Sunday, January 3, 2016

Auch die Lügen über Syriens Präsident Assad haben kurze Beine

Ossietzky Heft 1 und 2 - 2016
Sarin in Syrien
von Norman Paech

"Lügen auf höchster Ebene bleibt der modus operandi der US-Politik, einschließlich geheimer Gefängnisse, Drohnenattacken, Nachteinsätzen von US-Spezialkräften, Umgehens des Dienstweges und Ausschlusses jener, die allenfalls Nein sagen.“ Seymour Hersh

Kriegslügen, ob der Überfall auf den Sender Gleiwitz 1939, der Zwischenfall in der Tonkin-Bucht 1964 oder die chemischen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein 2003, sie haben im allgemeinen kurze Beine. Die Gleiwitz-Lüge wurde nach sechs Jahren in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen aufgedeckt und auch der Zwischenfall in der Tonkin-Bucht hatte nur eine Lebensdauer von sechs Jahren, bis Daniel Elsberg in den “Pentagon-Papieren” die Wahrheit publizierte. Die Lüge von den Massenvernichtungswaffen des Saddam wurde bereits im selben Jahr entblättert. Doch gleichgültig, wie lange sie geglaubt wurden, sie erfüllten alle zunächst ihren Zweck, die rechtswirdrigen Angriffe auf den Feind als Verteidigung zu legitimieren. Die jüngste Lüge über den Einsatz von Sarin durch Assad in Syrien hätte fast die gleiche Bedeutung für die Rechtfertigung eines Angriffs der US-army auf ausgewählte Ziele in Syrien erfüllt. Der Angriff konnte verhindert werden, und die Geschichte der Lüge wird immer offensichtlicher.
Bis heute gilt es in westlichen Kreisen der Politik und Medien als erwiesen, dass der Einsatz des Gases am 21. August 2013 in Ghouta von der syrischen Armee auf Befehl von Assad erfolgte. Daran hatte Präsident Obama am 10. September 2013 in einer Rede im Fernsehen keinen Zweifel gelassen und für die Medien den Auftakt gegeben: “Assads Regierung hat über 1000 Menschen mit Gas getötet… Wir wissen, dass das Assad Regime verantwortlich war…Und das ist es, warum ich nach sorgfältigen Beratungen bestimmt habe, dass es im Interesse der Vereinigten Staaten ist, auf den Einsatz chemischer Waffen durch das Assad Regime mit einem gezielten militärischen Schlag zu antworten.” Er bestärkte damit wieder seine frühere Warnung, dass jeder Einsatz chemischer Waffen eine “rote Linie” überschreiten würde. Er listete einige harte Beweise für Assads Schuld auf, etwa dass unmittelbar vor dem 21. August Gasmasken an die Truppen verteilt worden seien und dass von einem durch das Regime kontrollierten Gebiet in 11 Nachbargebiete, die das Regime von Oppositionstruppen zu säubern versuchte, Raketen gefeuert wurden. Stabschef Denis McDonough assistierte in der New York Times: “Niemand mit dem ich gesprochen habe, zweifelt an den Geheimdienstangaben, die das Assad-Regime mit den Sarinangriffen in Verbindung bringen”.
