Wednesday, August 26, 2015

«Wir wünschen uns ein Europa, das seine Unabhängigkeit und Souveränität stärker zeigt» Putin im RTS

Interview des Westschweizer Fernsehens RTS* mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin
Zeit-Fragen  >  2015  >  Nr. 22, 18. August 2015  >  «Wir wünschen uns ein Europa, das seine Unabhängigkeit und Souveränität stärker zeigt»
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«Wir wünschen uns ein Europa, das seine Unabhängigkeit und Souveränität stärker zeigt»

Interview des Westschweizer Fernsehens RTS* mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin
Der russische Präsident Wladimir Putin gab dem Westschweizer Fernsehen ein Interview. Das Interview wurde am 25. Juli in St. Petersburg während des Besuchs des Präsidenten bei der einleitenden Gruppenauslosung für die Fussballweltmeisterschaft 2018 aufgenommen. 
Fernsehen RTS: Guten Abend, Herr Präsident. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben. 
Wladimir Putin (auf Französisch): Bonsoir.
Wir sind augenblicklich in der Stadt St. Petersburg, wo die Auslosungszeremonie für die Fussballweltmeisterschaft im Gange ist, die 2018 in der Russischen Föderation stattfinden wird und für die Sie soviel Energie aufwenden.
Ja, das ist wahr. Ich beglückwünsche uns alle. Ich kann Ihnen ehrlich sagen, und das ist nichts Neues: Wir haben keine besonderen Ambitionen bei dieser kommenden Weltmeisterschaft, obwohl wir sicherlich von unserem Team eine gute Leistung erwarten.
Unser Ziel, diesen Wettkampf abzuhalten, fiel mit den Zielen der Fifa zusammen, nämlich, die Geographie des Fussballs auszuweiten. Nicht zu vergessen, Russland ist ein sehr grosser Staat – der grösste in der Welt, was das Territorium angeht, und der grösste in Europa in bezug auf die Bevölkerung. Zusätzlich zu allem anderen haben wir Visafreiheit – Bewegungsfreiheit – mit den meisten der ehemaligen Sowjetrepubliken, die jetzt unabhängige Staaten sind. Und natürlich wird dieses Ereignis nicht nur für Russland wichtig sein, sondern auch für unsere nächsten Nachbarn. 
Sie sind mit Herrn Blatter befreundet, Sie haben ihn unterstützt. 
Wissen Sie, wir kannten uns kaum, bevor wir unseren Vergabeprozess begonnen haben, unseren Kampf für die Weltmeisterschaft 2018. Während dieser gemeinsamen Arbeit hatten wir viele Treffen mit Vertretern des Exekutivkomitees, mit den Kommissionen, die in unser Land kamen, und wir trafen Herrn Blatter persönlich. Wir haben sehr gute Geschäftsbeziehungen entwickelt und gute persönliche Beziehungen.
Was diese strafrechtlichen Verfolgungen angeht, die augenblicklich in der Schweiz laufen, haben Sie den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten da in irgendeiner Weise involviert sind? 
Soweit ich weiss, haben die Vereinigten Staaten angeboten, die Weltmeisterschaft 2022 in ihrem Land stattfinden zu lassen.
Denken Sie, sie haben Rache genommen?
Ich habe meinen Satz noch nicht beendet … Und ihr engster Verbündeter in Europa, das Vereinigte Königreich, hatte angeboten, sie 2018 zu beherbergen. Und die Art, wie sich der Kampf gegen die Korruption abspielt, führt zu meiner Frage, ob dies eine Fortsetzung des Kampfes für 2018 und 2022 ist.
Im übrigen ist niemand dagegen, die Korruption zu bekämpfen; alle sind dafür. Und ich glaube, dass wir sogar härter kämpfen sollten. Aber es gibt gewisse internationale Rechtsnormen, die festlegen: Wenn jemand verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, werden bestimmte Informationen gesammelt und dem Büro des Staatsanwalts übergeben, und zwar in dem Staat, in dem der Verdächtige Bürger ist. Aber dies [die Bekämpfung der Korruption] bedeutet keinesfalls, dass ein Staat – ob gross oder klein – durch die Welt zieht, jeden, den er haben möchte, schnappt und ihn dann in das eigene Gefängnis steckt. Aus meiner Sicht ist das inakzeptabel.
Ich wiederhole, das heisst nicht, dass wir nicht die Korruption bekämpfen sollten. 
