Peter Scholl-Latour: «Der Fluch der bösen Tat»
«Das Scheitern des Westens im Orient»
von Rainer Schopf
Peter Scholl-Latour hat kurz vor seinem Tod ein neues Buch geschrieben, das im Herbst 2014 veröffentlicht wurde. Es ist das dreiunddreissigste Buch in einer langen Reihe hervorragender publizistischer Werke, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der letzten 70 Jahre zieht. Sein 1980 erschienenes Buch «Der Tod im Reisfeld» über Indochina ist das meistverkaufte Sachbuch Deutschlands seit 1945. In «Der Weg in den neuen Kalten Krieg» (2008) analysierte er die Jahre von 2001 bis 2008, insbesondere die Folgen von 9/11 auf die Weltpolitik. Nun also folgt zuletzt «Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient» mit aktuellen Analysen der Schlachtfelder im Orient und in der Ukraine. Es ist das Vermächtnis eines Deutsch-Franzosen, eines grossen Europäers, eines Liebhabers der Vielfalt der Menschen und Landschaften von der Levante bis zum Golf und darüber hinaus. Peter Scholl-Latour war ein wahrer Weltbürger.
Biographisches
Peter Scholl-Latour wurde am 8. März 1924 in Bochum als Sohn Elsass-Lothringer Eltern geboren. Er galt wegen seiner jüdischen Mutter Mathilde Nussbaum nach den Nürnberger Rassegesetzen als Mischling 1. Grades. Der Bruder der Mutter, Robert Nussbaum, wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. Peter Scholl-Latour wurde katholisch getauft und besuchte von 1936 bis 1940 das Jesuitenkolleg Sankt Michael im schweizerischen Freiburg. Danach musste er nach Deutschland zurückkehren und legte 1943 in Kassel die Abiturprüfung ab. 1944 wollte er freiwillig der französischen Armee im Kampf gegen Deutschland dienen. Als dieser Versuch scheiterte, versuchte er, sich den Partisanen Titos anzuschliessen. Er wurde aber schon in der Steiermark verhaftet und war bis 1945 in Gestapo-Haft in Graz, Wien und Prag. Nach seiner Befreiung hat Peter Scholl-Latour dann in der französischen Fallschirmjägereinheit Commando Ponchardier gedient.
Ab 1948 studierte Peter Scholl-Latour an der Universität Mainz und an der Pariser Sorbonne Philologie, Politikwissenschaften und Literatur. 1954 promovierte er über den deutschen Schriftsteller Rudolf G. Binding. Ausserdem erwarb er 1958 ein Diplom in Arabistik und Islamkunde an der Universität Beirut.
Seine berufliche Laufbahn führte über zahlreiche Stationen deutscher und französischer Zeitungen, den deutschen Hörfunk und die Fernsehsender von ARD, WDR, ZDF und RTL zum UFA-Film und zum Wochenmagazin Stern. Seit 1988 war Peter Scholl-Latour vor allem als freier Autor tätig. Er hatte die deutsche und französische Staatsbürgerschaft und schätzte Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Er starb am 16. August 2014 in Rhöndorf und wurde auf dem dortigen Waldfriedhof beigesetzt.
Zwei besondere Merkmale prägen seine journalistische Tätigkeit: die Frage cui bono und sein stetes Bemühen um authentische und wahrhafte Informationen aus erster Hand. Er war immer vor Ort, riskierte oft sein Leben, weil er die Grundlagen für seine Bücher selbst recherchierte. Pressesprecher, Spin-doctors und Think tanks waren ihm ein Greuel. Im Dialog mit seinen Gesprächspartnern machte er sich sein eigenes Bild und manche Gegner. Viel Feind’ – viel Ehr’. Über Jahrzehnte hinweg ist er gegen den westlichen Mainstream angeschwommen. In seiner Wortwahl hat er die transatlantischen Propagandathesen nicht reflexartig wiedergekäut. Er war mit vielen ranghohen Politikern befreundet und hat ihr Tun dennoch kritisch begleitet und kommentiert. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour in seiner Rede gesagt: «Das, was Scholl-Latour schreibt, ist kritisch geprüft, es ist seine wohl erwogene Wahrheit. Dies ist doch ein entscheidendes Kriterium von Freundschaft: sich darauf verlassen zu können, dass der Freund mir seine Wahrheit sagt und nichts anders!» (S. 344)
Sein letztes Buch ist für westliche Leser nicht viel einfacher zu lesen als die Analysen zu Asien von Kishore Mabubani oder Pankaj Mishra. Die meisten zitierten Personen entstammen dem westlichen und orientalischen Kulturkreis. Einige werden dem interessierten Zeitgenossen geläufig sein. Etwa 300 Personen sind im Register gelistet, und es ist spannend zu lesen, was sie zum Fluch der bösen Tat zu sagen haben.