Doch diese Aussagen waren falsch, wie der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh schon am 8. Dezember 2013 in einem langen Artikel im “London Review of Books” unter dem Titel “Wessen Sarin?” (“Whose Sarin?”) nachweisen konnte. Hersh, einer profiliertesten investigativen Journalisten und Pulitzer Preisträger, war dadurch bekannt geworden, dass er seinerzeit das Kriegsverbrechen der US-Amerikaner in Mylai, wo US-Truppen im  März 1968 504 Dorfbewohner ermordeten, bekannt gemacht hat. Von den Medien zunächst abgelehnt, wurde der Report 1970 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Im Jahr 2000 deckte er die Kriegsverbrechen der US-Army unter ihrem Befehlshaber Barry McCaffrey gegen die irakischen Truppen auf dem Rückzug aus Kuweit nach Bagdad im Jahr 1991 auf, veröffentlichte den Folterskandal im Abu Ghraib-Gefängnis im Irak und schrieb jüngst in “The killing of Osama Bin Laden” die Gegengeschichte zur Version der Obama-Administration. Sein Publikationsorgan war vor allem  “The New Yorker”, der auch die Untersuchungen zum Giftgas in Syrien bei Hersh in Auftrag gegeben hatte. Die Zeitschrift lehnte jedoch die Veröffentlichung der Ergebnisse ab, ebenso wie die Washington Post. So fand der Artikel schließlich seinen Platz in dem ebenso seriösen und renommierten “London Review of books”. Der “Review” wird die Informationen, die die US-Administration unter Obama schlicht der Lüge bezichtigen - gemeinhin ein vernichtendes Urteil -, sorgfältig geprüft haben. Hersh verfügt über vorzügliche Verbindungen zu ehemaligen und aktiven Geheimdienstmitarbeitern, die ihn tief in die politischen und militärischen Eingeweide des Bauchs von Washington blicken lassen. Er hat seine Enthüllungen noch nie zurücknehmen müssen.
So zitiert er auch jetzt wieder einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, der über das Entsetzen innerhalb der militärischen und nachrichtendienstlichen Bürokratie berichtete, als sie hörten, wie Washington ihre hochgeheimen Morgenberichte frisierte. Denn bis zum 21. August 2013 gab es keine Erkenntnisse und Berichte über den Einsatz von Nervengas in Damaskus. Am 29. August veröffentlichte die Washington Post Auszüge aus dem jährlichen Budget aller nationalen Geheimdienstprogramme, Dokumente, die ihr Erward Snowden verschafft hatte. Darin wird von einem geheimen Sensorsystem berichtet, welches die NSA in Syrien zur Überwachung des chemischen Waffenarsenals installiert hatte. Die Sensoren wurden vom “National Reconnaissance Office” beobachtet, hatten jedoch in den Monaten und Tagen vor dem 21. August keine Bewegung gemeldet. Dass das System funktionierte, hatte es im Dezember zuvor bewiesen, als es Zeichen aufnahm, die für die Produktion von Sarin in einem Depot der chemischen Waffen sprachen. Obama ging sofort an die Öffentlichkeit und warnte  Damaskus, dass der Einsatz von Sarin “vollkommen unakzeptabel” sei. Später stellte sich heraus, dass es sich um eine der üblichen militärischen Simulationsübungen gehandelt hat.
Aus diesen Übungen stammen die Gasmasken, die John Kerry erwähnte, als er behautete, die US-Administration habe von den Vorbereitungen zum Gasangriff am 18. August gewusst: “Wir wissen, dass die Elemente des syrischen Regimes angewiesen wurden, sich für den Angriff vorzubereiten, Gasmasken anzulegen und Schutzmaßnahmen in Verbindung mit chemischen Waffen zu ergreifen.” Die Reaktion der Free Syrian Army seinerzeit: “Es ist unglaublich, dass sie das Volk nicht warnten oder versuchten, das Regime vor diesem Verbrechen zu stoppen.”
Die Anzahl der Toten variiert immer noch zwischen 1729 (Free Syrian Army), 1429 (US-Administration), 355 (Médecins sans frontieres) und 281 (ein französischer Report). Auf jeden Fall basierten die Erkenntnis, die Obama und Kerry am 10. September der Öffentlichkeit präsentierten, nicht auf Informationen der Geheimdienste vor dem 21. August, sondern auf Analysen danach. Die Blaupause stammte vom Dezember 2012, wie ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter Hersh erklärte: “Sie haben eine Hintergrundgeschichte zusammengeschoben mit vielen verschiedenen Stücken und Teilen. Die Plattform, die sie benutzten, war die Plattform, die auf den Dezember zurückgeht.”
