Wednesday, October 28, 2015

Rede von Altbundespräsident Köhler anlässlich 70 Jahrfeier der Vereinte Nationen


Die Instrumentalisierung des Sicherheitsrats zur Durchsetzung der Interessen individueller Staaten ist ein Grundübel der VN und lähmt die Weltgemeinschaft oft in ihrer empfindlichsten Funktion, der Bewahrung des Friedens. Ob Irak oder Libyen – die Umgehung des Sicherheitsrates oder die absichtliche Fehlinterpretation seines Mandates haben nicht nur der Glaubwürdigkeit der VN massiv geschadet, haben doch die großen Mächte das Signal ausgesendet, dass es Regeln gibt, die man nicht beachten muss. Horst Köhler 

Große Rede von Altbundespräsident Köhler beim DGVN-Festakt zu 70 Jahren Vereinte Nationen
Winfried Nachtwei, MdB a.D., Vorstandsmitglied der DGVN (24.10.2015)

Die Vereinten Nationen wurden vor 70 Jahren „nicht gegründet, um der Menschheit den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu bewahren“ – so der britische Premierminister Winston Churchill und der zweite UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Heute sind die VN dringlicher denn je: Wirksamere Vereinte Nationen gegen die Kriegsbrände, humanitären Großkatastrophen und globalen Herausforderungen.
Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hielt auf dem Festakt der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) zum 70-jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen am 21. Oktober 2015 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche die Festrede vor ca. 500 Gästen, darunter Botschaftern bzw. Gesandten aus 36 Ländern.
Es war eine herausragende, wirklich große Rede, eine nachdenkliche, selbstkritisch-ehrliche, ermutigende Ruck-Rede an die Regierungen und Zivilgesellschaften, die Chancen der Vereinten Nationen endlich besser zu nutzen.
Im vergangenen Jahrzehnt hätten wir „eine Interventionspolitik gesehen, die einem angesichts ihrer Kurzsichtigkeit und, ja, Inkompetenz den Atemverschlägt. Die Leidtragenden sind jetzt Millionen Frauen, Männer und Kinder besonders im Nahen Osten – und natürlich muss die Suppe wieder vor allem die VN auslöffeln.“ Die Liste der globalen Herausforderungen, die sich um Staatsgrenzen nicht scheren, sei lang: Terrorismus, Ebola, Klimawandel, Migration … „All diese Themen rufen nach einer global governance, deren Ziel sich nicht mehr darauf beschränkt sicherzustellen, dass die nationalstaatlichen Boote nicht miteinander kollidieren, sondern welche die Weltpolitik in dem einen Boot koordiniert, in dem alle Völker längst sitzen. Diese Tatsache erfordert, den Begriff des nationalen Interesses neu zu denken, denn unsere Interessen sind längst so sehr miteinander verwoben, dass es tatsächlich so etwas wie ein globales Interesse, ein globales Gemeinwohl gibt.“ Die VN seien das „dickste aller Bretter, das es zu bohren gilt. Langsam und geduldig, an vielen Stellen gleichzeitig. (…) Es wäre (..) ein Fehler, die VN nur unter der Bedingung ernst zu nehmen, dass sie sich reformiert. Erst umgekehrt wird ein Schuh daraus: wenn die Mitgliedsstaaten den Multilateralismus und damit die Vereinten Nationen wieder ernst nehmen und echtes politisches Kapital investieren, dann wird es auch zu Reformen kommen können.
Eine so orientierungsstarke und wichtige Rede habe ich zur internationalen Politik seit Jahren nicht gehört. (Na,  dann haben Sie wohl die gewichtigen Reden von  Putin, Xi Jinpeng und Rouhani vor der UN-Generalsversammlung in New York nicht gehört Blogger-Comment) Sie verdient breiteste Beachtung - nicht zuletzt auch beim gegenwärtigen Weißbuchprozess des Verteidigungsministeriums. (Der Redetext unter http://www.dgvn.de/fileadmin/user_upload/DOKUMENTE/Vortraege/Festakt_K%C3%B6hler/Festakt_70_Jahre-RedeK%C3%B6hler.pdf )

Für politisch skandalös halte ich allerdings die Null-Berichterstattung über die Rede in den deutschen Tagesmedien. Warum erhalten Hetzreden bei Pegida breiten medialen Resonanzraum, während eine solche bedeutende Hoffnungsrede trotz breiter Vorabinformation der Presse ausnahmslos (!) ignoriert wird? (Dass dies kein bloßes Tagesversäumnis war, zeigt die „verlässliche“ Nichtberichterstattung über die friedenspolitischen Großereignisse der inzwischen drei „Tage des Peacekeepers“ in Deutschland wie auch den „Leader`s Summit on Peacekeeping“ mit seinen spektakulären Blauhelm-Zusagen am 28. September in New York.)