Ab 1948 studierte Peter Scholl-Latour an der Universität Mainz und an der Pariser Sorbonne Philologie, Politikwissenschaften und Literatur. 1954 promovierte er über den deutschen Schriftsteller Rudolf G. Binding. Ausserdem erwarb er 1958 ein Diplom in Arabistik und Islamkunde an der Universität Beirut.
Seine berufliche Laufbahn führte über zahlreiche Stationen deutscher und französischer Zeitungen, den deutschen Hörfunk und die Fernsehsender von ARD, WDR, ZDF und RTL zum UFA-Film und zum Wochenmagazin Stern. Seit 1988 war Peter Scholl-Latour vor allem als freier Autor tätig. Er hatte die deutsche und französische Staatsbürgerschaft und schätzte Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Er starb am 16. August 2014 in Rhöndorf und wurde auf dem dortigen Waldfriedhof beigesetzt.
Zwei besondere Merkmale prägen seine journalistische Tätigkeit: die Frage cui bono und sein stetes Bemühen um authentische und wahrhafte Informationen aus erster Hand. Er war immer vor Ort, riskierte oft sein Leben, weil er die Grundlagen für seine Bücher selbst recherchierte. Pressesprecher, Spin-doctors und Think tanks waren ihm ein Greuel. Im Dialog mit seinen Gesprächspartnern machte er sich sein eigenes Bild und manche Gegner. Viel Feind’ – viel Ehr’. Über Jahrzehnte hinweg ist er gegen den westlichen Mainstream angeschwommen. In seiner Wortwahl hat er die transatlantischen Propagandathesen nicht reflexartig wiedergekäut. Er war mit vielen ranghohen Politikern befreundet und hat ihr Tun dennoch kritisch begleitet und kommentiert. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour in seiner Rede gesagt: «Das, was Scholl-Latour schreibt, ist kritisch geprüft, es ist seine wohl erwogene Wahrheit. Dies ist doch ein entscheidendes Kriterium von Freundschaft: sich darauf verlassen zu können, dass der Freund mir seine Wahrheit sagt und nichts anders!» (S. 344)
Sein letztes Buch ist für westliche Leser nicht viel einfacher zu lesen als die Analysen zu Asien von Kishore Mabubani oder Pankaj Mishra. Die meisten zitierten Personen entstammen dem westlichen und orientalischen Kulturkreis. Einige werden dem interessierten Zeitgenossen geläufig sein. Etwa 300 Personen sind im Register gelistet, und es ist spannend zu lesen, was sie zum Fluch der bösen Tat zu sagen haben.
Der Fluch der bösen Tat
Peter Scholl-Latour hat seinem Buch ein Zitat von Friedrich Schiller aus Wallenstein vorangestellt:
«Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie,
fortzeugend, immer Böses muss gebären.»
Auf den vorderen und hinteren Buchdeckeln ist die Karte mit der eingezeichneten Sykes-Picot-Linie abgedruckt. In diesem geheimen Abkommen haben Frankreich und Grossbritannien unter sich den Nordirak, Syrien und die Südost-Türkei aufgeteilt. 1917 veröffentlichte das revolutionäre Russland dieses Geheimabkommen und demaskierte damit die böse Tat der Entente-Mächte, worüber diese nicht amüsiert waren. In sieben Kapiteln schildert Peter Scholl-Latour die jahrhundertlangen politischen und militärischen Interventionen des Westens zwischen der Levante und dem Golf.