Die Presse folgte dieser Erzählung, von New York und Washington bis Berlin, Frankfurt und München. Die UNO war vorsichtiger, sie bestätigte zwar in ihrem Report vom 16. August den Einsatz von Sarin, enthielt sich jedoch entsprechend der Auftragsweisung einer Schuldzuweisung und erwähnte, dass der Zutritt ihrer Untersuchungskommission zu dem Ort fünf Tage nach dem Angriff von den Rebellen kontrolliert wurde. Wie alle Orte, die sie besuchte, seien diese schon vorher von anderen aufgesucht worden, die zum Teil verdächtige Munition herangebracht hätten, was darauf hindeute, das mögliche Beweise manipuliert worden seien. Die internationale Presse nahm den UNO-Report jedoch unangefochten für eine Bestätigung der Obama-Version. Auch die Analysen von Theodore Postol , Professor für Technologie und nationale Sicherheit am MIT und seines Kollegen Richard M. Lloyd, die die abgeschossenen Raketen als improvisiert und vorort hergestellt einschätzten, die man in jeder bescheiden ausgestatteten Werkstatt zusammenschrauben und die allenfalls 2 km weit, also viel zu kurz, fliegen könnten, irritierten die Presse nicht und ließ sie nicht an der offiziellen Version zweifeln.
Der Angriff in Ghouta am 21. August 2013 war nicht der erste Einsatz von Nervengas. Bereits im März und April hatte es kleinere Angriffe gegeben, für die sich Regierung und Rebellen gegenseitig verantwortlich machten. Die UNO identifizierte vier Angriffe mit chemischen Waffen, ordnete sie aber keiner Seite zu. Das Weiße Haus zeigte sich jedoch davon überzeugt, dass die syrische Regierung dahinter stecke, es gäbe keine verlässlichen Anzeichen dafür, dass die Opposition chemische Waffen erworben oder eingesetzt habe: “Assad hat die ‘rote Linie’ überschritten,” verlautete es aus Washington.
Doch auch dies war falsch. Schon Ende Mai hatte ein Geheimdienstmitarbeiter Hersh erzählt, dass die CIA die Obama-Administration über al-Nusra und ihre Arbeit mit Sarin unterrichtet und alarmierende Nachrichten über eine andere fundamentalistische sunnitische Gruppierung in Syrien, Al Quaida in Irak (AQI), geliefert habe, die sich ebenfalls auf die Produktion von Sarin verstehe. Am 20. Juni wurde dem stellvertretenden Direktor der “Defense Intelligence Agency” (DIA), David R. Shedd ein vierseitiges Dossier übermittelt, in dem die Fähigkeit von al-Nusra, Sarin zu erlangen und einzusetzen, bestätigt wurde. Spuren bereits benutzten Sarins wurden mit Hilfe des israelischen Geheimdienstes gesichert. Im Militär war sogar die Sorge verbreitet, dass die Rebellen US-amerikanische Truppen, sollten sie nach Syrien gesandt werden, mit Sarin angreifen könnten, da sie in der Lage waren, Sarin herzustellen. General Martin Dempsey warnte deshalb im Juli 2013 vor dem Hearing des “Armed Services Committee” des Senats, dass es Tausende Spezialkräfte und andere Bodentruppen bedürfe, um die in Syrien weitverstreuten chemischen Waffenarsenale zu beschlagnahmen, hunderte von Flugzeugen, Schiffen, Unterseebote und anderen Fahrzeugen wären notwendig. Das Pentagon schätzte die Zahl der erforderlichen Truppen auf 70 000.
