für das Geschehen in Syrien. 
Wo das VDC politisch zu verorten ist, lässt sich mit einem Blick auf seine Homepage (www.vdc-sy.info) erkennen, auf der die Kriegsopfer in zwei Kategorien eingeteilt werden: in »Märtyer« und »Regime fatalities« (Regime-Tote). Unter »Märtyer« werden dabei alle gelistet, die von Regierungskräften getötet wurden – Zivilisten wie islamistische Kämpfer, inklusive die des IS und ausländische Dschihadisten, die etwa in den Kämpfen um Kobani von kurdischen Selbstverteidigungskräften oder US-Luftangriffen getötet wurden. 
Der jüngste Bericht von Amnesty »›Death everywhere‹. War crimes and human rights abuses in Aleppo« basiert auf Interviews mit Bürgern der Stadt aus »von der Opposition kontrollierten Gebieten« und Personen, die dort, z. B. als Mitarbeiter von NGOs, aktiv waren. AI arbeitete dabei eng mit den oben genannten Organisationen zusammen, die sowohl die Zeugen und »lokale Experten« vermittelten, als auch das Bild- und Videomaterial zur Überprüfung der Zeugenaussagen beisteuerten. Insgesamt also ein ziemlich geschlossener Kreis selbstreferentieller Zeugen und Quellen. Auf die Idee, Bewohner Aleppos einzubeziehen, die keine Verbindung zur Opposition haben und aus den umkämpften Gebieten in die von der Regierung gehaltenen Stadtteile, nach Damaskus oder Latakia geflohen sind, kam AI nicht. 
Regierungstruppen, die nur auf zivile Ziele feuern, das war von Anfang das durchgängige Bild, das westliche Medien von den Kämpfen in Syrien verbreiteten. In den ersten zwölf Monaten kamen die Angriffe bewaffneter Regierungsgegner schlicht nicht vor. Auch Amnesty International und Human Rights Watch ignorierten deren Gewalt ein volles Jahr lang und klagten statt dessen die syrischen Streitkräfte an, sie würden »willkürlich Kanonensalven und Granaten auf Wohngebiete von Städten abfeuern«. 
Folgerichtig wird generell auch der Eindruck erweckt, alle Kriegstoten seien Opfer der Angriffe von Regierungskräften. Doch selbst laut der SOHR, von der die Medien meist die Opferzahlen übernehmen, waren bis Ende 2015 neben 76.000 Zivilisten auch 93.000 Angehörige der regierungstreuen Kräfte (d. h. der Armee, der Polizei, der »Nationalen Verteidigungskräfte« und regierungsloyale Milizen) getötet worden sowie 84.000 Kämpfer regierungsfeindlicher Milizen (inkl. Kämpfer der kurdischen YPG).9 