Ukraine
Im ersten Kapitel beleuchtet der Autor die fragwürdige Politik des Westens gegenüber Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989: «Der absurdestes Territorialkonflikt spielt sich in der Ukraine ab, und das Blutvergiessen erreicht seinen Höhepunkt präzis in einer Region, die im Zweiten Weltkrieg zu den blutigsten Schlachtfeldern gehörte.» (S. 9) Nach Napoleon, Kaiser Wilhelm II und Hitler soll die Ukraine wieder als Aufmarschgebiet gegen Russland missbraucht werden. «Der dümmste Ausdruck, der den deutschen Kommentatoren in den vergangenen Monaten eingefallen ist, um jene Stimmen zu diffamieren, die ein Minimum an Objektivität bei der Beurteilung der russischen Diplomatie anforderten, lautet Putin-Versteher.» (S. 18) Dazu zählen die Altbundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder, deutsche Spitzenmanager und Intellektuelle. Und die aktuelle Kanzlerin, Angela Merkel? Peter Scholl-Latour bezeichnet sie als die Zarin aus der Uckermark, die sich anmasst, den unterentwickelten Russen Mängel an Demokratie und Meinungsfreiheit vorzuwerfen. (S. 31) Es sei angemerkt, dass sich im Zweiten Weltkrieg 150 000 ukrainische Nationalisten in die Waffen-SS gemeldet hatten, die 600 000 Russen, Polen und Juden umbrachten und mit extremer Heftigkeit bis 1950 Russland bekämpften. (S. 26f.) Ihr Anführer, Stepan Bandera, gilt heute als ukrainischer Nationalheld. Er und seine SS-Truppe wurden nicht vor dem Nürnberger Kriegstribunal angeklagt und verurteilt, sondern in die USA und Kanada verbracht. Seine vom amerikanischen Geheimdienst geschulten Nachfolger haben den Maidan angezettelt, den gewählten Präsidenten gestürzt und in die neue Regierung vier ihrer Faschisten als Minister plaziert. Wenn deutsche Politiker heute als Sittenwächter und Künder einer freiheitlichen Ordnung auftreten, sagt Peter Scholl-Latour dazu: «Etwas mehr Zurückhaltung wäre geboten.» (S. 31)
Peter Scholl-Latour ist sich bewusst, dass er sich «mit dieser Einführung dem Vorwurf des Antiamerikanismus aussetze. Aber wir erliegen spätestens seit dem zweiten Irak-Feldzug einer umfassenden Desinformation, die in den USA, Grossbritannien und Israel durch perfekt organisierte Institutionen betrieben wird und im Grunde ebenso ernst zu nehmen ist wie die allgegenwärtige Überwachung durch die NSA. Wieder einmal erweist sich Helmut Schmidt, der angesehenste Staatsmann Deutschlands, als einsamer Rufer in der Wüste, wenn er sich in der ‹Bild›-Zeitung darüber wundert, dass manche der westlichen Politiker und viele Medien zurzeit ganz anders schreiben, als die Deutschen denken. Die Deutschen, so stellt der Altbundeskanzler fest, sind bei weitem friedfertiger als die Leitartikler in der ‹Welt›, der ‹FAZ›, der ‹Bild› und auch […] der ‹Zeit›.» (S. 18) Und Peter Scholl-Latour weiter: «Die weltumspannende Desinformationskampagne amerikanischer Propagandainstitute, der es gelungen ist, die europäische Medienlandschaft gründlich zu manipulieren, mag durchaus berechtigt erscheinen, wenn es darum geht, den Feind zu täuschen. Sie mag sogar bei der Koordinierung von Bündnispartnern nützlich sein. Doch sie wird zum Verhängnis, wenn ihre Autoren sich im Netz der eigenen Lügen und Zwangsvorstellungen verstricken, wenn sie ihren eigenen Phantasmen erliegen.» (S. 37) Das eben ist der Fluch der bösen Tat.
Peter Scholl-Latour ist sich bewusst, dass er sich «mit dieser Einführung dem Vorwurf des Antiamerikanismus aussetze. Aber wir erliegen spätestens seit dem zweiten Irak-Feldzug einer umfassenden Desinformation, die in den USA, Grossbritannien und Israel durch perfekt organisierte Institutionen betrieben wird und im Grunde ebenso ernst zu nehmen ist wie die allgegenwärtige Überwachung durch die NSA. Wieder einmal erweist sich Helmut Schmidt, der angesehenste Staatsmann Deutschlands, als einsamer Rufer in der Wüste, wenn er sich in der ‹Bild›-Zeitung darüber wundert, dass manche der westlichen Politiker und viele Medien zurzeit ganz anders schreiben, als die Deutschen denken. Die Deutschen, so stellt der Altbundeskanzler fest, sind bei weitem friedfertiger als die Leitartikler in der ‹Welt›, der ‹FAZ›, der ‹Bild› und auch […] der ‹Zeit›.» (S. 18) Und Peter Scholl-Latour weiter: «Die weltumspannende Desinformationskampagne amerikanischer Propagandainstitute, der es gelungen ist, die europäische Medienlandschaft gründlich zu manipulieren, mag durchaus berechtigt erscheinen, wenn es darum geht, den Feind zu täuschen. Sie mag sogar bei der Koordinierung von Bündnispartnern nützlich sein. Doch sie wird zum Verhängnis, wenn ihre Autoren sich im Netz der eigenen Lügen und Zwangsvorstellungen verstricken, wenn sie ihren eigenen Phantasmen erliegen.» (S. 37) Das eben ist der Fluch der bösen Tat.