Trotz allem, die Administration blieb bei ihrer Entscheidung, allein Assad die Verantwortung zuzuschieben. Auf einer Pressekonferenz erklärte die US-Botschafterin bei der UNO, Samantha Power: “Es ist sehr wichtig, festzuhalten, dass nur das Assad-Regime Sarin besitzt, wir haben keine Beweise, dass die Opposition Sarin besitzt.” Dennoch realisierte Obama seine Entscheidung, in Syrien einzugreifen, letztlich nicht. Am 26. September einigte er sich mit Putin auf eine gemeinsame UNO-Resolution, in der Assad aufgefordert wurde, sein chemisches Arsenal aufzulösen.
Doch dies war offensichtlich nicht die ganze Geschichte. Warum schreckte Obama vor seiner “rote Linie”-Drohung zurück? Diese Fragen stellte sich Hersh am Ende seines Artikels und recherchierte weiter. Seine Ergebnisse veröffentlichte er ein halbes Jahr später wieder in dem “London Review of Books” am 7. April 2014 unter dem Titel “Die rote Linie und die Rattenlinie” (The Red Line and the Rat Line”). Was bisher noch als Einzelmeinung abgetan werden konnte, erwuchs jetzt durch weitere Fakten und Details zu einem Dokument, dem man nur mit größter Ignoranz und Arroganz aus dem Wege gehen konnte. Wiederum konnte Hersh auf seine ausgezeichneten Geheimdienstkontakte zurückgreifen, diesmal offensichtlich bis nach Russland, und kam zu folgendem Ergebnis.
Nicht die syrische Armee, sondern al-Nusra Front hatte das Sarin entwickelt. Im Mai 2013 wurden im Süden der Türkei 2 kg Sarin im Besitz von al-Nusra Rebellen sichergestellt. Das Sarin, was beim Angriff vom 21. August 2013 benutzt wurde, konnte laut chemischer Analyse nicht aus dem Arsenal der syrischen Armee stammen. Die Erkenntnisse fußten auf russischen Analysen. Die Russen mussten es wissen, denn sie hatten schließlich seinerzeit das Sarin in den syrischen Depots geliefert. Die Gas-Angriffe vom März und April 2013 hatten die Rebellen unternommen.
Nach dem Angriff vom 21. August hatte Obama die Ziele zur Bombardierung Syriens bestimmt: zwei Geschwader B52 Bomber mit 2000 kg-Bomben und U-Boote mit Tomahawk-Raketen sollten alle syrischen Militärkapazitäten vollkommen zerstören: elektrische Energieversorgungsanlagen, Öl- und Gas-Depots, alle bekannten logistischen und Waffen-Depots, alle bekannten militärischen und nachrichtendienstlichen Gebäude. Der Angriffstermin sollte vor dem 2. September 2013 liegen. Auch hier wiederum wurde zur Begründung auf die syrischen Rebellen verwiesen, die die Gas-Attacke der syrischen Armee zugeschrieben hatten.
Am 31. August kündigte Obama im Rosengarten des Weißen Hauses überraschend an, dass der Angriff aufgeschoben würde und er das Votum des Kongresses einholen wolle. Eine solche Verlagerung der Kriegsentscheidung auf den Kongress hatte es in der US-amerikanischen Geschichte noch nie gegeben. Es war ein Kunstgriff Obamas, über den viel gerätselt wurde. Kurz nach dem 21. August hatten die Russen Chemieproben aus Ghouta mitgenommen, analysiert und dem britischen MI6 übergeben, die leitete es weiter nach Porton Down, USA. Dort wurde das Ergebnis sehr ernst genommen und an General Martin Dempsey weitergeleitet. Auf Grund des Berichtes erklärte dieser dem Weißen Haus: ein Angriff auf Syrien wäre ein ungerechtfertigter Akt der Aggression, denn das Sarin in Ghouta stamme nicht aus den Arsenalen des syrischen Militärs. Dies wiederum beeindruckte offensichtlich die US-Administration. Der Öffentlichkeit wurde als Grund des Stopps mitgeteilt, der Kongress sei in der Meinung gespalten und durch den geplanten Angriff würde der Mittlere Osten in Rauch aufgehen. Nancy Pelosi, Chefin der Demokraten, erklärte Obama, der Kongress würde nicht wie im Falle des Iraks die Sache einfach durchwinken, sondern substantielle Hearings fordern.
