Tuesday, September 15, 2015

“Starke Klippe” – mehr als ein Jahr nach dem “Gazakrieg” Ein NDR-Beitrag von Bettina Marx



Forum Streitkräfte und Strategien – NDR Info 22.08.2015,19.20-19.50Uhr 23.08.2015,12.30-13.00Uhr (Wh.) Redaktion: Andreas Flocken

 Manuskript Dr. Bettina Marx

Israel, 8. Juli 2015. Bei einer offiziellen Veranstaltung gedenkt das Land seiner Toten des letzten Krieges. Tsuk Eitan hieß die Militäroperation, zu Deutsch etwa „Starke Klippe“. Sie dauerte 51 Tage und kostete mehr als 2.100 Palästinenser das Leben, darunter mehr als 500 Kinder. Auf israelischer Seite starben 72 Menschen, von ihnen waren 66 Soldaten. Für Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war die Operation ein Erfolg – und Wiederholungen schließt er nicht aus.
O-Ton Netanjahu (overvoice)
Hamas hat den härtesten Schlag seit dem Tag seiner Gründung erlitten. Wir verfolgen aufmerksam die Entwicklungen im Süden Israels und bereiten uns darauf vor, mit ganzer Kraft darauf zu reagieren, wenn es nötig werden sollte.“
Die israelische Regierung zweifelt nicht, dass der Angriff auf den Gazastreifen legitim war und darüber hinaus die einzig mögliche Antwort auf den Raketenbeschuss und die Bedrohung durch die Tunnel. Mit aller Macht wehrt sie sich gegen Vorwürfe, die Armee habe unverhältnismäßige Gewalt angewandt und gegen das Völkerrecht verstoßen. Als im letzten Juni der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen seinen Untersuchungsbericht vorlegte, reagierte Netanjahu mit Empörung und Zorn.
O-Ton Netanjahu (overvoice)
Der Bericht wurde von einer notorisch voreingenommenen Institution erstellt auf der Grundlage eines voreingenommenen Mandats. Die Kommission war ursprünglich von einem voreingenommenen Vorsitzenden geleitet worden, der Geld von den Palästinensern angenommen hatte und deswegen zum Rücktritt gezwungen wurde. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat eine einzigartige Obsession mit Israel. Er hat mehr Resolutionen gegen Israel verabschiedet als gegen Syrien, Nordkorea und Iran zusammen genommen. Tatsächlich hat er mehr Resolutionen gegen Israel verabschiedet, als gegen alle Länder der Welt zusammen genommen.“
Doch auch in Israel gibt es, wenn auch vereinzelt, Kritik an der Operation Tsuk Eitan und an dem Umgang der israelischen Regierung mit dem Gazastreifen. Am deutlichsten hat sich die Organisation Shovrim Shtika – Breaking the silence – zu Wort gemeldet. Sie hat Zeugenaussagen von Soldaten gesammelt, die an der Offensive teilgenommen haben und im Mai dieses Jahres hat sie einen Bericht über den Gaza-Krieg 2014 vorgelegt.
O-Ton Nowak (overvoice)
In diesem Bericht haben wir die Zeugenaussagen von mehr als 60 Soldaten gesammelt, die nach der Operation zu uns kamen. Sie kamen zu uns und die Wahrheit ist: sie waren schockiert über die Befehle, die sie bekommen haben,“
erläutert Yuli Nowak, Geschäftsführerin von Shovrim Shtika. So seien die Soldaten immer wieder aufgefordert worden, auf Zivilisten keine Rücksicht zu nehmen, wie dieser Soldat eines Panzerverbandes bezeugt. Um ihn vor Anfeindungen und Repressionen zu schützen, ist sein Gesicht im Internet unkenntlich gemacht und seine Stimme elektronisch verzerrt.
O-Ton Soldat (overvoice)
Oft haben wir einfach nur geschossen, um die Gegend zu säubern. Aus der Sicht der Armee ist niemand, der 200 Meter von einem Panzer entfernt ist, unschuldig. Es gibt keinen Grund für ihn, dort zu sein. Wenn wir jemanden sehen, dann ist er kein Zivilist. Es gibt aus unserer Sicht keine Zivilisten. Wenn wir jemanden sehen, dann erschießen wir ihn.“
Seit 2004 gibt es die Organisation Shovrim Shtika. Sie besteht aus ehemaligen Soldaten, die Verstöße gegen das israelische und internationale Recht durch die Armee dokumentieren. Angetrieben werden sie von einem tiefen Unbehagen über die andauernde Militärherrschaft über die Palästinenser und aus der Sorge um die moralischen Werte der israelischen Streitkräfte. 
O-Ton Nowak (overvoice)
Wir können aus den Berichten der Soldaten lernen, dass die Armee die Normen der Kriegsführung geändert hat. Normen, die wir Soldaten und Offiziere, gelernt haben. Ich war selbst Offizierin bei der Luftwaffe und wir haben gelernt, dass die Armee sich an einem ethischen Code orientiert. Es geht um den Wert von Menschenleben und die Reinheit der Waffen. Auch in schwierigen Situationen muss es rote Linien geben. Die Soldaten in Gaza sind aber in die Wohnviertel gegangen und man hat ihnen gesagt, es gibt hier keine Zivilisten. Jeder der sich hier aufhält, wird erschossen. Jeder, der sich hier in der Gegend aufhält, ist des Todes.“