Doppelmoral 

Selbstverständlich bedeutet die Parteilichkeit der Recherchen nicht, dass alle Berichte über Luftangriffe, die zivile Ziele trafen und zivile Opfer forderten, erfunden sind. Wahrscheinlich setzten und setzen syrische Streitkräfte in der Tat die Luftwaffe auch in Fällen ein, wo das Risiko für Unbeteiligte unangemessen hoch ist. 
Das gilt aber ebenfalls – und in weit größerem Ausmaß – für Angriffe der USA und anderer ­NATO-Staaten in ähnlichen Kriegssituationen: sowohl in Afghanistan als auch im besetzten Irak, wo die Luftwaffe Angriffe gegen gegnerische Stellungen in den Städten flog, sowie im NATO-Krieg gegen Libyen 2011. Die modernen Waffen der NATO-Staaten sind zwar treffsicherer, aber aufgrund ihrer größeren Wirkung ebenfalls nicht auf militärische Ziele einzugrenzen, insbesondere nicht bei der sogenannten Luftunterstützung von Truppen im Straßenkampf. Vor allem die häufig verwendeten Streu- oder Clusterbomben töteten mehr Menschen als jede »Fassbombe«. Clusterbomben sind speziell für den Einsatz gegen sogenannte weiche Ziele, also gegen Menschen, konzipiert. Die nicht explodierende Submunition, sogenannte Bomblets, verminen das betroffene Gelände für Jahre. Die Nutzung von Präzisionswaffen bedeutet zudem keineswegs, dass jede Bombe und jede Rakete das anvisierte Ziel trifft, und noch weniger, dass die tödliche Wirkung sich auf dieses beschränkt. 
Weder AI noch HRW haben diese systematisch untersucht und in vergleichbarer Weise skandalisiert wie das Vorgehen der syrischen und mittlerweile auch der russischen Luftwaffe in Syrien. Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen den außenpolitischen Zielen der USA und deren europäischen Verbündeten und den Kampagnen von AI und HRW. Letztere wurde schon häufig wegen ihrer großen Nähe zum Weißen Haus und dem State Department kritisiert, besonders deutlich im Juli 2014 in einem offenen Brief von Nobelpreisträgern und ehemaligen UN-Funktionären. Dieser richtete sich vor allem dagegen, dass häufig einflussreiche Stellen bei HRW mit Personen besetzt werden, die kurz zuvor noch hochrangige Ämter in der Regierung, im Militär oder der CIA bekleideten und führende HRW-Funktionäre wiederum direkt auf Regierungsposten wechseln können – die Kritiker sprechen von einem regelrechten Drehtürmechanismus. So wurde z. B. der ehemalige CIA-Analyst Miguel Díaz in das Beraterkomitee von HRW berufen, der dann acht Jahren später seine Erfahrungen in seinem neuen Job im State Department einbringen konnte – als Verbindungsmann zwischen Geheimdiensten und Nichtregierungsexperten. Mit Tom Malinowski wurde ein Mann Direktor der Organisation für Washington, der zur Zeit der Bombardierungen Jugoslawiens 1999 als leitender Direktor des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus für das Verfassen außenpolitischer Reden zuständig gewesen war. In seiner neuen Funktion warb er für den Libyen-Krieg und pries ihn am Ende als die »schnellste militärische Reaktion auf eine drohende Menschenrechtskrise«. Unter Obama wurde er anschließend Staatssekretär für Demokratie, Menschenrechte und Arbeit im US-Außenministerium. Zu den wichtigsten Geldgebern von HRW zählen Stiftungen von US-Konzernen. Der wohl wichtigste Sponsor ist der Milliardär George Soros. Allein im Jahr 2010 ließ seine »Open Society Foundation« der Organisation mehr als 100 Millionen Dollar zukommen. 
Auch bei AI kann man immer wieder eine gewisse Nähe zu außenpolitischen Positionen der westlichen Staaten beobachten. Ihr Fokus liegt ebenfalls häufig auf den Ländern, die von den USA und den EU-Staaten ins Visier genommen werden und die einflussreiche US-Sektion ist ebenfalls nicht frei vom Drehtürmechanismus. So wurde 2012 mit Suzanne Nossel ausgerechnet eine Frau Geschäftsführerin von AI (USA), die zuvor als stellvertretende Referatsleiterin im Außenministerium eine führende Rolle bei der Einführung »bahnbrechender Menschenrechtsresolutionen« gegen den Iran, Syrien und Libyen spielte und den Begriff »Smart Power« für das Zusammenwirken von militärischer und »weicher« Macht in der US-Außenpolitik prägte, die Hillary Clinton als bestimmendes Merkmal ihrer Außenpolitik bezeichnet. 
Anmerkungen 
1 Robert Parry: »Obama’s Ludicrous ›Barrel Bomb‹ Theme«, 30.9.2015 
2 »›Death everywhere‹: War crimes and human rights abuses in Aleppo«, AI, Mai 2015; »Syria: Barrage of Barrel Bombs – Attacks on Civilians Defy UN Resolution«, HRW, 30.7.2014 
3 »Attacks propel a new exodus from Syria; Fleeing ›barrel bombs‹, refugees overwhelm city across Turkish border«, New York Times, 18.2.2014 
4 Siehe Karte zum HRW-Report vom 30.7.2014: Syrian Government Bombardment of Opposition-held Districts in Aleppo 
5 CEO of Human Rights Watch misattributes video of Gaza destruction, Interventions Watch, 9.5.2015 
6 Wikipedia, List of Syrian Civil War barrel bomb attacks 
7 »Man who runs SOHR admits to RT he last visited Syria 15 years ago«, RT, 6.10.2015 
8 »A Very Busy Man Behind the Syrian Civil War’s Casualty Count«, New York Times, 9.4.2013 
9 Zahlen addiert aus Jahresangaben für 2011–2014 und den Monatsangaben für 2015 (siehe »Anti-Assad monitoring group says Syrian death toll passes 130.000«, Reuters, 31.12.2013; »76.021 people killed in Syria in 2014«, SOHR, 1.1.2015 sowie Casualties of the Syrian Civil War, Wikipedia). In seiner Zusammenfassung für 2011–2015 vom 16.10.2015 kommt SOHR auf eine höhere Zahl von Ziviltoten (115.000) und eine niedrigere Zahl von getöteten Angehörigen regierungsloyaler Einheiten (»About 2 millions and half killed and wounded since the beginning of the Syrian Revolution«, Syrian Observatory for Human Rights, 16.10.2015

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