Obama wählte daraufhin den Plan B: Kein Bombenangriff, wenn Assad die Vernichtung all seiner chemischen Waffen unter Aufsicht der UNO zustimmen würde. Dieser Plan war schon im Sommer 2012 zwischen Russen und Amerikanern erörtert worden. Das Weiße Haus wollte jedoch seinen Irrtum nicht eingestehen. Das Assad-Regime musste auch nach diesem Kurswechsel für den Einsatz des Giftgases verantwortlich gemacht werden.
Doch damit war noch nicht alles geklärt. Offen war noch die Frage, wer hinter al-Nusra Front stand und ihr die Tür zum Sarin öffnete. Die Spur führte, wie schon lange vermutet, in die Türkei. Ende 2012 waren die USA zur Einschätzung gekommen, dass die Rebellen verlieren würden. Auf dem Aspen Sicherheitsforum in Colorado hatte Shedd eine alarmierende Einschätzung der Rebellenscene gegeben. Es gäbe ca. 1200 verstreute Gruppen in der Opposition, al-Nusra sei die bei weitem gefährlichste. Erdogan war sauer, weil er auf die Rebellen in seinem Kampf gegen Assad nicht verzichten wollte. Er arbeitete von Frühling 2013 an direkt mit al-Nusra und den anderen Rebellenorganisationen zusammen, um chemische Waffen zu entwickeln. Die türkische Nachrichtenorganisation MIT übernahm die politische Verbindung, die Gendarmerie die militärische Logistik, die Instruktion und das Training. Erdogan wusste, wenn er die Unterstützung der Jihadisten abbrach, war alles verloren. Seine Kalkulation war: es musste ein Ereignis geschaffen werden, welches die USA zwinge, die rote Linie zu überschreiten.
Ein ehemaliger Offizieller vom Nachrichtendienst in den USA klärte Hersh über die Zusammenhänge auf: „Wir wissen jetzt, dass der Gasangriff vom 21. August eine verdeckte Aktion von Erdogans Leuten war, um Obama über die ‚Rote Linie’ zu stoßen.“ „Sie mussten die Dinge bis zu einem Gasangriff in oder nahe von Damaskus vorantreiben, als die UN-Inspektoren am 18. August in Damaskus eintrafen, um die früheren Gasangriffe zu untersuchen. Die DIA und andere Nachrichtendienste erzählten uns, dass das Sarin über die Türkei geliefert worden war – es konnte nur mit türkischer Unterstützung dorthin kommen. Die Türken sorgten auch für die Unterrichtung zur Produktion von Sarin und zur Anwendung. Man rechnete damit, dass mit dem Gaseinsatz Obama die ‚rote Linie’ überschritten sieht und Syrien angreifen würde. Die Rechnung ging nicht auf.“ Niemand will im Weißen Haus mit Hersh darüber sprechen. Er erfuhr nur soviel: „Da wir einmal Assad beschuldigt haben, können wir nicht zurück und jetzt Erdogan beschuldigen.“
Auch die Drohung einer islamistischen Rebellenfraktion, das Grab des Suleyman Shah, Großvater von Osman I, des Gründers des Ottomanischen Reiches, zu zerstören, war als Provokation mit Erdogan besprochen, um einen Vorwand für einen Angriff der Türkei auf den Norden Syriens zu bieten. Nachdem das an die Öffentlichkeit kam, blockierte Erdogan den öffentlichen Zugang zu YouTube. Und wiederum gibt ein Informant aus dem Nachrichtendienst die wohl plausibelste Begründung für die Schonung Erdogans: „Wir könnten das alles öffentlich machen, wenn es jemand anders als Erdogan wäre. Aber die Türkei ist ein spezieller Fall, sie ist NATO-Partner. Die Türken trauen dem Westen nicht. Sie können nicht mit uns leben, wenn wir irgendeine aktive Rolle gegen die türkischen Interessen einnehmen. Wenn wir das, was wir über Erdogans Rolle mit dem Gas wissen, an die Öffentlichkeit bringen würden, wäre das ein Desaster. Die Türken würden uns sagen: Wir hassen euch, weil ihr uns erzählt, was wir können und nicht können.“ Jetzt haben es allerdings die Türken selber gemacht - doch dazu weiter unten.