Herr Präsident, das ist eine ziemlich wichtige Frage für Sie und für die Vereinigten Staaten von Amerika. Denken Sie, dass diese Handlungen, die nun innerhalb des Regelwerks der Fifa unternommen werden, die Rückkehr zu einer Art imperialistischer Politik von seiten der Vereinigten Staaten sind?
Eine Rückkehr? Sie führen schon lange eine imperialistische Politik; das verstärkt nur diesen Zustand. Ich habe das schon viele Male öffentlich erklärt – und nicht nur ich, sondern auch politische Analysten innerhalb der Vereinigten Staaten, die ebenfalls genau davon sprechen und mit genau diesen Worten. Diese amerikanischen Experten für Aussen- und Innenpolitik glauben, dass diese imperialistische Neigung den USA selbst schadet.
Diese Position steht keinesfalls im Zusammenhang mit Anti-Amerikanismus; wir haben ziemlich viel Respekt und Liebe für die Vereinigten Staaten und ganz besonders für das amerikanische Volk. Ich glaube, dass dies unilaterale Handlungen sind, und die Ausweitung der Gerichtsbarkeit von einem Land ausserhalb des Territoriums seiner Grenzen auf den Rest der Welt inakzeptabel und zerstörerisch für die internationalen Beziehungen ist. 
Die Meinungen der westlichen Länder über Sie sind geteilt. Wie Sie wissen, sind manche begeistert von Ihnen, während andere Sie verdammen. Als Sie wieder einmal von Ihrem nuklearen Arsenal sprachen, haben viele über die von Ihrer Seite ausgehende Bedrohung gesprochen. 
Dies geschieht von unehrlichen und unaufmerksamen Leuten. Der Prozess, ein neues Wettrüsten zu beginnen, begann von dem Moment an, als sich die Vereinigten Staaten unilateral aus dem ABM-Vertrag verabschiedeten. Weil dieses Abkommen ein Eckpfeiler für das gesamte internationale Sicherheitssystem war. Und als die Vereinigten Staaten sich hieraus zurückgezogen haben und begannen, ein Raketenabwehrsystem zu schaffen als Teil ihres globalen strategischen Waffensystems, haben wir sofort gesagt: Wir werden umgekehrt Schritte unternehmen müssen, um das strategische Gleichgewicht der Kräfte zu wahren.
Ich möchte etwas sehr Wichtiges sagen: Wir tun dies für uns selbst, um die Sicherheit der Russischen Föderation zu gewährleisten, aber wir tun dies auch für den Rest der Welt, weil diese strategische Stabilität das Gleichgewicht der Kräfte sicherstellt. 
Wir sind augenblicklich in St. Petersburg, einer Stadt, die während des Krieges sehr gelitten hat. So weit ich weiss, haben Ihr Gross-vater und Ihre Grossmutter erlebt …
Meine Mutter und mein Vater. Mein Bruder, den ich nie gesehen habe, ist hier während der Blockade gestorben.
Ist heute ein neuer Krieg in Europa möglich?
Ich hoffe nicht. Aber wir wünschen uns ein Europa, das seine Unabhängigkeit und Souveränität stärker zeigt und dem es möglich wäre, seine nationalen Interessen zu verteidigen, die Interessen seiner Völker und seiner Staaten.
Ich möchte auf die vorherige Frage zurückkommen. Ein strategisches Gleichgewicht garantierte weltweit Frieden und verhinderte grössere militärische Konflikte in Europa und auf der ganzen Welt. Und als sich die Vereinigten Staaten aus diesem Vertrag zurückgezogen haben, sagten sie: Wir schaffen ein Raketenabwehrsystem, das sich nicht gegen euch richtet, und ihr wollt eine Einsatztruppe errichten; macht, was ihr wollt, wir werden davon ausgehen, dass es nicht gegen uns ist.
Und wir machen genau das, was wir schon lange angekündigt haben. Das globale Raketenabwehrsystem ist teuer, und es ist noch unklar, wie wirksam es ist. Und wir entwickeln Waffenssysteme, die dazu in der Lage sind, jedes Raketenabwehrsystem zu besiegen. Und was ich erst vor kurzem angekündigt habe, haben wir während mehrerer Jahre geplant und wurde schon vor langer Zeit öffentlich angekündigt. 
Sie sagten, dass Sie sich Europa unabhängiger wünschten. Zum Beispiel, was Frankreich betrifft, während der Zeit von de Gaulle und Mitterand. Was denken Sie gegenwärtig darüber, was dort geschieht?