Hier ein Kurzbericht von der DGVN-Seite:
Im Jahr 1945, in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, versprach die Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen am 24. Oktober Großes: Die Vereinten Nationen sollten „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges“ bewahren, die Grundrechte der Menschen stärken und sogleich Bedingungen schaffen, unter denen Gerechtigkeit und weltweiter sozialer Fortschritt gedeihen kann.
Genau 70 Jahre später und anlässlich dieses Gründungsjubiläums lud die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) zum Festakt in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin ein. Zahlreiche namhafte Gäste aus Politik, Gesellschaft und Kultur folgten dieser Einladung und stellten damit die Rolle der Vereinten Nationen als wichtiges diplomatisches Forum, auch für Deutschland, auf eindrucksvolle Weise unter Beweis.
Musikalisch eröffnet wurde der Abend mit der Hymne der Vereinten Nationen von Pau Casals. Zur Begrüßung verwies Pfarrer Martin Germer darauf, dass die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eine ganz besonders enge und lange Verbindung zur Idee der Vereinten Nationen aufweist: bereits am Sedantag zur Feier des Sieges über Frankreich hatte Pfarrer Nithak-Stahn 1911 die Regierungen der Welt zu „friedestiftenden Verträgen“ aufgerufen. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Detlef Dzembritzki, unterstrich: „Die Vereinten Nationen sind als globalpolitische Konsequenz zweier verheerender Weltkriege gegründet worden. Wir wollen heute am 70. Gründungsjubiläum nicht nur daran erinnern, sondern aus der Geschichte Impulse für die aktuellen Herausforderungen ableiten.“
Horst Köhler, Bundespräsident a.D. hielt die Festrede unter dem Titel: „Abschied vom Menschheitstraum? Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert". Köhler erinnerte daran, dass die Gründung der VN 1945 kein Selbstläufer war, sondern das Ergebnis von politischem Willen, einer mutigen Vision und knallhartem Pragmatismus. Die VN-Gründung sei damit gerade heute „eine Mahnung an jene, die ihr Heil wieder in nationalstaatlichen Schneckenhäusern suchen, und auch an jene, die ihren Mangel an politischen Visionen für Realpolitik halten“. Der Altbundespräsident hielt ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, die „Vereinten Nationen zu einer echten universellen Organisation werden zu lassen, die eine langfristig angelegte weltweite Transformation hin zu Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle organisiert, anstatt zu einer Agentur zur Bekämpfung humanitärer Krisen zu verkümmern“.
Die zahlreichen Gäste aus Politik, Kultur und Gesellschaft (…) würdigten diesen Rundumblick mit anhaltendem Applaus.
Für die DGVN wurde der Abend zu einem Erfolg: „Es ist deutlich geworden“, so der Vorsitzende Dzembritzki, „dass die Vereinten Nationen in dem Maße handlungs- und zukunftsfähig sind, wie die Staaten bereit sind, die angebotenen Foren für Verhandlungen und gemeinsame Maßnahmen tatsächlich zu nutzen.“

Tagesschau am 24. Oktober zum Inkrafttreten der UN-Charta vor 70 Jahren, Markus Schmidt/ARD New York, http://www.tagesschau.de/ausland/70jahre-uno-103.html
Hörfunk ARD am 24. Oktober zum Inkrafttreten der UN-Charta, Georg Schwarte/ARD New York, http://www.tagesschau.de/multimedia/audio/audio-22185.html