Denn Hersh hatte noch einiges über die Kooperation der USA mit den Türken, Saudis und Katar, die „Rattenlinie“ herausgebracht. Seit Anfang 2012 wurden Waffen und Munition von Libyen über die Türkei nach Syrien geschleust. Das konnte man einem hochgeheimen Bericht entnehmen, der im September 2012 dem Report über den Angriff auf das US-Konsulat in Benghasi, bei dem der Botschafter ums Leben kam, angeheftet war, und der ein geheimes Abkommen zwischen der amerikanischen und türkischen Regierung von Anfang 2012 beschrieb, welches die Vereinbarung über die Ratten-Linie enthielt. Die Finanzierung sollte von der Türkei, Saudi-Arabien und Katar kommen, die CIA mit der Unterstützung der MI6 war dafür verantwortlich, Gaddafis Waffenarsenal nach Syrien zu schaffen. Dafür wurden einige Firmen in Libyen gegründet, einige unter australischem Deckmantel. Die Operation wurde anfangs von David Petraeus geleitet. Dem Kongress wurde die Operation nicht mitgeteilt, obwohl nach einem Gesetz von 1970 notwendig. Nach dem Überfall auf das Konsulat endete die Beteiligung der CIA aber die Rattenlinie arbeitete weiter. Die Türkei bietet den einzigen Weg, die Rebellen zu beliefern.
Die US-Administration stand nun nackt da, nur noch bedeckt mit dem Zeitungspapier der internationalen „Qualitätspresse“, die versuchte, die Peinlichkeit mit Spekulationen über die Senilität Hershs und seine dubiosen Recherchemethoden zu bedecken. Die taz, die ebenfalls nie einen Zweifel an der Täterschaft Assads gehabt hatte, führte einen Dozenten für digitalen Journalismus an der Universität Stirling in Großbritannien, Muhammad Idris Ahmad, ins Feld (taz v. 22./23. November 2014, S. 11), der gleich alle Journalisten, die Assads Verantwortung bezweifeln, wie Charles Glas, Robert Fisk, Patrick Cockburn aber vor allem Seymour Hersh, der Naivität, Leichtgläubigkeit und verschwörungstheoretischen Anfälligkeit bezichtigte und das ganze Beweisgebäude in Zweifel zog. Obama blieben faktisch nur zwei Reaktionen, wenn er den ganzen Schwindel nicht eingestehen wollte, Hersh wegen Geheimnisverrats etc. vor Gericht zu ziehen oder sich auf seine Position vom 10. September 2013 zu versteifen. Er handelte offensichtlich wiederum klug, sich nicht auf einen Streit mit Hersh einzulassen, denn dieser bekam nun plötzlich und unerwartet Rückendeckung aus der Türkei.