Ich muss noch die vorherige Frage zu Ende beantworten.
Unsere gesamten strategischen Abwehrhandlungen stehen in voller Übereinstimmung mit Russlands internationalen Verpflichtungen, auch innerhalb des Vertragsrahmenwerkes mit den Vereinigten Staaten über strategische Waffen. Jetzt, was die Souveränität angeht. Die Teilnahme in jeglicher militärischer und politischer Organisation oder einem Block ist verbunden mit dem freiwilligen Verzicht auf einen gewissen Teil der eigenen Souveränität.
Ich denke, damals hat sich Frankreich aus der Nato zurückgezogen, um seine Souveränität mehr erhalten zu können als das innerhalb des Rahmenwerkes eines militärischen Blocks möglich ist. Es ist nicht unsere Sache, die Aussenpolitik europäischer Staaten zu analysieren. Aber ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass es nicht sehr interessant ist, wenn wir interne europäische Angelegenheiten mit europäischen Partnern in Washington diskutieren müssen. 
Herr Präsident, in diesem Augenblick können wir eine ziemlich ironische Wende in der Geschichte beobachten. Gegenwärtig bekommen Sie mehr Unterstützung von seiten rechtsgerichteter und sogar rechtsextremer Parteien in den europäischen Staaten als von linksgerichteten; zum Beispiel von Marine Le Pen in Frankreich und von der SVP in der Schweiz. Wie denken Sie darüber?
Ich glaube, dass das nicht so sehr die Unterstützung für mich ist als vielmehr die Verwirklichung nationaler Interessen, wie sie die politischen Parteien sehen.
Es sind gewisse erdrutschartige Veränderungen in der öffentlichen Meinung weltweit und in Europa im Gange; die Tendenz geht dahin, die nationalen Interessen verstärkt zu verteidigen. Sie müssen verstehen, dass Europa zurzeit ein besonderes Problem hat, einen Zustrom von Migranten. Und hat Europa die Entscheidungen getroffen, die schlussendlich zu dieser Situation geführt haben? Wir müssen ernsthaft und ehrlich sein: Diese Entscheidungen wurden auf der anderen Seite des Atlantiks getroffen, aber Europa muss die Konsequenzen tragen. 
Sie meinen die Vereinigten Staaten?
Natürlich. Das ist nur ein Beispiel, aber von denen gibt es viele. Aber das bedeutet nicht – und ich habe das schon gesagt –, dass wir die US-Politik verteufeln sollten; das ist nicht mein Ziel. Sie führen ihre Politik, wie sie es in ihrem Interesse für notwendig halten. Wir müssen danach streben, ein Interessengleichgewicht zu finden; wir müssen unsere Bemühungen intensivieren, der Arbeit des UN-Sicherheitsrats ein neues Momentum geben. Die USA sind sicherlich eine grosse Macht, und das amerikanische Volk hat dieses Land über mehrere Jahrhunderte geschaffen, es ist einfach ein erstaunliches Ergebnis. Aber das heisst nicht, dass die heutigen US-amerikanischen Behörden das Recht haben, durch die ganze Welt zu reisen und jedermann zu schnappen, um ihn in ihr Gefängnis zurückzuschleppen oder aus einer Position zu handeln: «Jeder, der nicht für uns ist, ist gegen uns.»
Wir müssen geduldig sein und mit unseren amerikanischen Kollegen arbeiten, um Lösungen zu finden, so wie wir es auf einigen Gebieten unserer Zusammenarbeit getan haben, so wie mit dem iranischen Atomproblem.
[…] [unvollständig] von den Leuten, die den Islamismus bekämpfen. Denken Sie, dass die Europäer in diesem Problem auf Ihrer Seite sind?
Wissen Sie, als wir erst am Anfang dieses Kampfes waren und den Problemen im Kaukasus gegenüberstanden, war ich erstaunt darüber zu sehen, dass wir, obwohl wir den Beweis hatten, es mit einer terroristischen Bedrohung zu tun zu haben, dass wir Vertreter von al-Kaida bekämpften, wir keine Unterstützung hatten. Als ich meine Kollegen fragte, einschliesslich jenen in Europa: «Seht ihr nicht, was sich da abspielt?», haben sie gesagt: Wir sehen es, aber sie könnten uns nicht unterstützen «wegen gewisser Umstände, einschliesslich innenpolitischer und internationaler Grundsätze». Dann habe ich gesagt: «Gut, wenn ihr uns nicht unterstützen könnt – dann nicht, aber steht uns wenigstens nicht im Weg.»