Weitere Informationen zur UN-Friedenssicherung, zu UN-Friedensmissionen, zur Bundestagsdebatte am 14. Oktober und zum „Leader`s Summit on Peacekeeping“ am 28. September in New York. Auf Initiative von US-Präsident Obama sagten hier Vertreter von 50 Staaten überraschend insgesamt 40.000 Peacekeeper zu, China allein spektakuläre 8.000 (auch hierüber keinerlei Informationen in der deutschen Presse):

Bericht von der DGVN-Fachtagung „70 Jahre Vereinte Nationen – Legitimität, Krise und Potenzial“ am 8./9. Oktober in Berlin: http://www.dgvn.de/meldung/bericht-zur-dgvn-fachtagung-70-jahre-vereinte-nationen-legitimitaet-krise-und-potenzial/



Rede von Tom Koenigs zur Regierungserklärung „70 Jahre Vereinte Nationen“ am 14.10.2015: http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2015/oktober/regierungserklaerung-70-jahre-vereinte-nationen_ID_4396884.html

Auswärtiges Amt: „70 Jahre Vereinte Nationen: Unentbehrlich für den Friedenhttp://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/VereinteNationen/0_Aktuell/150119_VN70_node.html

70 Jahre Vereinte Nationen Die Welt ein bisschen besser machen
(Stand: 26.06.2015 02:53 Uhr, von Georg Schwarte, NDR, ARD-Hörfunkstudio New York)

Heute vor 70 Jahren wurden die Vereinten Nationen gegründet. Die UNO sei eine Quatschbude, befand einst der französische Präsident de Gaulle. Trotz aller Kritik ist die Liste ihrer Erfolge lang - auch wenn vieles wenig Beachtung findet.
Tue Gutes und rede kaum drüber. Das könnte auch ein Motto der Vereinten Nationen sein. Denn trotz harscher Kritik beispielsweise an der politischen Lähmung des UN-Sicherheitsrates - Charles de Gaulle nannte die UNO einst eine Quatschbude - zieht der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan ein anderes, ein erfreulicheres  Fazit. "Wir sind die einzige Organisation dieser Erde, die die Macht hat, jedes Land der Welt hier an einen Tisch zu bringen und zu sagen: Lass uns das diskutieren." Es sei keine perfekte Organisation, aber die Beste, die wir haben.
Viel erreicht - nicht nur Nobelpreise
In ihren 70 Jahren haben die Vereinten Nationen viel erreicht, diese Welt ein bisschen besser gemacht. Bei fast jeder Katastrophe weltweit springt das World Food Programme ein - 104 Millionen Menschen in 81 Ländern hungern jedes Jahr nicht, dank dieser UN-Einrichtung. Das UN-Flüchtlingshilfswerk, ein weiterer Erfolg der Vereinten Nationen. Zwei Nobelpreise belegen, was bisher 17 Millionen Flüchtlinge erlebten: Hilfe durch die UN.
Die Friedensmissionen samt Blauhelmen: nicht perfekt, aber bisweilen erfolgreich. 16 Missionen laufen derzeit, Beispiele wie Namibia, Nicaragua, Kambodscha und Mosambique sind die großen Erfolge, überschattet aber regelmäßig vom öffentlichen Scheitern wie derzeit im Fall Syrien oder Gaza. Dass in 50 Jahren Blauhelmmissionen fast 2000 UN-Mitarbeiter ihr Leben ließen. ist auch eine Kehrseite stiller Erfolge.
UNO ist überall aktiv
Wie auch UNICEF, das Kinderhilfswerk, ein weiterer Mosaikstein im Erfolgsgemälde der Vereinten Nationen ist. Die Kindersterblichkeit der unter Fünfjährigen wurde seit 1990 mehr als halbiert: auch ein sehr stiller Erfolg der Vereinten Nationen, deren Haltung der Ex-Generalsekretär Annan mal so beschrieb: "Wir arbeiten hart, aber wir versuchen dabei Spaß zu haben."
Beobachtung von freien Wahlen, ein Hochkommissariat für Menschenrechte, die UN-Kinderrechtscharta, der Kampf gegen Aids und das große Thema der Kindersoldaten. Überall ist die UNO aktiv. So bleibt trotz vieler Unvollkommenheiten am Ende der eine Satz, den in New York viele - auch die frustrierten - UN-Diplomaten zitieren: Gäbe es die Vereinten Nationen nicht, die Welt müsste sie schleunigst erfinden.

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