Türkei und Syrien
Im Frühjahr 2013 brach Peter Scholl-Latour nach Anatolien auf, um einer dort stationierten Einheit der Bundeswehr einen Besuch abzustatten. Deren Patriot-Raketen waren auf Syrien gerichtet und auf Antrag der Regierung in Ankara vom deutschen Einsatzkommando der Nato in Geltow bei Potsdam in Stellung gebracht worden, um Solidarität mit den türkischen Bündnispartnern zu bekunden. Aber jedermann war sich bewusst, dass es sich dabei um eine ziemlich überflüssige Beistandsgeste handelte. «Das Übergewicht, über das der Generalstab von Ankara verfügte, war so enorm, dass die türkische Armee […] in kürzester Frist mit ihren Divisionen bis zur Hauptstadt Damaskus vorrücken könnte. Im Zuge einer systematischen Desinformationskampagne hatten sich die Politiker und die Medien des Westens darauf geeinigt, dass es sich bei jedweden völkerrechtswidrigen Übergriffen nur um terroristische Absichten des syrischen Assad-Regimes handeln könne. Die durchaus glaubhaftere Hypothese, dass die vom Westen unterstützten Rebellen grösseres Interesse daran hätten, solche Zwischenfälle zu inszenieren, um die internationale Meinung und vor allem die Regierung Erdogan zusätzlich gegen das verfemte Regime von Damaskus aufzubringen, wurde offenbar in Nato-Kreisen nicht ernsthaft erwogen. Die elementare Frage cui bono – wer profitiert davon? – wurde nicht gestellt.» (S. 47f.)
Peter Scholl-Latour ist dann statt dessen noch im Mai 2014, als der Krieg dort bereits voll entflammt war, nach Syrien gereist. Seine Beobachtungen und Analysen sind eingebettet in Hinweise auf Erfahrungen aus früheren Aufenthalten, die teilweise bereits 60 Jahre zurückliegen. Seine neuen Erkenntnisse sind eingebunden in diesen erlebten Kontext und seine profunden Geschichtskenntnisse vom Altertum bis in die Neuzeit. Die Schilderungen der Menschen und Landschaften, denen er auf seinen Reisen begegnete und die ihn begleiteten, sind literarische Leckerbissen und zeugen von seiner tiefen Verbundenheit mit dem Wohl der Völker in aller Welt.
Peter Scholl-Latour ist die Geschichte der Sunniten, Schiiten, Alewiten, Christen, Juden, Kurden usw. zwischen der Levante und dem Golf vertraut. Er schlägt immer wieder Bögen vom aktuellen Geschehen bis zu den historischen Anfängen. Ihm in seinen komplexen Gedankengängen zu folgen erfordert Konzentration, notfalls Spickzettel und vor allem Geduld und Mut, sich in die Tiefen der vielfältigen und verworrenen Zusammenhänge einzuarbeiten. Als Lohn winkt nichts weniger als Aufklärung und Erkenntnis über Fakten, die von unseren Medien verschleiert werden. Es freut den Leser, wenn selbst Peter Scholl-Latour sich fragt, wer sich da noch zurechtfinden kann. Zur Situation in Syrien schreibt er: «Es gab keine klar umrissenen Territorien, in denen Freund und Feind sich säuberlich getrennt gegenüberstanden. Es hatte sich eine Art Leopardenfell herausgebildet, wie in der späten Phase des amerikanischen Vietnam-Engagements, dessen Musterung sich ständig veränderte.» (S. 89) So ähnlich hatte mir mein Vater die Situation in Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben, als Millionen von Menschen auf der Flucht waren und Gefahr liefen, zu sinnlosen Opfern einer breit angelegten Vertreibung zu werden.