Am 23. Oktober berichtete die türkische Zeitung „Today’s Zaman“ von der Pressekonferenz zweier Abgeordneten der „Republikanischen Volkspartei“ CHP,  Eren Erdem und Ali Şeker, auf der sie Dokumente und Audio-Kassetten vorlegen konnten, in denen Details beschrieben werden, wie Sarin in der Türkei produziert und an die Terroristen weitergegeben wurde. Die MKE (Turkish Mechanical and Chemical Industry Corporation) wurde ausdrücklich als beteiligte Firma erwähnt. Gefunden hatten die beiden Oppositionsabgeordneten diese brisanten Dokumente in den Akten der Staatsanwaltschaft von Adana, die eine Untersuchung wegen des Verdachts, dass Sarin mittels einiger Geschäftsleute von der Türkei nach Syrien geschafft worden war, eingeleitet hatte. Staatsanwalt Mehmet Arikan startete eine detaillierte technische Überwachung der Verdächtigen und stieß auf ein Mitglied von al-Qaida, Hayyam Kasap, der Sarin erhalten hatte. Eine Anklage mit Anschuldigungen gegen die Regierung folgte. Erdem wörtlich: „Abgehörte Telefongespräche deckten den Weg auf, wie das Gas an spezifische Adressen kam wie auch die Raketen, die die Kapseln mit dem giftigen Gas transportieren sollten. Trotz eindeutiger Beweise gab es keine Verhaftung in diesem Fall. Dreizehn Personen wurden in der ersten Phase der Untersuchung verhaftet, später aber wieder freigelassen...”.
Das Ziel der Attacke war nach Meinung beider Abgeordneten, Obama zu zwingen, die von ihm selbst gezogene „rote Linie“ zu überschreiten, und militärisch gegen Assad vorzugehen. Sie unterstützen damit Hersh’s Vermutung, die er schon im Dezember 2013 geäußert hatte. Erdems Kollege Şeker ergänzte: “Die Untersuchungen haben eindeutig ergeben, dass diejenigen, die die für die Herstellung von Sarin erforderlichen Chemikalien schmuggelten, keinerlei Schwierigkeiten bekamen. Das beweist, dass der türkische Geheimdienst ihre Aktivitäten kannte. Während alle diese Leute für ihre illegalen Machenschaften ins Gefängnis gehören, ist nicht eine einzige Person im Gefängnis. Der ehemalige Premierminister und der Innenminister sollten für ihre Nachlässigkeit in diesem Fall verantwortlich gemacht werden.“
Die westliche Presse – von Washington bis Berlin – schweigt. Vielleicht das Beste, was sie machen kann, wenn sie ihr Versagen nicht eingestehen will. In der Türkei dauerten die öffentlichen Reaktionen nur zwei Tage nach der Veröffentlichung. Der stellvertretende Vorsitzende der AKP Begier Bozdag stellte Strafanzeige wegen Rufmordes. In einem weiteren Interview vom 14. Dezember 2015 mit rt-deutsch (https://deutsch.rt.com/der-nahe-osten/35982-exklusiv-beweise-fur-lieferung-von/) haben beide Abgeordnete ihre Aussagen und Vorwürfe noch einmal bestätigt und hinzugefügt, dass die Substanzen, die zur Herstellung von Sarin notwendig sind, von Firmen aus dem westlichen Ausland geliefert worden seien.  Die Firmen müssten über die Verwendung in der Türkei keine Zweifel gehabt haben. In Deutschland haben wir leider keine Journalisten vom Format eines Seymour Hersh. Es gibt deren zwar genügend viele mit vorzüglichen Beziehungen zu allen Geheimdiensten und den Hinterstuben des politischen Zwielichts, doch nutzen sie diese Wege nur selten zur Verbreitung der Wahrheit.
PS. Bereits im Juni 2014 hatte die gemeinsame Mission der UNO und der OPCW (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons) gemeldet, dass auch die letzten Bestände an chemischen Waffen in staatlichem syrischem Besitz vernichtet worden seien. Doch die Angriffe mit Sarin haben in Syrien nicht aufgehört. Ein Angriff, der sich im März 2015 50 km südwestlich von Aleppo zugetragen hat sowie ein Angriff mit Senfgas im August nördlich von Aleppo, wird nunmehr eindeutig dem IS zugeschrieben. Woher hat er das? Im August 2015 beschloss der UNO-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 2235, dass diesmal die gemeinsame Mission der UNO und OPCW auch untersuchen soll, wer für den Giftgaseinsatz verantwortlich ist. Warten wir ab.

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