Ihre Kritik äußern die Reservisten von Shovrim Shtika nicht nur in Israel, bei Auftritten im Fernsehen, bei Demonstrationen und bei Begegnungen mit Jugendlichen, die vor der Einberufung in die Armee stehen, sondern auch im Ausland. Vor wenigen Wochen folgten sie einer Einladung vor das Europäische Parlament. Das israelische Außenministerium war darüber äußerst verschnupft und entsandte nun seinerseits Matan Katzman. Er ist der Mitbegründer von „Ha´emet sheli“ – Meine Wahrheit – eine neue Organisation, die den Reservisten von Shovrim Shtika den Kampf angesagt hat. 
O-Ton Katzman (overvoice)
Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen: bevor wir überhaupt einen Schuss abgegeben haben, haben wir Flugblätter mit Warnungen abgeworfen und SMS-Botschaften versandt und vor den richtigen Raketen haben wir kleine Warnraketen abgefeuert. Wir veröffentlichen Warnungen in den Medien. Kein Haus sollte benutzt werden, um Raketen zu produzieren, keine Nachbarschaft sollte zum Schlachtfeld werden und kein unschuldiger Zivilist sollte als menschliches Schutzschild missbraucht werden.“
Die israelische Armee tue alles, um Zivilisten zu schützen und riskiere dafür sogar das Leben der eigenen Soldaten. Die falschen Anschuldigungen von Shovrim Shtika könnten israelische Soldaten im Ausland vor Gericht bringen. Auch für die stellvertretende israelische Außenministerin Tsippi Hotovely sind die Reservisten Nestbeschmutzer. Sie wirft ihnen vor, das Existenzrecht des Staates Israel zu untergraben und droht, die Finanzquellen von Shovrim Shtika und anderen Menschenrechtsorganisationen trocken zu legen. Der liberale Politiker Yair Lapid, der sich neuerdings mit Kippa und Gebetsmantel fotografieren lässt, beschuldigt Shovrim Shtika gar ganz offen des Verrats.
O-Ton Lapid (overvoice)
Das ist eine antizionistische Organisation, die nicht für Menschenrechte kämpft. Alles, was sie will, ist dem Ansehen Israels gegenüber der internationalen Gemeinschaft zu schaden.“
Kritik an der Politik der israelischen Regierung wird so zunehmend delegitimiert. Mahnende Stimmen werden zum Schweigen gebracht und die ehemals pluralistische israelische Gesellschaft wird immer uniformer und eindimensionaler. Der Haaretz-Journalist Gideon Levy, der seit Jahren über und gegen die Besatzung schreibt, veröffentlichte vor kurzem einen Artikel über den sogenannten „Schwarzen Freitag“. An diesem Tag des Krieges, an dem eigentlich ein Waffenstillstand in Kraft treten sollte, waren drei israelische Soldaten gefallen. Die Armee reagierte mit heftigen Bombardierungen in Rafah. 150 Palästinenser kamen dabei ums Leben. 
Zitat Levy
Nicht zu tolerieren, unerträglich und monströs ist die vollkommene und hartherzige Missachtung der Tötung von Dutzenden palästinensischen Zivilisten an einem Tag. Diese Toten werden in den israelischen Medien nicht einmal erwähnt. Sie fanden kein Echo während des Krieges und nicht in dem Jahr, das seither vergangen ist. So funktioniert Gehirnwäsche und das System der Entmenschlichung der Palästinenser. Drei Soldaten wurden getötet – das ist ein nationales Ereignis. 150 Palästinenser wurden getötet – das ist keine Story. Ihr Leben und ihr Tod ist nichts. Nur leere Luft.”
Tatsächlich interessiert das Leid der Menschen im Gazastreifen, deren Lage sich im letzten Jahr nicht verbessert hat, in der israelischen Öffentlichkeit fast niemanden. Da klingt das, was Shmuel Zakai zu sagen hat, schon fast revolutionär. Der ehemalige Brigade-General und frühere Kommandeur der Gaza-Divison fordert, die Palästinenser von Gaza als Menschen zu sehen.
O-Ton Zakai (overvoice)
Wir schauen auf die Palästinenser manchmal durch ein Prisma der Gewalt und der Stärke. Es wäre gut, wenn wir sie auch mal als Menschen sehen würden. Im Gazastreifen leben etwa 2 Millionen Menschen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand im Staats Israel und ich wünsche es niemandem, in Bedingungen leben will, wie sie Gazastreifen herrschen. Es gibt nur eines, was schlimmer ist als der Tod, das ist das Leben im Gazastreifen.“
 Zur Verfügung gestellt vom NDR (Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR.) Dank an Frau Bettina Marx für das Recht zur Übernahme hier

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