Heute gibt es in Syrien keine geordneten Befehlsstränge mehr, und die Menschen sind nun dort millionenfach auf der Flucht. Peter Scholl-Latour versucht erst gar nicht, sich einen realistischen Überblick über die militärischen Kräfteverhältnisse in Syrien zu verschaffen oder gar eine strategische Analyse zu erlangen. Wichtiger als die tagespolitischen Scharmützel sind für ihn die kriegstreibenden Kräfte in diesem Stellvertreterkrieg: «war by proxies». (S. 91f.)
Was sind die grossen Linien der Politik in Syrien, das sich nach Peter Scholl-Latour «in einem Zustand der Anarchie befindet»? (S. 94)
Peter Scholl-Latour ist dann statt dessen noch im Mai 2014, als der Krieg dort bereits voll entflammt war, nach Syrien gereist. Seine Beobachtungen und Analysen sind eingebettet in Hinweise auf Erfahrungen aus früheren Aufenthalten, die teilweise bereits 60 Jahre zurückliegen. Seine neuen Erkenntnisse sind eingebunden in diesen erlebten Kontext und seine profunden Geschichtskenntnisse vom Altertum bis in die Neuzeit. Die Schilderungen der Menschen und Landschaften, denen er auf seinen Reisen begegnete und die ihn begleiteten, sind literarische Leckerbissen und zeugen von seiner tiefen Verbundenheit mit dem Wohl der Völker in aller Welt.
Peter Scholl-Latour ist die Geschichte der Sunniten, Schiiten, Alewiten, Christen, Juden, Kurden usw. zwischen der Levante und dem Golf vertraut. Er schlägt immer wieder Bögen vom aktuellen Geschehen bis zu den historischen Anfängen. Ihm in seinen komplexen Gedankengängen zu folgen erfordert Konzentration, notfalls Spickzettel und vor allem Geduld und Mut, sich in die Tiefen der vielfältigen und verworrenen Zusammenhänge einzuarbeiten. Als Lohn winkt nichts weniger als Aufklärung und Erkenntnis über Fakten, die von unseren Medien verschleiert werden. Es freut den Leser, wenn selbst Peter Scholl-Latour sich fragt, wer sich da noch zurechtfinden kann. Zur Situation in Syrien schreibt er: «Es gab keine klar umrissenen Territorien, in denen Freund und Feind sich säuberlich getrennt gegenüberstanden. Es hatte sich eine Art Leopardenfell herausgebildet, wie in der späten Phase des amerikanischen Vietnam-Engagements, dessen Musterung sich ständig veränderte.» (S. 89) So ähnlich hatte mir mein Vater die Situation in Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben, als Millionen von Menschen auf der Flucht waren und Gefahr liefen, zu sinnlosen Opfern einer breit angelegten Vertreibung zu werden.
Heute gibt es in Syrien keine geordneten Befehlsstränge mehr, und die Menschen sind nun dort millionenfach auf der Flucht. Peter Scholl-Latour versucht erst gar nicht, sich einen realistischen Überblick über die militärischen Kräfteverhältnisse in Syrien zu verschaffen oder gar eine strategische Analyse zu erlangen. Wichtiger als die tagespolitischen Scharmützel sind für ihn die kriegstreibenden Kräfte in diesem Stellvertreterkrieg: «war by proxies». (S. 91f.)
Was sind die grossen Linien der Politik in Syrien, das sich nach Peter Scholl-Latour «in einem Zustand der Anarchie befindet»? (S. 94)
- Die syrische Rebellion ist nicht in den Metropolen wie Kairo oder Tunis ausgebrochen, sondern am Rand des syrischen Staates.
- Der Krieg ist von aussen in ein bis dahin stabiles Staatsgebilde hineingetragen worden, das einzig stabile Staatsgebilde im Orient.
- Die revolutionäre Freie Syrische Armee (FSA) wurde durch massive Finanzierung von Saudi-Arabien und dem Emirat Katar aufgebaut.
- Die Befehlsstrukturen der FSA wurden unter Anleitung der CIA von Jordanien bereitgestellt.
- Unter Regie der CIA wurden die syrischen Rebellen mit modernem Kriegsgerät ausgerüstet.