Jetzt sehe ich, dass sich die Situation verändert hat. Europa und die Vereinigten Staaten sehen inzwischen die reale Gefahr der extremen Manifestationen des Radikalismus und machen bei diesem Kampf mit. Wir sagen hier: «Besser spät, als gar nicht.» Doch wir haben die grosse Hoffnung, dass wir nicht nur in dieser Richtung, sondern auch bei anderen Angelegenheiten – bei der Regelung der Situation in der Ukraine und bei wirtschaftlichen Angelegenheiten – im Dialog bleiben und gegenseitig akzeptable Lösungen erreichen werden.
Ich glaube, wir haben alle Fragen, die mit der Fifa zu tun haben, abgedeckt.
Die letzte, Herr Präsident. Wir sprachen über Herrn Blatter absichtlich an dieser Stelle. Was Angela Merkel angeht, sie ist eine ihrer Kollegen, mit denen sie häufig kommunizieren. Sie spricht Deutsch, kommunizieren Sie also auf Deutsch?
Ja, wir sprechen gewöhnlich Deutsch. 
Was Herrn Blatter angeht, wissen Sie, ich würde gerne damit zu Ende kommen, da wir damit angefangen haben. Wir kennen alle die Situation, die sich um Herrn Blatter herum entwickelt hat. Ich möchte nicht ins Detail gehen, obwohl ich kein einziges Wort von den Korruptionsvorwürfen gegen ihn glaube. Ich glaube, dass Menschen wie Herr Blatter, solche Köpfe von grösseren internationalen Sportverbänden von der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit und Dankbarkeit verdienen. Wenn man irgend jemandem Nobelpreise verleihen sollte, sind es diese Menschen, weil sie es sind, die die Zusammenarbeit zwischen den Staaten verbessern und einen enormen humanitären Beitrag für die Entwicklung guter nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen Menschen und Staaten leisten. 
Die letzte Frage, Herr Präsident. Die letzte Frage, die ich gerne stellen würde. In Eu-ropa werden Sie jetzt als der neue Stalin dargestellt, manche Menschen präsentieren Sie als Imperialisten. Einige lieben Sie natürlich und schätzen Sie, aber andere stellen Sie auf diese spezielle Weise dar. Es gibt sogar solche, die sagen, dass Sie nach all diesen Jahren, in denen Sie an der Macht sind, verrückt geworden sind. Was würden Sie diesen Menschen antworten? 
Nach unserem Interview, denken Sie, ich sei verrückt?
Sie lächeln, trotz all der Vorurteile.
Das ist Teil des politischen Kampfes; es ist schon seit vielen Jahren Teil meines Lebens. Ich versuche, dem nicht zuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Ich mache einfach das, von dem ich denke, dass es notwendig ist, im Interesse meines Landes und meines Volkes.
Es ist nicht im Interesse Russlands, mit anderen Ländern in Konfrontation zu sein, aber manchmal sind wir dazu gezwungen, unsere Interessen zu schützen, und wir werden zweifellos damit fortfahren. Allerdings werden wir die Lösung nicht in der Konfrontation suchen, vor allem nicht in der militärischen, sondern im Kompromiss und in gegenseitig akzeptablen Lösungen.
Mit Ihrer Hilfe möchte ich nicht jene ansprechen, die mich kritisieren, sondern jene, die mich unterstützen. Ich möchte ihnen für ihre Unterstützung danken und ihnen sagen, dass wir gemeinsam weiter vorangehen. In erster Linie wende ich mich nicht einmal an jene, die ein Bild von mir zeichnen, sondern an jene, die mit dem sympathisieren, was wir tun, und dem im tiefsten Inneren zustimmen.
Merci beaucoup (auf Französisch).    •
*    Das Interview führte Darius Rochebin vom WestSchweizer Fernsehen RTS (Radio Télévision Suisse). Die Fragen wurden auf Französisch gestellt, der Präsident antwortete auf Russisch. Das französischsprachigeVideo findet sich unter: www.rts.ch/info/monde/6967351-vladimir-poutine-l-europe-devrait-se-montrer-plus-independante-des-usa.html
Der Übersetzung von Zeit-Fragen liegt die autorisierte englische Fassung der Webseite des russischen Präsidenten vom 27. Juli 2015 zugrunde. (www.en.kremlin.ru/events/president/news/50066)

http://www.zeit-fragen.ch

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