- In Washington, Riad und Jerusalem war man überzeugt, dass sich die Rebellion gegen Assad zu einer unwiderstehlichen Volkserhebung ausweiten würde, der der Assad- und Alawiten-Clan binnen kurzer Zeit erliegen würde. «Wieder einmal – wie einst im Irak, in Libyen, in Tunesien, in Ägypten, morgen vielleicht in Iran – sind die westlichen Geheimdienste Opfer der eigenen Wunschvorstellungen und utopischer Fehlplanungen geworden.» (S. 96)
- Die tausend Kilometer lange Grenze zur Türkei wurde von der Regierung Erdogan auf der ganzen Linie für das Waffenarsenal aus Saudi-Arabien und Katar geöffnet.
- Den Kriegern des Islamischen Staats gelingt es immer wieder, die Waffenlieferungen, die mit Hilfe der CIA und zwielichtigen Contract workers der FSA zugedacht waren, für sich zu erbeuten.
- Das totale Fiasko der westlichen Subversionsstrategie im nahöstlichen Raum ist die Unterstützung jener Organisationen, die einen islamischen Staat in Syrien gründen wollen.
- Peter Scholl-Latour lässt einen von den regulären Truppen Assads zur FSA desertierten Major direkt zu Wort kommen: «Sie werden sich wundern, dass ich so unverblümt über unsere hoffnungslose Situation berichte … Aber heute wissen wir, dass wir nur Schachbrettfiguren in einem great game sind.» (S. 99)
- Der syrische Präsident Assad wird durch Russland und Iran mit neuem Kriegsmaterial versorgt und kann dadurch den Sieg der Rebellen verhindern.
- Franzosen und Briten standen zu Beginn, wie in Libyen, an der Spitze der westlichen Militäreinsätze gegen syrische Flughäfen und Militärbasen, beliefert mit Munition und Logistik von den Amerikanern.
Erst als die Krieger des Islamischen Staats dazu übergingen, systematisch Massaker unter den Andersgläubigen zu veranstalten, genehmigte auch Barack Obama das militärische Eingreifen seiner Luftwaffe mit dem Argument, es müsse ein Genozid der Christen und Yeziden verhindert werden. - «Der Regimewechsel in Damaskus oder die Aufsplitterung Syriens hätte in der Absicht der USA, Israels und Saudi-Arabiens vornehmlich dazu gedient, den Einfluss des schiitischen Islams […] zu konterkarieren und die Mullakratie von Teheran in die Schranken zu weisen.» (S. 99)
Eindringlich schildert Peter Scholl-Latour auch im weiteren Verlauf des Buches das Durcheinander ethnischer, religiöser und ideologischer Konflikte der Völker zwischen Levante und Golf. Gleichzeitig hebt er die Jahrhunderte langen politischen und militärischen Interventionen des Westens hervor, die für ihn dafür verantwortlich sind, dass diese Völker nicht selbstbestimmt in Frieden und Eintracht miteinander leben können. Peter Scholl-Latour war der Orient seit Jahrzehnten vertraut. Er hat ihn erst jüngst wieder bereist. Sein letztes Buch ist wie ein gesammelter Nachlass. Es schärft den Blick auf die Realität und vertreibt die Nebelschwaden der Desinformation und Manipulation westlicher Machtpolitik. •
Zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour
von Helmut Schmidt
Journalisten können auf sehr unterschiedliche Arten den Lauf der Welt kommentieren. Zum Beispiel aus der bequemen Perspektive heimischer Schreibstuben. Oder aber: Sie begeben sich selbst in die Fremde und machen sich ein eigenes Bild. Zweifellos gehört Peter Scholl-Latour eindeutig zur letzten Gattung.
Seit Jahrzehnten beeindruckt Peter Scholl-Latour durch seine Expertise fremder Kontinente und Kulturen. Sie ist begründet durch unzählige persönliche Begegnungen und Erfahrungen. Seine Reportagen sind nicht nur kenntnisreiche Beobachtungen, sondern überzeugen durch ihre geopolitische Scharfsicht.
Seit Jahrzehnten beeindruckt Peter Scholl-Latour durch seine Expertise fremder Kontinente und Kulturen. Sie ist begründet durch unzählige persönliche Begegnungen und Erfahrungen. Seine Reportagen sind nicht nur kenntnisreiche Beobachtungen, sondern überzeugen durch ihre geopolitische Scharfsicht.
Quelle: Grusswort von Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt zum 90. Geburtstag von Peter Scholl-Latour
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2003
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2003
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